Der Mund ist voll, das Lachen breit. Martin Vidaurre sitzt nach der Trainingseinheit in einem Café im Wallis und vernichtet ein Mandel-Croissant nach dem anderen. Sein dunkelblonder Haarschopf ragt wild in alle Richtungen. Auch wenn er äußerlich easy als Schweizer oder Deutscher durchgehen könnte – die Gestik, Mimik und sein Redefluss sprechen südamerikanische Bände.
BIKE: Martin, du trägst das Bike-Gen in dir, aber auch deutsche DNA …
Martin Vidaurre: Genau, mein Opa ist Deutscher, meine Mutter ist schon in Chile geboren. Aber wir haben mit ihr zu Hause deutsch gesprochen, und ich war auf einer deutschen Schule. 2017 kam ich das erste Mal für einige Monate nach Europa, und mein Coach und ich haben Freiburg als Basislager gewählt. Einfach weil wir wussten, dass es in Freiburg eine starke Mountainbike-Szene gibt. Und wir hatten Kontakt zum Lexware-Team, für das ich dann ab 2018 gefahren bin. Ich hatte über die Jahre eine gute Zeit dort, habe viel gelernt und habe noch viele Freiburger Freunde.
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Deine Eltern waren Mountainbiker, deine Schwester Catalina fährt im Weltcup – ihr seid eine Sportfamilie…
Ich habe als ganz kleines Kind schon miterlebt, wie mein Vater auf Bike- und Motorsport-Rennen gefahren ist, und bin in diesem Umfeld aufgewachsen. Ich habe Unterschiedliches ausprobiert, aber das Fahrrad war immer da, es hat einfach geklickt. Es ist natürlich super, wenn du eine Familie hast, die dich versteht und unterstützt. Mein Vater fährt noch immer Rennen, und Catalina ist richtig gut drauf gerade. Sie studiert in Chile und pendelt noch von den Rennen in Europa nach Hause. Sie lässt es ein wenig langsamer angehen, aber es macht ihr großen Spaß.
Was sollten wir unbedingt über Chile wissen, auch als Mountainbike-Land?
Chile ist ein schmales Land mit krassen Bergen und richtig krassem Meer. Vieles konzentriert sich auf Santiago, wo ich auch aufgewachsen bin. Das Mountainbiken entwickelt sich gerade enorm. Von Santiago kannst du in 30, 40 Minuten hoch auf 2.700 Meter und geile Trails fahren. Wir haben auch Bikeparks. Und nach dem Biken kannst du ans Meer zum Surfen …
Bist du mehr chilliger Chilene oder mehr deutsche Disziplin?
Ich bin viel, viel mehr Chilene als Deutscher. Ich kann zum Beispiel nicht um 19 Uhr Abendessen! Wie kann man um 19 Uhr Abendessen? Mich daran zu gewöhnen, war richtig hart. Aber ich trage schon auch Disziplin in mir. Wenn ich die Arbeit machen muss, dann habe ich kein Problem, alles zu geben und noch etwas mehr. Trotzdem: Ich brauche meinen Spaß.
Dann bist du weniger durchgetaktet wie ein Tom Pidcock?
Nein, bei mir gibt es nicht immer nur Radradrad. Das ist mir eine zu kleine Welt. Ich will nicht leben, damit ich einen Weltcup gewinne. Als Chilene denkst du auch nicht wirklich daran, Profisportler zu werden. Davon gibt es bei uns nur wenige. Wir hatten in den letzten 20 Jahren keine einzige olympische Medaille – in keiner Disziplin.
Aber du bist wie Pidcock nach Andorra gezogen …
Ja, und ich wohne in seiner ehemaligen Wohnung (lacht).
Wirklich?
Ja. Andorra ist noch sehr frisch für mich. Es ist super wegen der Höhe. Aber Höhe bedeutet auch: viele Kühe und viele Pferde, weniger Freunde und weniger Frauen. Das ist schon okay. Ich habe ein Doppelleben: In Chile genieße ich die Zeit mit all den Menschen um mich herum. Es ist lockerer, es gibt immer was zu tun. In Europa ist mein Fokus auf das Training intensiver.
Das Feedback aus der Cross Country Szene ist einheitlich: Vidaurre tut dem Weltcup-Zirkus gut – mit seiner Lebensfreude, der positiven Energie und seinem Talent als Entertainer. Der Chilene liebt es, das Publikum zu unterhalten. Thomas Frischknecht beschrieb Vidaurre einmal als „Rockstar“. Der Scott-Sram MTB Racing Team-Manager hätte ihn auch gern in seiner Mannschaft gesehen. Doch 2023 holte Specialized den U23-Weltmeister in sein Factory Team.
Hart trainieren musst du auch für die Elite. Man sagt, dass Specialized für dich einem mittleren sechsstelligen Betrag geboten hat. Verspürt der chillige Chilene da keinen Druck?
