Peter Nilges
· 08.08.2024
Gerade mal ein Drittel eines Schuhabdrucks beträgt die Reifenaufstandsfläche von Mountainbike-Reifen. Nicht wirklich viel, um Lenk- und Antriebskräfte im Gelände zu übertragen. Beim Überfahren von Hindernissen wie Wurzeln oder Steinen verkleinert sich die Fläche nochmals. Was also tun, um das Beste aus der Kontaktfläche herauszuholen oder diese sogar zu vergrößern, fragten sich die Schwalbe-Ingenieure?
Mögliche Lösungen wären die Reduktion der Karkassenlagen, um dem Reifen mehr Flexibilität einzuhauchen. Weniger Stabilität und Durchschlagschutz sind jedoch die Folge. Eine weitere Lösung wäre die Reduktion des Reifendruckes. Auch hier steigen Pannenrisiko bei geringerer Fahrstabilität und erfordern wiederum Inserts, die Zusatzgewicht mit sich bringen.
Um die Reifenaufstandsfläche zu optimieren, ohne Nachteile wie Pannenrisiko und Instabilität in Kauf zu nehmen, führt Schwalbe daher Reifen mit Radial-Karkasse ein. Was im Pkw und Motorradbereich Stand der Technik ist, kommt also jetzt auch im Fahrradbereich. Von einem Radial-Reifen spricht man, wenn die Fäden der Karkasse im 90 Grad Winkel zur Fahrtrichtung angeordnet sind. Auto und Motorradreifen haben typischerweise ein R in der Größenbezeichnung, was auf einen Radial-Reifen deutet. Im Fahrradbereich sind die Karkassenlagen jedoch standardmäßig in einem Winkel von 45 Grad zur Fahrtrichtung angeordnet. Man spricht dann von einem Diagonal-Reifen.
Alleine durch die radiale Ausrichtung der Karkassenlagen (rechts in der Grafik unten) spricht Schwalbe von einer Vergrößerung der Reifenaufstandsfläche um 30 Prozent. Mehr Fläche bedeutet nichts anderes als mehr Grip. Und das wohlgemerkt bei identischem Reifendruck. Erhöht man den Reifendruck bei der neuen Konstruktion um 0,5 Bar, so fällt die Aufstandsfläche nach eigenen Angaben immer noch zehn Prozent größer aus.
Die radiale Anordnung der Karkassenfäden erhöht zudem die Flexibilität und die Anpassbarkeit des Reifens an den Untergrund. Der Reifen schmiegt sich viel besser den Konturen des Untergrundes an, nimmt Hindernisse besser auf und sorgt für mehr Bodenkontakt. Beim Überfahren kleinerer Wurzeln steht der Reifen vor und hinter der Wurzel am Boden und ist nicht kurzzeitig ausschließlich auf der Wurzel, wie es bei herkömmlichen Reifen der Fall ist.
Zudem soll die neue Karkasse eine etwas bessere Dämpfung besitzen, was sich positiv auf die Kontrolle im Gelände und das Fahrgefühl im Allgemeinen auswirken soll.
Die neue Radialkarkasse wird es mit drei unterschiedlichen Profilen geben: Dem Shredda, einem E-MTB Reifen speziell für schlammige, lose Bodenbedingungen. Der bekannten Magic Mary und mit dem ebenfalls neuen Profil Albert Pro. Sowohl Magic Mary als auch Albert Pro werden in einer Gravity-und einer Trail-Variante angeboten. Den Shredda gibt es ausschließlich in der schweren Gravity-Ausführung mit Ultra Soft Gummimischung.
Beim neuen Albert Pro handelt es sich um ein Allround-Reifen, der an Bikes ab 150 Millimeter Federweg am besten positioniert ist. Das Profil kann sowohl am Vorder- als auch am Hinterrad gefahren werden. Durch den im Vergleich zum Magic Mary etwas engeren Stollenabstand, soll der Albert seine Stärken gerade mit der neuen flexiblen Karkasse optimal auf den Boden bringen. Magic Mary und Albert Pro sind wahlweise in softer und ultra softer Gummimischung erhältlich.
