Am Anfang war das Rad, aber kaum ein Reifen dazu: Als sich 2015 das Gravelbike zaghaft manifestierte, nutzten die wenigen Hersteller meist Crossreifen oder Pneus für MTB. Für manches Terrain ist das sinnvoll. Aber nicht für ein Rad, das auf jedem Untergrund gut rollen sollte. Der deutsche Hersteller Schwalbe (siehe Interview) stieg schon früh in den Trend ein und kann heute acht spezifische Gravelreifen neben seinen Crossern präsentieren. Dann gab’s im Segment kein Halten mehr. Mittlerweile hat praktisch jeder Hersteller dezidierte Gravel-Reifen im Programm. Wir stellen hier von sieben Herstellern je zwei Reifenmodelle vor – genug, um eine Auswahl zu treffen, mit der jeder Graveler auf seinem bevorzugten Terrain nach seinen Vorstellungen glücklich werden sollte.
Richtig ist: je breiter der Reifen, desto mehr Grip bietet er, desto mehr Komfort und sogar tendenziell weniger Rollwiderstand. Das Gewicht legt mit der Breite wenig zu, das Handling wird aber zunehmend träger – mit Rennrad-Feeling am Lenker hat ein 45er-Pneu nichts mehr zu tun. Wer sich deutlich fettere Pneus ans Rad baut, muss dies berücksichtigen. Vorher schon zählt allerdings: Ist der Durchlauf in Gabel und Hinterbau ausreichend für den breiteren Schlappen?
Das Bike kommt vom Renner – und damit erscheint schon logisch, dass auch das Gewicht des Reifens eine Rolle spielt. Zwischen 380 und gut 500 Gramm bringen die Gummis bei 28 Zoll und 40er-Breite auf die Waage. Im Vergleich: Der Dauerbrenner Schwalbe Marathon wiegt als 28er mit 37 Millimeter Breite etwa 750 Gramm. Verständlich: Die Race-orientierten Gravelreifen führen die Leichtgewichtsskala an. Natürlich erreicht man das nicht ausschließlich mit Hightech, sondern auch mit weniger Material. Sprich, die Race-Reifen haben nicht den höchsten Pannenschutz und nicht die robusteste Lauffläche.
Für jeden Reifentyp gilt heute: Der Compound, also die Rezeptur des Gummis, muss mehrere Herausforderungen meistern: Er soll auch auf Asphalt viel Grip bieten, muss also dafür auch eine gewisse Weichheit haben. Andererseits soll er aber wenig Rollwiderstand bieten, also leicht laufen – auch das ist nicht nur eine Frage der Anordnung und Form der Stollen. Und on top soll er auch noch nicht zu viel Abrieb produzieren. Anders formuliert: Er soll lange halten. Mittlerweile haben die Reifenhersteller diese diametral zueinander stehenden Anforderungen gut im Griff.
Auf die genannten Kriterien wirken natürlich auch andere Faktoren ein, die Karkasse etwa: Dieses Gewebe hält den Reifen in Form und verhindert, dass er beim Aufpumpen sich so ausdehnt, dass er platzt. Schon mal einen Reifen zu lange gefahren? Die weißen Fädchen, die dann sichtbar werden, sind die Karkasse. Auch ihre Feinheit entscheidet über das leichte Rollen des Reifens. Je dichter die Fäden, desto geringer ist die Walkarbeit des Pneus und desto besser rollt er. Das ist vor allem bei Rennradreifen relevant. Einfache Straßenreifen haben nur rund dreißig TPI, bei Gravelreifen ist man häufig um die 67, Renner können die doppelte Gewebefeinheit und mehr aufweisen.
Je glatter ein Reifen, desto leichter läuft er tendenziell – auch im Gelände. Deshalb haben auch Race-Gravelreifen oft eine glatte oder kaum profilierte Lauffläche. Für Kurvensicherheit offroad setzen die Hersteller Blöcke außen auf die Ränder der Lauffläche. Grundsätzlich gilt: je gröber und kantiger diese Gummiblöcke, desto besser hält der Reifen in Kurven auf weichem Untergrund. Wird’s grundsätzlich weicher, braucht der Reifen auch mittig Stollen. Je mehr Fläche diese haben und je niedriger sie sind, desto besser läuft der Pneu auf Asphalt – und desto schlechter im Gelände.
Aktuell ist “tubeless” trendy, und das hat Gründe: Ein Reifen mit Schlauch wird wohl nie die Leichtlauf- und Handling-Qualitäten eines tubeless gefahrenen Gummis liefern. Hinzu kommt: Der Schlauchlose kann mit weniger Druck gefahren werden und bietet damit mehr Komfort. Viele Biker schwören auch darauf, dass Tubeless-Reifen weniger pannenanfällig seien.
Es gibt drei Aber: Erst Tubeless-Dichtmilch im Reifen sorgt für Dichtigkeit. Leider auch für Sauereien bei einer Panne. Muss ein Schlauch eingezogen werden, macht man sich mehr als nur die Hände schmutzig.
