Henri Lesewitz
· 02.06.2016
Ruhestand? Nach 20 Profi-Jahren. Mit vier Weltmeistertiteln. Am besten, die Abschiedsrunde mit einem fünften WM-Gold krönen. Nichts bringt Christoph Sauser vom Plan ab. Nicht mal ein Rippenbruch.
Wolkenstein/Südtirol: Er sitzt im Frühstücksraum, als wäre er einer der Urlauber, die gleich zur einer Wanderung in die umliegenden Dolomiten-Massive ausschwärmen. Doch in ihm drin tobt ein Sturm. Zwanzig Jahre lang gehörte Christoph Sauser (39) zu den Besten des Bike-Sports. Morgen wird er sein letztes Rennen fahren. Es ist die Marathon-WM. Sauser will sich mit einem Sieg in den Ruhestand verabschieden. Blöd nur, dass er sich vor ein paar Tagen bei einem Sturz zwei Rippen gebrochen hat.
Wikipedia verbucht Dich bereits als Ex-Profi. Morgen ist nun wirklich Dein letztes Rennen. Ein komisches Gefühl?
Schwer zu sagen. Ich denke, ich werde mein Gefühl erst kommende Woche wirklich in Worte fassen können. Im Moment bin ich viel zu fokussiert auf das WM-Rennen, um mich mit Abschiedsemotionen zu beschäftigen.
Kannst Du Dich an den Moment erinnern, an dem Du entschieden hast aufzuhören?
Das war ein fließender Prozess. Ich hatte keine Erleuchtung oder so was. Was ich hundert Prozent wusste: Ich wollte meine Karriere nicht verwässern und gegen Ende zu ausplätschern lassen. Mein großer Traum ist es, mit einem Weltmeistertitel aufzuhören. Alles oder nichts. So war ja meine ganze Karriere. Grautöne gibt es bei mir nicht.
Hast Du gespürt, dass die Luft dünner wird?
Ja, das auch. Der Marathon-Sport hat sich unglaublich entwickelt. Als ich 2007 zum ersten Mal Weltmeister wurde, habe ich mich nicht groß vorbereiten müssen. Im gleichen Jahr gewann ich beispielsweise auch den Nationalpark Marathon – in 5:45 Stunden und mit sieben Minuten Vorsprung. Vor zwei Jahren, unter gleichen Bedingungen, war ich 5:30 Stunden unterwegs, hatte aber nur eine Minute Vorsprung. Um zu gewinnen, muss man heute eine Viertelstunde schneller fahren. Das Niveau hat sich extrem gesteigert. Früher habe ich Rennen mit Links gewonnen. Das geht heute nicht mehr.
Hast Du Angst davor, hinterherzufahren?
Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was der größere Antrieb ist. Die Angst vor dem Verlieren, oder die Freude am Gewinnen. Ich kann das nicht beantworten.
Beschreibe doch bitte mal die letzte Stunde eines Marathon-Rennens.
Kommt ganz drauf an. Wenn es um den Sieg geht, dann kannst Du alles aus Dir rausquetschen. Da drehen die Beine praktisch von alleine. Wenn man aber abgehängt ist, dann ist der ganze Körper am Anschlag. Dann schmerzt alles. Hobby-Fahrer teilen sich die Kräfte normalerweise ein. Bei uns Profis wird von Anfang an maximal gefahren. Achtung, fertig, los. Entweder ist man weg. Oder man ist vorne dabei. Ein stundenlanges, brutales Ausscheidungsfahren.
Was ist so toll daran?
Schmerz geht vorüber. Erfolgt ist für immer.
Gibt es manchmal Phasen, in denen Du lieber Büroangestellter wärst?
Oh ja, hundert Prozent! Ich habe schon oft gedacht, dass es mich voll nervt. Es kommt immer wieder vor, dass ich um 10 Uhr auf dem Bike sitzen will, es aber erst am Nachmittag schaffe, weil ich mich einfach nicht aufraffen kann. Dann sauge ich erst mal Staub, oder so was. Nur, um eine Ausrede zu haben, um nicht losfahren zu müssen. Letztlich ziehe ich das Training aber immer durch. Sobald ich auf dem Rad sitze, fühlt sich alles gut an. Dann gebe ich Vollgas.