Preislich liegen die Trail-Reifen bei 73,90 Euro und die Gravity-Modelle bei 79,90 Euro. Beim Gewicht kommt die Trail-Variante des Albert in 29 Zoll auf 1080 bis 1160 Gramm (BIKE-Messwerte). Die Gravity-Version des Albert schlägt in 29 Zoll mit 1250 Gramm zu Buche.
Interessant: Die neuen Radial-Reifen von Schwalbe wird es ausschließlich in 2,5 und 2,6 Zoll Breite geben, fallen aber tendenziell etwas schmaler als herkömmliche Schwalbe-Reifen aus. Auf einer 30er-Felge beträgt die maximale Breite (Stollen) beim 2,5-Zoll-Albert 60 Millimeter. Der 2,6er liegt bei 63 Millimeter Breite.
Bereits die ersten Meter auf den neuen Radial-Reifen sind verheißungsvoll und spürbar anders. Selbst auf dem Parkplatz wird schnell klar: Die neue Reifenkonstruktion fühlt sich im Vergleich zu einem Standard-Pneu grundlegend anders an. Mit dem gewohnten Luftdruck präpariert, entsteht das Gefühl, einen wesentlich softeren, flexibleren Reifen zu fahren - so, als hätte man ein halbes Bar weniger Druck im Reifen.
Der Stabilitätscheck auf griffigem Asphalt belegt jedoch: der Luftdruck passt. Selbst hart gefahrene Kurven und maximales Pushen bringen die Reifen nicht zum Wegknicken. Von Instabiliät fehlt jede Spur. Die große Überraschung wartet jedoch im Gelände. Kleine Wurzeln oder kleine Kanten und Steine inhalieren die Reifen quasi. Feine Unebenheiten werden komplett geschluckt. Der Fahrkomfort liegt spürbar höher. Sobald das Gelände steiler und loser wird, ist Antriebstraktion gefragt. Die neuen Reifen verzahnen sich zuverlässig mit dem Untergrund und bieten selbst auf querliegenden Wurzeln und losen Steinen einen bislang ungeahnt hohen Grip.
Auch bergab setzen sich die neuen Radial-Reifen eindrucksvoll in Szene. Das hohe Gripniveau und die gesteigerte Dämpfung sorgen für eine top Verzahnung mit dem Untergrund und steigern das Sicherheitsgefühl. Nach den ersten Testfahrten fällt unser Fazit extrem positiv aus. Die neuen Radial-Reifen sorgen eindrucksvoll für ein höheres Grip- und Sicherheitslevel.
Wurzeln, kleine Kanten oder Steine: Die neuen Schwalbe-Reifen mit Radialkarkasse schlucken kleine Unebenheiten komplett, der Fahrkomfort liegt spürbar höher. Gleichzeitig bieten sie eine bislang ungeahnt hohe Traktion. Auch bergab sorgen die neuen Radial-Reifen von Schwalbe eindrucksvoll für ein höheres Grip- und Sicherheitslevel.
BIKE: Im Pkw- und auch Motorrad-Bereich sind Radial-Reifen Stand der Technik. Bei Fahrradreifen werden nach wie vor Diagonal-Reifen eingesetzt. Wie seid ihr auf die Idee gekommen, die radiale Karkasse aufs MTB zu übertragen?
