Henri Lesewitz
· 03.03.2013
Henri Lesewitz besuchte Manufakturen in ganz Deutschland und stellte fest, dass das Gütesiegel „Made in Germany“ ein echtes Revival erlebt. Eine Reportage voller Leidenschaft, edlem Metall und Carbon.
Das Netz an Fahrrad-Manufakturen ist großmaschig geworden in Deutschland. Die Zahl der Handmade-Schmieden hat abgenommen, doch die Nachfrage scheint größer denn je. Bei Alutech in Ascheffel, so hört man, glühen die Schweißnadeln von früh bis spät. Bei Pinion in der Nähe von Stuttgart läuft die Fertigung des neuen, cleveren Schaltgetriebes auf Hochtouren. Wer bei Rahmenbau-Künstler Florian Wiesmann anruft, bekommt nur eine Bandansage mit den aktuellen Wartezeiten zu hören. Ein Jahr, so die Auskunft, müsse man sich gedulden.
Doch was treibt Hobby-Biker eigentlich an, absurde Summen zu investieren, nur um mit einem handgefertigten Leichtbau-Teil ein paar Gramm Gewicht einzusparen? Wer kauft Teile, die so teuer sind, dass sie in Gold aufgewogen werden könnten? Rationale Erklärungsversuche reichen dafür letztendlich nicht aus.
Dabei ist die Antwort einfach. Der Kauf von Luxus-Teilen als Kulmination brodelnder Bike-Leidenschaft. Ein sinnliches Großereignis. Auf einer Stufe mit Saunieren, womöglich gar mit Petting. Knisternde Objekterotik, die ihren Ursprung in der absoluten Hingabe zum Hobby hat. Das aufreizend gewölbte Carbon. Das keck gefärbte Alu. Der raffinierte Schwung der Fräsung. Formen und Farben als Pulsbeschleuniger. Es sind keine Teile, die man zum Fahren braucht. Es sind die Teile, die einen in Fahrt bringen. Man könnte auch sagen: Liebe frisst Geiz.
Besucht man Manufakturen, bekommt man den Eindruck, ein Mountainbike wäre eine einzige Problemzone. Mit fetischistischer Hingabe wird gegen Grammgeschwüre und optische Öden angekämpft, als wären es eklige Eiterbatzen. Sattelklemmen, Schnellspanner, ja selbst allerkleinste Schräubchen – alles lässt sich scheinbar optimieren.
Am Beispiel der fünf Edel-Betriebe Nicolai, AX Lightness, Bike Ahead Composites, Tune und Brake Force One erläutert er, warum Biker sich gegen den Mainstream entscheiden. Mit ein Grund: Diese Manufakturen bieten auch im Jahr 2013 noch echtes "Made in Germany".
Das PDF der gesamten Reportage aus BIKE 4/2013 können Sie auch im Download-Bereich am Ende dieses Artikels kostenlos herunterladen.
Die Handtasche fährt und lässt sich prima durch Kurven lenken. Eine kleine, niedliche Weltsensation. Karlheinz Nicolai (43), genannt "Kalle", lächelt zufrieden. "Das Ding funktioniert mit Schnellverschlüssen, wie ’ne Waffe. Klock, klock – Lenker, Räder, Sattel raus! Und schon kannste dich auf die Tasche setzen und los düsen."
Es ist Donnerstag, ein trüber Wintertag. Der Nordwind schiebt nasskalte Wolkenklumpen über das hufeisenförmige Gehöft in Lübbrechtsen, aus dessen Inneren ohrenbetäubender Lärm pulsiert. Bohrerkreischen. Druckluftschmatzen. Kompressornageln. Kalle steht im "Gehirn", wie das enge Dachgeschoss mit den nichtproduzierenden Abteilungen seiner Mountainbike-Schmiede intern genannt wird. Menschen der Tätigkeitsbereiche Logistik, Service, Marketing und Entwicklung wuseln herum, oder starren auf Monitore. In der Luft liegt das Odeur von verbranntem Metall. 1500 Bike-Rahmen werden bei Nicolai, Deutschlands bekanntester Custom-Schmiede, Jahr für Jahr gebaut, handgeschweißt, handmontiert.
