Mein Freund Florian will es sich noch einmal beweisen! Der Mittvierziger fährt in seiner Freizeit alle Enduro-Rennen mit, die er finden kann. Kürzlich wurde ihm sein Bike gestohlen: ein Radon Jab mit großem Vorderrad und kleinem Hinterrad (Mullet). Er fragte mich, ob ich ihm fürs Chilli-Enduro-Rennen am Geisskopf meins leihen würde (Radon Jab Full 29). Na klar, Flori!
Nach dem Rennen war er mit seiner Platzierung unzufrieden und meinte, er wolle jetzt auf Full 29 aufrüsten; damit sei er sicher schneller. Als ich ihm steckte, dass er doch gerade ein 29-Zoll-Bike gefahren sei, konnte er es nicht glauben. „Wie bitte?“ Flori hatte unbewusst einen Blindvergleich par excellence durchgeführt und nichts gespürt.
Die Frage beschäftigt viele: Was ist besser – Mullet oder Full 29? Inzwischen bieten viele Hersteller Bikes in beiden Varianten an, so wie der Versender Radon mit seinem Enduro Jab. Damit eignete sich das Bike auch perfekt für unseren Versuch. Würde es uns genauso ergehen wie Flori?
Das bessere Überrollverhalten größerer Laufrädern ist keine Gefühlssache, sondern Physik. Größere Räder treffen in einem flacheren Winkel auf das Hindernis als kleinere, daher benötigen sie weniger Kraft, um sie zu überwinden. Außerdem besitzen sie einen größeren Hebelarm, das heißt, es ist weniger Energie erforderlich. Das führt zu einer effizienteren Fortbewegung im unebenen Gelände. Und: Größere Räder absorbieren Stöße. Deshalb geistern jetzt schon Gerüchte herum, dass der nächste Trend vor der Tür stehen soll: 32 Zoll.
„Full 29 im Enduro ist für mich eher Mode als technische Notwendigkeit“, sagt der Bike-Konstrukteur Bodo Probst. „Den Unterschied spürt kaum jemand!“ Genau so erging es meinem Bruder Laurin und mir im Selbstversuch. Wir brausten über die Trails im Bikepark Leogang, tauschten hin und tauschten her, rumpelten über Wurzelteppiche, mal hoch, mal runter, sprangen, kurvten, lehnten uns nach rechts und lehnten nach links – und spürten fast nichts! Nur wenn wir das Bike in den Manual zogen, fiel das im Mullet-Setup etwas leichter. Außerdem verpasste uns das große Hinterrad an den hohen Stufen gelegentliche „Arschtritte“ („Ah – 29!“) – es ermahnte uns quasi, uns zentraler auf dem Bike zu positionieren. Das 29-Zoll-Laufrad als Fahrtechnik-Coach. David Trummer, Vize-Weltmeister im Downhill, gibt uns Recht: „Ich würde den Unterschied vermutlich auch nicht spüren. Am Enduro und an allen anderen Bikes mit weniger Federweg brauche ich kein kleines Hinterrad. Das liegt an meiner Körpergröße. Bei 1,84 Metern habe ich genug Beinfreiheit“. Bike-Konstrukteur Peter Denk verdichtet die Aussage: „Je kleiner, je steiler, je unerfahrener, desto besser das 27,5er!“ Er fügt aber hinzu: „Bei E-Bikes wird das schlechtere Überrollverhalten durch den Motor nahezu ausgeglichen. Dort überwiegen für mich dann die Vorteile des 27,5er Hinterrads: mehr Stabilität, mehr Bremspower, weniger Gewicht bei gleichem Durchschlagsschutz.“
Ein 29er Vorderrad ist gesetzt. Da spüren wir beide die Vorteile deutlich. Real und im Kopf. Vielleicht etwas mehr im Kopf – in Steilpassagen und beim Wurzel-Rodeo erzeugt das große Vorderrad ordentlich Mental-Power. Doch das Hinterrad? Laurin ist sich nach den Testfahrten sicher: Für ihn fällt die Wahl klar auf 27,5 Zoll, denn er mag steile, verwinkelte Alpin-Trails und zieht Manuals bei jeder Gelegenheit. Laurin ist Team Mullet. Ich dagegen mag Full 29. Seit mir gesagt wurde, Full 29 sei schneller, fühle ich mich damit auch schneller. Dass der Reifen ab und zu am Hintern raspelt, ist für mich ein gutes Signal: „Verdammt noch mal, häng nicht so weit hinten!“
29er rollen besser über Hindernisse. Limitierende Faktoren: Beinlänge und die Steilheit der Strecke. Wer mit 1,70 Meter steilste Trails fahren will, wird mit dem 29er nicht glücklich. Kurz gesagt: Je kleiner, je steiler, je unerfahrener – desto besser das 27,5er. - Peter Denk, Bike-Konstrukteur
Ich habe auf meiner Enduro-Teststrecke viele Vergleichsfahrten gemacht. Obwohl ich mich mit Mullet oft schneller fühlte, sagte die Uhr etwas anderes. Ich war mit Full 29 immer schneller. Das bessere Überrollverhalten ist eine Tatsache, kein Gefühl!