Carl Kämper: Unser Ziel war es, einen anpassungsfähigen, flexiblen Reifen mit hohem Pannenschutz zu verbinden. Wir haben uns daher lange mit dem Thema Inserts beschäftigt. Der günstigste, leichteste und unkomplizierteste Pannenschutz ist und bleibt jedoch der Luftdruck. Ein höherer Luftdruck vermindert zwar effektiv Durchschläge, verschlechtert aber leider massiv das Fahrgefühl und den Grip. Ziel war es also, mehr Luft zu fahren, ohne dabei Sensibilität und Grip zu verlieren. Einfach nur Karkassenlagen zu reduzieren, funktionierte leider nicht. Die zündende Idee hat ein Video über Motorrad-Trial ausgelöst. Die verwendeten Radial-Reifen vergrößern die Auflagefläche und passen sich dem Untergrund extrem gut an. Auch für den Downhill-Einsatz haben wir schnell das Potenzial erkannt. Die Radial-Reifen lassen höhere Luftdrücke zu, was den Pannenschutz erhöht, bieten aber trotzdem mehr Grip und Komfort.
Was sind die genauen Vorteile gegenüber einer konventionellen Diagonal-Karkasse?
Der größte Vorteil liegt in der Nutzung der Auflagefläche. Im Vergleich zu einem Sohlenabdruck mit Schuhgröße 42 macht die Reifenaufstandsfläche nur etwa ein Drittel aus. Wir Biker tanzen quasi mit Ballerinas durch den Wald. Da ein Trail alles andere als homogen ist, verkleinert sich diese Fläche jedes Mal beim Abrollen über Unebenheiten. Also musst du dafür sorgen, dass die Kontaktfläche immer am Boden bleibt. Ein geringer Luftdruck bringt aber zu viele Nachteile mit sich. Mit der neuen Radial-Konstruktion können wir eine dicke oder stabile Karkasse fahren und der Reifen folgt trotzdem viel besser dem Untergrund. Der Radialreifen formt sich um Wurzeln herum und bringt dadurch Kontakt vor und hinter dem Hindernis. Zusätzlich fällt die Auflagefläche bei identischem Luftdruck um 30 Prozent größer aus als bei einem Standard-Reifen.
Was sind die Nachteile eines Radial-Reifens? Wie sieht es mit dem Rollwiderstand, dem Pannenschutz, dem Gewicht und der Fahrstabilität aus?
Eine konventionelle Schwalbe Magic Mary mit Superground-Karkasse und Soft-Gummimischung rollt mit 31 Watt bei 25 km/h auf dem Rollenprüfstand. Das Pendant dazu mit Radial-Karkasse rollt mit 37 Watt rund 20 Prozent schlechter, weil durch die größere Auflagefläche mehr Gummi verformt werden muss. Beim neuen Albert, der über ein optimiertes Profil verfügt, kommen wir auf 34 Watt. Im Gelände, wo der Radial-Reifen seine Flexibilität ausspielen kann, rollt er sogar schneller, was zahlreiche Tests belegen. Was den Schnitt- und Stichschutz anbelangt, sind die Radial-Reifen identisch, weil wir das gleiche Karkassenmaterial verwenden. Nur der Durchschlagschutz verschlechtert sich bei identischem Reifendruck um etwa sieben bis acht Prozent, da der Reifen linearer einfedert. Durch die gewonnen Flexiblität bietet der Reifen aber viel mehr Spielraum beim Luftdruck, wodurch sich der Durchschlagschutz erhöhen lässt bei gleichzeitig besseren Fahreigenschaften. Das Gewicht ändert sich nicht, da - wie gesagt - das gleiche Material zum Einsatz kommt. Unsere anfängliche Sorge, dass sich der Reifen undefiniert oder weniger stabil anfühlen könnte, stellte sich schnell als unbegründet heraus.
Der Reifen wurde ursprünglich für technische Uphills mit dem E-MTB entwickelt und soll den Grip maximieren. Das Fahrgefühl macht sich aber auch bergab sehr stark bemerkbar. Sind weitere Anwendungsfälle denkbar?
Der Nutzen war ursprünglich E-MTB-getrieben, um den Grip in allen Belangen ohne Einschnitte beim Pannenschutz zu maximieren. Fast zeitgleich ging aber auch die Entwicklung fürs Downhill-Racing in eine sehr ähnliche Richtung. Ein flexibler Reifen, ohne Kompromisse beim Pannenschutz, bietet in vielen Situationen Vorteile.