"Das Projekt mit dem Taschen-Bike war mehr so mein Privatvergnügen", erzählt Kalle, während er sich am Computer durch eine Foto-Galerie klickt. Der Vize-Design-Chef von Renault habe ihn unlängst angerufen. Es ging um das uncoole Image von Falt-Rädern und darum, wie man das ändern könne. Und da war der Renault-Mann bei Nicolai natürlich genau richtig. Es ist der Job von Kalle, die Fantasien anderer anfassbar zu machen. Vor 18 Jahren hat er der Amerikanerin Leigh Donovan in der Doppelgarage seiner Eltern ein Bike geschweißt, mit dem die Auftraggeberin prompt Weltmeisterin wurde. Er hat das Dirt-Bike erfunden und den Rahmen mit Getriebe-Box. Doch nichts bringt die Leistungsfähigkeit seines Handwerksbetriebs so auf den Punkt wie die rasende Handtasche. "Wir bringen alles zum Fahren", sagt Kalle und wirkt ein bisschen stolz.
Wer zu einer Manufaktur wie Nicolai kommt, der ist meist hochgradig verzweifelt. Im Verlauf der letzten Jahrzehnte hat sich die Produktion von Bikes und Zubehör nahezu vollständig nach Fernost verlagert. In gigantische, rendite-geile Hochleistungsfabriken, die nimmermüde gleichförmige Massenware ausstoßen. Tausendfache Kopien in den Designs der Saison. Die Qualität ist gut, manchmal sogar hervorragend. Doch eines schließt Serienfertigung schon vom Konzept her aus: Einzigartigkeit. Das Produkt wird nicht für den Käufer gebaut, sondern für den Durchschnittskäufer. Ein kleiner Unterschied. Für anspruchsvolle Biker nicht selten der Entscheidende.
Es ist wie bei Modefragen, oder beim Küchenkauf. Wer Kompromisse hasst, bestellt beim Maßanfertiger. "Bei uns ist der Kunde in beträchtlichem Umfang involviert in die Entstehung seines Freizeitobjekts", formuliert Kalle eine seiner berühmten Satzperlen, während er mit federnden Schritten vom "Gehirn" zur einstigen Scheune hinüberschreitet.
Das alte Gemäuer ist vollgestopft mit Maschinen. Fräsen fressen sich schrill durch Metall. Menschen mit Ohrstöpseln hantieren konzentriert mit Meßschiebern. Aus der Schweißerkabine zucken grellweiße Lichtblitze. 350 verschiedene Einzelteile für 30 verschiedene Rahmenmodelle werden in der Halle gefertigt. Eine halbe Stunde lang raspelt eine CNC-Fräse an einem Alu-Block herum, bis ein einziger Umlenkhebel fertig ist. Drüben, im Nachbargebäude, befindet sich die Lackiererei. Wenn es sein muss, kann jeder noch so spezielle Kundenwunsch erfüllt werden. Ein Service, den man heutzutage suchen muss.
"In Deutschland sind wir inzwischen die Letzten, die so arbeiten", sagt Kalle. Hat er auch schon mal dran gedacht, im Ausland produzieren zu lassen? Kalle gart einen Moment lang in rasant ansteigendem Blutdruck. Fernost-Produktion? Was für ein fieser, monströser Gedanke! "Du kannst dir fünf Ketten umhängen und siehst doof aus. Du kannst dir aber auch die eine, richtige Kette umhängen und cool aussehen. Wir bauen den Leuten das Fahrrad, mit dem sie hundert Prozent glücklich sind." Nein, er bleibt natürlich, was er ist. Kalle, der Traumfabrikant aus Lübbrechtsen.
Creußen in Oberfranken, ein kantiger Zweckbau am Rande des örtlichen Gewerbegebiets. Axel Schnura (37) hat sich lässig in die Besucher-Couch seines Büros gefläzt. In den Vitrinen liegen Teile aus Carbon. Fahrradsättel. Aero-Helme. Formel-1-Spoiler. An der Wand ein gerahmtes Foto von Schnura und Sebastian Vettel. Die beiden haben beruflich oft miteinander zu tun.
Die Firma von Schnura heißt AX-Lightness, sie ist spezialisiert auf ultraleichte, hochexklusive Carbon-Teile. 739 Euro kostet beispielsweise ein handmodellierter 65-Gramm-Vorbau, was ziemlich exakt dem aktuellen Goldpreis entspricht. Der 300 Euro teure Sattel wirkt dagegen fast schon wie ein Schnäppchen.