Was ist das Beste am Leben als Mountainbike-Profi?
Die Emotionen. Es gibt kaum einen anderen Job, in dem man so viel herausbekommt für das, was man reinsteckt.
Was sind die negativen Seiten?
Man ist oft ausgelaugt. Abends will ich oft nur auf der Couch sitzen und Fernsehen schauen. Nur nicht mehr bewegen. Man würde zwar ganz gerne dieses oder jenes machen, bleibt aber letzten Endes doch lieber zu Hause.
Klingt ja nicht sehr spannend.
Oberflächlich betrachtet vielleicht. In meinen 20 Jahren als Profi habe ich ganz sicher mehr erlebt, als wenn ich einen normalen Job gehabt hätte. So viele Momente, die man für kein Geld auf der Welt kaufen könnte. Was auch toll ist am Bike-Sport: Ein Stabhochspringer geht nach seinem Karriereende wahrscheinlich nicht einfach am Samstag ins Station, um ein bisschen zu springen. Eine Bike-Runde kann man immer fahren. Es ist ein Sport, mit dem man für immer verwurzelt bleibt.
Du hast die Zuganschläge an Deinem Bike entfernt, um ein paar Gramm zu sparen. Als Du 1993 angefangen hast, Rennen zu fahren, wurde bei den Worldcups angeblich noch wild gefeiert. Bist Du besonders verbissen, oder hat sich der Sport wirklich so radikal verändert?
Vor zwanzig Jahren ging es genauso professionell zu, gemessen an den damaligen Standards. Heute gibt es nur noch viel mehr Komponenten, an denen gefeilt wird. Schon weil die Vielfalt an Technik größer ist. Alleine die vielen verschiedenen Gummimischungen der Reifen. Gut, früher gab es ein paar wilde Jungs, die vor ihrem Downhill-Lauf noch schnell gekifft haben. Aber das ist längst vorbei.
Isst Du Kuchen, wenn Dir danach ist?
Ja, aber in Maßen.
Berechnest Du Deine Kalorien mit Hilfe von Ernährungs-Apps?
Nein, das habe ich noch nie gemacht. Aber okay, wenn es um die Wurst geht, dann gilt schon: Power to Weight. Dann esse ich abends nur Proteine und Gemüse. Kohlenhydrate und Nachtisch sind dann tabu. Oft gehe ich auch trainieren und esse unterwegs nur einen Riegel, quasi als Mittagessen. Abends gibt es dann gar nichts mehr. Aber man muss die Balance finden. Es bringt nichts, Gewicht zu verlieren, und sich dann schlapp zu fühlen, oder vielleicht krank zu werden.
Wie viel Prozent Körperfett hast Du?
Vier bis fünf Prozent.
Bist Du froh, dass Du die Selbstkontrolle von morgen an aufgeben kannst?
Ich bin gerne fit, daran wird sich nichts ändern. Klar werde ich mir regelmäßig was gönnen. Aber ich werde bestimmt nicht drei oder vier Kilo zunehmen.
Morgen wird auch Roel Paulissen am Start stehen. Bei der Marathon-WM 2008 stürzte er beim dramatischen Endspurt und bekam den Titel zugesprochen, obwohl Du als Erster über den Zielstrich gefahren bist. Später wurde er des Dopings überführt. Machst Du Dir Gedanken darüber, ob die Konkurrenz sauber ist?
Ich habe bisher in der Vorbereitung nicht ein einziges Mal gedacht, dass unfair gefahren wird. Es gibt natürlich immer schwarze Schafe. Wer kann das schon ausschließen? Aber ich habe wirklich das Gefühl, dass der Sport sauber geworden ist. Als ich angefangen habe, in der U23, da hatte ich krasse Zweifel: Kann ich es an die Weltspitze schaffen, sauber? Ich wusste es nicht. Dann wurde ich Dritter bei einem Worldcup-Rennen und dachte: Doch, es geht. Aber bei jeder WM gab es einen Chiotti, einen Meirhaeghe, einen van Dooren, all diese Jungs. Die sind geflogen. Unantastbar. Das haben wir jetzt nicht mehr. Ich bin so happy, dass ich den Jungen sagen kann: Man kann es schaffen, ganz legal.