- Christian Textor, Enduro-Worldcupper
Für mich ist Full 29 bei Enduro-Bikes eher eine Mode. Im Überrollverhalten besteht kaum ein Unterschied. Es mag Leute geben, die das spüren. Doch das liegt im Promille-bereich. Was sich allerdings im Kopf abspielt, darf man nicht unterschätzen. - Bodo Probst, Konstrukteur des Radon Jab
Full 29 macht für mich bei All Mountains und Trailbikes Sinn, bei allem mit mehr Federweg bin ich „Team Mullet“. Gerade im alpinen Gelände gibt das kleinere Hinterrad mehr Bewegungsfreiheit – besonders wenn’s steil wird. Und: Das Bike wird agiler und verspielter. - Thomas Öhler, Extrembiker
In Downhill-Rennen fahre ich immer ein Mullet–Setup an meinem Frameworks Big Bike. Das habe ich ausführlich getestet. Mit dem kleinen Hinterrad im Heck bin ich in Kurven einfach schneller. - Asa Vermette, Red-Bull-Hardline-Sieger
BIKE: Spürt der Hobby-Biker den Unterschied zwischen großem und kleinem Laufrad im Heck, also Full 29 oder Mullet? MARKUS KLAUSMANN: Wenn, dann nur im direkten Vergleich. Ich habe das „back-to-back“ ausprobiert und mich für Full 29 entschieden, weil es ein bisschen besser rollt. Doch ich wusste natürlich, was was ist. Bei einem Blindvergleich kann ich mir sogar vorstellen, dass vieles Kopfsache ist. Dass man den Unterschied nicht spürt, wenn man nicht weiß, welches Laufrad im Heck steckt.
Ein Placebo-Effekt?
Ja, der ist durchaus da. Du fährst Full 29 und denkst unweigerlich: „Das rollt besser!“ Dabei spielen viele Dinge eine Rolle, die entscheiden, ob du schneller über einen Wurzelteppich kommst.
Zu was rätst du: Mullet oder Full 29?
Gegenfrage: Was willst du mit deinem Bike machen? Wenn du Enduro-Rennen fahren willst, dann Full 29. Das große Hinterrad rollt besser, ist also schneller. Wenn du aber aus Spaß fährst und die Zeit keine Rolle spielt, dann empfehle ich dir Mullet, denn das Bike wird durch das kleinere Laufrad spritziger und geht besser um die Kurven.
Und im Downhill?
Im Downhill würde ich nie Full 29 fahren, sondern immer Mullet. Das habe ich ausprobiert. Doch es spielt auch die Körpergröße eine Rolle. Es mag sein, dass ich für Full 29 einfach nicht groß genug bin (1,78 Meter).
Spielt die Steilheit des Geländes eine Rolle?
Im steilen Gelände spürst du den Unterschied am stärksten. Das ist auch der Grund, warum Full 29 im Worldcup kaum zum Einsatz kommt. Ich schätze, dass maximal fünf Athleten Full 29 fahren.
Was sagst du zu den Kriterien der Nachhaltigkeit und Robustheit?
Ein gutes Laufrad ist genauso robust, egal ob 27,5 Zoll oder 29. Wenn du dir dann ’ne Delle reinhaust, passiert das bei beiden Größen. Die Nachhaltigkeit spricht allerdings für Full 29, da kannst du den abgefahrenen Vorderreifen einfach nach hinten tauschen.