Deswegen kann man ihn bei Schnuras Kooperationspartner Crown Saddle gerne ein bisschen aufpeppen. Mit Nappa-Leder und Echtgold in 24 Karat. Die Preisliste dafür beginnt bei 1850 Euro. Der momentane Verkaufsschlager ist die hauseigene Felge. Stückpreis: 800 Euro. Die Dinger sind so filigran und schwerelos, dass man sich fragt, wofür man eigentlich bezahlt. Für den Hauch Carbon, den man in Händen hält? Oder für die Luft drum rum?
"Die Teile gehen wie geschnitten Brot", freut sich Schnura und führt durch den beeindruckend großen Fertigungsbereich. In verglasten, laborähnlichen Parzellen werkeln Menschen mit OP-Hauben. Sie laminieren, feilen, backen. Doch sie kommen mit dem Abarbeiten der Aufträge kaum hinterher. Kurbeln, Sättel, Lenker, Felgen. Jedes Teil bringt es mittlerweile auf vierstellige Produktionszahlen, jährlich. Als unlängst Worldcup-Star Christoph Sauser wegen ein paar Gratis-Teilen anfragte, musste Schnura abwinken. "Wir sind so schon an unserer Kapazitätsgrenze." Es ist wie eine Flutwelle, die über Schnura schwappt.
Ende der Neunziger hatte er aus einer Laune heraus einen Sattel laminiert. Im Keller seines Elternhauses in Ursulapoppenricht. "Eine riesen Sauerei", wie sich Schnura erinnert. Das Ding war so schön wie ein Brikett, aber leichter als jeder andere Sattel. Als der damals noch groß gefeierte Jan Ullrich ein Exemplar für sein Tour-de-France-Rad bestellte und ein Foto davon im Internet auftauchte, brach bei Schnura fast die Telefonleitung zusammen.
Es waren keine Profis. Es waren vorwiegend Hobby-Radler, die bereit waren, hohe dreistellige Beträge in ein paar Gramm Gewichtsersparnis zu investieren. Schnura hat viel darüber nachgedacht. "Es ist die Freude am Biken", kratzt Schnura gleich mal jeden Ansatz von rationaler Ursachensuche aus der Thematik, wie mit einem Eisenschwamm: "Den Leuten macht es Spaß, sich die Teile ans Rad zu bauen. Das ist so, wie sich was Schönes anzuziehen. Eine rein emotionale Geschichte." Wahrscheinlich ist die Antwort tatsächlich so einfach.
Buggingen, ein liebreizendes Örtchen im Hochschwarzwald. Uli Fahl (60) hat beste Laune. Er ist gerade aus dem Fitness-Studio gekommen. Nun sitzt er im Büro seiner Fahrrad-Veredelungsfirma Tune zwischen dezent vernachlässigtem Topfpflanzengestrüpp und philosophiert über sein Lieblingsthema: die Ästhetik der Fortbewegung.
"Optik ist ganz wichtig", schießt Fahl einen ersten Gedankenpfeil ab und lässt den Blick sinnierend durch den Raum schweifen, der so unfassbar vollgerümpelt ist, dass er einem Hindernis-Parcours gleicht. Es gehe nicht alleine um Sport, fährt Fahl mit sanfter Stimme fort. Es gehe um Freude. Um die Freude, ein leichtes Teil zu besitzen, ein seltenes, oder einfach nur ein buntes. Es gehe um die Freude am Besonderen.
Was ein bisschen so klingt wie die Vernissage-Rede eines Aquarell-Künstlers. Aber es ist ja so. Für die meisten Biker ist ein Tuning-Teil mehr Deko als Werkzeug. Technischer Maximalismus, der dem Besitzer ein Plusgefühl verschafft, eher selten jedoch große Siege. "Man will sich was gönnen", sagt Fahl, der den Durst seiner weltweiten Kundschaft nach Edelteilen kaum stillen kann. Seit dem Umzug ins neue Firmengebäude ist die Belegschaft von acht auf 30 Mitarbeiter angewachsen. Vor Kurzem hat Fahl eine Carbon-Firma gekauft, um unabhängiger von Zulieferern zu sein. Bald muss wieder angebaut werden.