Ohne die Aberkennung des Titels wärst Du 2008 Doppel-Weltmeister geworden, Champion im Cross Country und im Marathon. War das der schwärzeste Tag in Deiner Karriere?
Zumindest einer der schwärzesten Momente. Klar, es wäre cool, fünffacher Weltmeister zu sein. Vielleicht klappt es ja morgen. Ich denke nicht viel an die Sache mit dem Sturz von Paulissen. Ab und zu aber schon. Schlimmer war für mich die Olympiade in Athen. Da habe ich mich nach einem Sturz wieder zurück an die Spitze gekämpft. Ich dachte, super, jetzt kann ich gewinnen. Und dann reißt die Kette. Dann die Olympiade in Peking. Kurz davor hatte ich mir bei einem Sturz das Knie aufgeschlitzt, wodurch eine Infektion ins Gelenk kam. Ich nahm Antibiotika und hatte eine Schiene am Beim. Mir ging es richtig schlecht. Dennoch lag ich auf Bronzekurs. Ich wollte diese Medaille unbedingt. Und dann spurtete Nino Schurter kurz vor dem Ziel an mir vorbei. Ich hatte also genau genommen drei schwarze Tage in meiner Karriere.
Es heißt, Du setzt Dich vor Rennen bewusst unter Druck, um die volle Leistung abrufen zu können. Träumst Du manchmal von Alban Lakata oder Jaroslav Kulhavy?
Nein, von Alban oder Jaroslav träume ich nicht. Es reicht schon, wenn ich am Start ihre Beine sehe. (lacht) Den Druck brauche ich, um voll fokussiert zu sein. Man weiß, dass man gut in Form ist. Aber niemand kann sagen, ob er diese drei oder fünf Prozent hat, um das Rennen zu gewinnen. Jeder hat seine Tagesschwankungen.
Umso größer muss der Schock gewesen sein, als Du Dir vor zwei Wochen zwei Rippen gebrochen hast. Es war eine kleine Unachtsamkeit beim Dahinrollen auf einem Radweg.
Ja, so etwas ist wirklich Kacke. Man hat einen Plan. Genau so ist es hundert Prozent richtig. Und dann liegst Du da und musst fast kotzen vor Schmerzen. Wegen einer Sekunde Unaufmerksamkeit. Ich wusste, die Rippen sind gebrochen. Es hat ekelhaft geknackt, sobald ich mich bewegt habe. Das Bein wurde zudem blau, es war voller Blut. Ich war 16 Stunden im Krankenhaus. Eigentlich sollte ich dableiben. Der Arzt meinte, dass ich drei Wochen lang gar nichts machen könne. Das sagte ich mir: alles oder nichts. Ich wollte es meinen Rippen zeigen. Ich wollte beweisen, dass ich fahren kann. Am Montag nach dem Sturz saß ich das erste Mal wieder auf dem Rad, alles tat höllisch weh. Am Donnerstag bin ich beim Four Peaks gestartet. Da waren es nur noch neun Tage bis zur WM.
Würdest Du sagen, Du bist verrückt?
Ich würde eher sagen: Ich bin ein harter Hund, was Schmerzen anbelangt.
Wie ist Deine Taktik für morgen (Juni 2015)?
Ich habe keine. Die WM ist das einzige Rennen, bei dem ich ohne Pulsmesser und Radcomputer fahre. Ich werde vom Start weg Vollgas fahren. Fünf Stunden lang Tunnelblick. Anders geht es nicht. Wer Weltmeister werden will, darf vom Drumherum nichts mitbekommen.
Der nächste Tag (Juni 2015): Als die Spitze um Alban Lakata den ersten Pass erreicht, sieht es nicht gut aus für Sauser. Er muss abreißen lassen. Doch er kämpft. Am Ende liefert er sich ein spektakuläres Duell mit Leonardo Paez um Silber. Sauser gewinnt den Zweikampf. Weltmeister jedoch wird Alban Lakata.
INFO Christoph Sauser
Er gewann dreimal Gold bei einer Marathon-WM und trug auch das Regenbogen-Trikot der Cross-Country-Fahrer. Der Schweizer Christoph Sauser zählt zu den erfolgreichsten Bike-Profis überhaupt. Künftig will er für Specialized arbeiten.
Alle News auf seiner Website: christophsauser.com