Im Downhill soll ja ein gewisser Amaury Pierron, der die letzten beiden Worldcups (Val di Sole und Les Gets) mit massivem Vorsprung bei extrem widrigen Streckenbedingungen gewonnen hat, auf der neuen Karkassentechnologie unterwegs gewesen sein.
Ja, das stimmt. Seit 2022 haben wir die Reifen als Prototypen bereits mit dem Commencal Muc Off Team im Worldcup im Einsatz. Jedes Mal, wenn ein D4 auf der Reifenflanke stand, war es ein Reifen mit radialer Karkasse. Die Kontaktfläche gibt nun mal das Maß an Grip vor. Die vergrößerte Auflagefläche hat bei den extrem rutschigen Bedingungen daher sicherlich auch eine entscheidende Rolle gespielt.
Neben der E-MTB-Version wird es zusätzlich eine etwas leichtere Trail-Version von den neuen Reifen geben. Für wen ist dieser Reifen die richtige Wahl?
Wir haben das Thema für uns sehr kritisch diskutiert. Ein reines E-MTB Produkt war für uns zu wenig. Auch ein klassischer Mountainbiker kann definitiv große Vorteile daraus ziehen. Auch bei weniger Masse seitens des Bikes sind große Vorteile spürbar. Wenn du ohnehin einen Schwalbe Reifen mit Trail-Karkasse gefahren bist, ist die neue Radialkarkasse in der Trailversion eine Option. Für einen ausreichenden Pannenschutz ist ein Apex im Radial-Reifen Pflicht für einen hohen Durchschlagschutz. Deswegen bieten wir die Technologie nur für Reifen mit Apex an. Ground- oder Race-Reifen sind nicht dabei.
Ist es überhaupt möglich richtig leichte Reifen mit der Konstruktion zu bauen oder gibt es Stabilitätsprobleme?
Die Seitenwandsteifigkeit war anfangs unsere größte Sorge. Die ersten Fahrtests zeigten aber schnell, dass es weder stärkeres Burping noch Instabilität gab. Im Anlieger kann es lediglich etwas ungewohnt sein, weil der Radial-Reifen sehr viel Grip aufbaut. Leichtere Konstruktionen haben wir bei der Entwicklung zunächst hinten angestellt, aber vielleicht gibt es in Zukunft auch in diesem Bereich spannende und innovative Lösungen. Im Gelände bringt ein flexibler Reifen bei vielen Anwendungen Vorteile.
Bei einem Radial-Reifen verlaufen die Fäden der Karkasse im 90 Grad Winkel zur Fahrtrichtung. Bei eurer neuen Karkasse ist das nicht ganz der Fall. Warum besitzen die Fäden trotzdem einen Winkel?
Wir haben, was die Anordnung der Karkassenfäden angeht, extrem viel rumprobiert, von 40 Grad aufwärts in fünf Grad Schritten. Den finalen Winkel kommunizieren wir jedoch nicht. Wir konnten den Winkel nur so stumpf wählen, dass die Karkasse nicht ihre Stabilität verliert. Die Fäden der Karkassenlagen müssen überlappen. Da ein zusätzliches Gewebe wie bei unserem Snakeskin Pannenschutz die flexiblen Eigenschaften der radialen Karkasse komplett negiert, mussten wir uns einen Ersatz überlegen.
Wie sieht die Zukunft aus? Rollen in ein paar Jahren alle Schwalbe MTB-Reifen auf radialen Karkassen oder bleibt es eine Nische? Wird die zusätzliche Radial-Karkasse zumindest bestehende Karkassen ablösen/verdrängen?
In Zukunft werden wir mit Sicherheit mehr Radial-Reifen in unserem Programm haben. Für leichte Anwendungen wie den Cross-Country-Bereich gibt es definitiv noch viel Forschungs- und Entwicklungsbedarf. Im nächsten Jahr sind aber bereits neue Modelle geplant. Bislang handelt es sich bei den Radial-Karkassen um Optionen zu bestehenden Karkassen.