Für den einstigen Chemie-Ingenieur, der Ende der Achtziger mit einem selbst gebauten Schnellspanner begann, ist das "Made in Germany"-Konzept fest verzurrt mit seinem Herzen. "Ich bin Erfinder, kein Kaufmann. Wäre ich Kaufmann, würde ich in China fertigen lassen." Fahl lächelt. Dann schreitet er barfuß durch das runtergerieselte Grünpflanzenlaub in seinem Büro in Richtung Montage. Solange die Teilewaage auch nur irgendwas anzeigt, hat er zu tun.
In den glänzenden Oberflächen der Handmade-Teile spiegelt sich fast immer auch die Leidenschaft ihrer Schöpfer. Der Würzburger Christian Gemperlein (32) hat seit jeher ein Faible für edles Zubehör. Als er am Ende seines Studiums für Kunststofftechnik nach einem Thema für die Diplomarbeit suchte, kam er auf die Idee, sich seine Traumlaufräder zu bauen.
"Entwicklung, Konstruktion, FEM-Berechnung und Bau eines CFK-Verbund-Laufrades für Mountainbikes", nannte er das Thema. Auf Deutsch: Bau eines rattenscharfen Laufrads. Berechnen, bauen, biken. Das war der Plan. Doch der Hoffnungsschimmer wurde schnell brüchig. Die Diplomarbeit wurde ein Erfolg. Nun bleibt keine Zeit mehr zum Radfahren. "Wenn man Laufräder bauen will, braucht man nicht im Keller anfangen", zuckt Gemperlein ergeben mit den Schultern und führt durch seine Firma Bike Ahead Composites. Eine 500 Quadratmeter große Halle mit Büros, Werkstatt, Laminier-Abteilung und einem Carbon-Backofen mit den Ausmaßen einer PKW-Garage.
"Oh, das ist aber schön geworden", beugt sich Gemperlein über ein frisch ausgebackenes Laufrad, das gerade der Form entschlüpft. Gemperlein erstarrt minutenlang wie ein Stillsteh-Artist, die Augen scannen jeden Quadratmillimeter der matt schimmernden Carbon-Oberfläche. "Ich bin schon sehr perfektionistisch veranlagt. Da kommt gar nichts anderes in Frage, als selbst zu produzieren", spricht er schließlich in die Stille. Ob das Konzept finanziell aufgeht, muss sich noch zeigen. 16 Stunden Handarbeit pro Laufrad müssen bezahlt werden. Das Set kostet 2800 Euro. Es ist kein Kauf. Es ist eine Anschaffung. Doch Gemperlein ist zuversichtlich: "Es gibt viele Leute, die sich gerne schöne Teile kaufen."
Obwohl das Gros der Firmen aus Kostengründen dem Produktionsstandort Deutschland den Rücken zudreht, gibt es immer wieder ambitionierte Neugründungen. Die Tuning-Schmiede B.O.R. von Boris Latsch zum Beispiel, oder die Carbon-Manufaktur Mcfk aus Leipzig. Doch keine hat für solch medialen Rummel gesorgt wie die Bremsen-Schmiede Brake Force One.
Es ist eine Geschichte, die man in Zeiten wie diesen eigentlich nicht für möglich halten würde. Die Geschichte geht so: Ein Dreizehnjähriger erfindet im Strandurlaub einen Bremskraftverstärker. Er baut das Teil in der Werkstatt seines Vaters. Jahre später steht der Produzent der "Käpt’n Blaubär"-Fernsehserie in der Werkstatt und hört vom Bremskraftverstärker. Woraufhin er sein ganzes Erspartes in die Gründung einer Bremsenfirma steckt, sein Einfamilienhaus zur Produktionsanlage umbaut und heute zusammen mit dem damals Dreizehnjährigen sowie sieben Angestellten 50 Bremsen am Tag baut, die in die ganze Welt verkauft werden. Eine Wahnsinnsgeschichte.
"Das erste Jahr hat uns privat und geschäftlich an die Grenzen gebracht", stöhnt Frank Stollenmeier (56), der Käpt’n-Blaubär-Produzent. "Aber jeder andere Job wäre doch die Hölle", scherzt Jakob Lauhoff (19), der damals Dreizehnjährige. Die beiden lachen, dass die Wangen glühen. Sollen sie in Fernost doch im Akkord die Fracht-Container füllen. Sollen sie doch die Welt mit Einerlei überziehen. Sie sind lieber der Morgentau in der Steppe.