Ich weiß genau, was ich will. Und ich weiß, dass ich richtig gut trainieren muss. Es ist ein harter Sport auf Elite-Level, noch härter, als ich es mir gedacht habe. Aber ich will nicht alles morgen gewinnen. Ich brauche meine Zeit. Das war schon immer so. Es hat immer gedauert, bis ich mein Niveau erreicht habe, und das ist jetzt nicht anders. Es ist ein Druck da, aber ich weiß, was ich erreichen kann.
Und bei der Summe scheint es, als ob Specialized dich unbedingt haben wollte …
Ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung, warum die Summe so hoch ist (lacht). Aber es geht nicht nur um mich. Mir nicht und Specialized auch nicht. Weißt du, ich bin ein Familienmensch, und ich will den Radsport in meiner Heimat voranbringen, in Chile, in Südamerika. Deshalb war mir wichtig, dass ich nicht nur ein perfektes Rad habe, ein starkes Team und einen Deal. Ich wollte ein Paket. Und sie haben wohl das Potenzial gesehen. Mein Dad hat einen Fahrradshop, und er braucht eine Marke, mit der wir eine große Community in Chile aufbauen können. Und das können wir mit Specialized.
Du hast die U23 beherrscht, hast Rekorde aufgestellt, wurdest zweimal Gesamt-Weltcup-Sieger und Weltmeister. Wie lautet dein Zwischenfazit jetzt in der Elite-Saison 2024?
Hart! 2024 ist auch noch olympische Saison, das ist immer speziell. Ich war zum Auftakt in Brasilien richtig gut und das war eine große Erleichterung. Ich wollte unbedingt zeigen, dass ich gut fahren kann. Und ich habe für mich gesehen, dass ich mit der richtigen Form, mit guten Beinen vorne mitfahren kann. Dritter im Short Track – oh, Short Track ist so intensiv, so brutal. Und dann wurde ich Fünfter im XCO-Rennen und wenige Tage später in Araxá Siebter. Aber in Europa wurde es brutaler. Ich sehe, was noch vor mir liegt.
Geht es vor allem darum, Erfahrung zu sammeln, speziell für einen impulsiven Typen wie dich?
Auf jeden Fall. Wenn ich mich gut fühle, will ich vorne dabei sein, dann will ich angreifen. Aber es gibt so viele starke Fahrer, und alles ist nah beisammen. Wenn du einen eher schlechten Tag hast, kannst du plötzlich um Rang 40 fahren. Und da wird es für mich mental schwer. Ich habe eigentlich schon einen starken Kopf, aber ich kenne mich auch: Wenn ich vorne in der Spitzengruppe fahre, bin ich im Kampfmodus. Wenn ich weiter hinten bin, frage ich mich ständig: Warum machen wir das hier nur? Da fällt die Motivation schwerer.
Wer war dein großes Vorbild?
Oh, schon Nino Schurter.
Und ist es dann dein großes Ziel, ihn zu schlagen?
Nein! Das große Ziel ist eher, mit ihm gut auszukommen, mit ihm zu quatschen und Spaß zu haben. Ich bin kompetitiv, klar, aber nicht auf diese Art. Mir ist es nicht wichtig, ihn vom Thron zu stoßen, um zu zeigen, dass ich der Beste bin.
Und wie stehst du zu deinen Team-Kollegen Victor Koretzky und Christopher Blevins?
Victor ist ein guter Kumpel, aber er ist eben auch Franzose (lacht). Ich kann wirklich viel von ihm lernen. Er kennt sich in Sachen Material extrem gut aus und bringt einiges an Erfahrung mit. Davon profitiere ich sicher. Und Chris, was soll ich sagen, er ist ein schrecklicher Typ.
Vidaurre lacht, gestikuliert und dreht schließlich den Bildschirm. Blevins winkt in die Kamera. Zusammen müssen die beiden Pro-Rider das halbe Café leer gegessen haben …
Nein, Chris ist ein super Teammate. Er ist ein offener Typ, wir trainieren häufig zusammen und haben viel Spaß dabei. Aber im Surfen ist er nicht besonders gut.
Hast du dir Ziele gesetzt für die Zukunft?
Ich weiß genau, was ich will, aber ich habe keine konkreten Ziele. Aber ich muss richtig gut trainieren, es ist ein harter Sport. Ich mache alles, um mein Level Stück für Stück zu erhöhen, meinen Körper besser zu verstehen und mit meinem Team optimal zusammenzuarbeiten. Es ist viel Detailarbeit. Ich mache das alles auch für Chile. Ich habe so viel Glück, dass ich dort geboren bin, weil die Energie, der Support enorm ist. Irgendwann möchte ich eine olympische Medaille für mein Land gewinnen – das ist ein Ziel. Und ich finde meinen Weg, da bin ich mir sicher.