Das zweite Aber: Ist ein Loch so groß, dass die Dichtmilch es nicht schließt, gibt es zwar – neben dem Einzug eines Schlauchs – die Option der Reparatur mit einem Gummiplug. Diese auch Reifenwürste genannten Gummistückchen sollen zusammen mit der Dichtmilch das Loch abdichten. Allerdings sind diese Reparaturen erfahrungsgemäß selten von Dauer.
Aus Aber Nummer zwei folgt: Der Reifenverschleiß kann unter diesen Umständen hoch sein – und hochwertige Gravelbereifung kostet. Über den Daumen gepeilt: Für einen breiten Einsatz und Pendeln dürften Schläuche nach wie vor die stimmige Ausstattung sein, sportlich orientierte Graveler können auch ohne Schlauch glücklich werden. Die Alternative: gummifreie Schläuche aus TPU oder ähnlichen Materialien. Sie sind deutlich leichter als klassische Butyl-Schläuche und sorgen für weniger Walkarbeit des Reifens – sind aber etwa dreimal so teuer wie herkömmliche Schläuche und meist schlecht dauerhaft zu flicken.
MYBIKE: Was unterscheidet Gravelreifen von klassischen Trekking-Reifen?
Ein Gravelreifen muss andere Herausforderungen meistern, ist also wesentlich komplexer aufgebaut. Er muss leichter sein und trotz oft gröberen Profils leicht laufen. Daher wird die Karkasse aufwendiger konstruiert. Pannenschutz wird hier nicht mit mehr Gummi-Einsatz erreicht, weil das zu viel Gewicht bedeutet, dazu braucht es spezielle Pannenschutzeinlagen. Hinzu kommt je nach Einsatzbereich ein spezielles Profil, das auch mit weicherem Untergrund klarkommt.
MYBIKE: Und der Unterschied zu Crossreifen?
Da haben wir eine offizielle Begrenzung auf 33 Millimeter – bei UCI-Rennen darf der Reifen nicht breiter sein. Außerdem haben wir hier meist groberes Profil. Leichtlauf auf Asphalt spielt dagegen eine untergeordnete Rolle.
MYBIKE: Für welche Einsätze gibt es Gravelreifen?
Gravel ist ja Interpretationssache. Auf gut ausgebauten Forst- und Waldwegen ist ein Semi-Slick sinnvoll, vor allem, wenn auch viel Straße gefahren wird. Aber unser Angebot geht hin bis zum MTB-ähnlichen Trailreifen. Mit dem Overland haben wir auch einen robusten und verschleißarmen Reifen speziell für Bikepacking und Pendeln im Programm. Außerdem gibt es mittlerweile Reifen für Gravelrennen. Unser G-One R etwa hat dazu eine Rennrad-Karkasse bekommen, die ihn besonders geschmeidig abrollen lässt und für wenig Rollwiderstand sorgt.
MYBIKE: Gibt es auch Unterschiede in der Gummimischung?
Ja, die Reifenhersteller können mittlerweile mit dem Compound die drei Anforderungen Abrieb, Rollwiderstand und Grip alle ganz gut unter einen Hut bringen – jeder hat da sein Geheimrezept.
MYBIKE: Mit welchen Reifen ist man für die meisten Situationen gerüstet?
Gute Kompromisse sind Reifen mit relativ dichtem Profil, bei uns etwa der G-One Allround und der G-One R. Solche Reifen passen gut für eine 50/50-Nutzung von Straße und Waldweg.
Der Terra Trail ist fast schon ein Klassiker unter den Gravlern und Schotter- bis Waldboden-orientiert, Pannenschutz ist an Bord.
Der Bruder des Trail kann fast alles, was der auch kann, ist aber noch etwas schneller; sein kleinteiliges Profil dürfte dafür etwas kurzlebiger sein.
Der Rambler liefert mit eng stehenden Mittelstollen Asphalt viel Auflage, in Waldboden-Kurven können grobe Seitenstollen punkten.
Nichts für Matsch, viel für Asphalt und trockene Waldautobahn: der Reaver ist eher der schnelle Gelegenheitsgraveler.
Das Abenteuer ruft – vor allem auf festem Terrain und Asphalt kann der Allrounder punkten. Pendler können damit gut beraten sein.
Allround auch hier – mit mehr Fokus auf Gelände. Eng stehende Mini-Stollen sorgen trotzdem für leichten Lauf auf festen Wegen.
Renn-Reifen: Der Hersteller verspricht leichten Geradeauslauf, aber viel Halt in Kurven; wird’s matschig, dürfte er an Grenzen kommen.
Pirelli empfiehlt den Reifen mit verbesserter Wulst-zu-Wulst-Schutzschicht für harten Einsatz. Hier ist besonders Speed im Fokus.
Geringster Rollwiderstand der Schwalbe-Gravel-Palette, für Kurven auf weichem Terrain gibt’s dicke Seitenstollen.
Ein echter Allrounder, der auch als Trekkingreifen und für Pendler gute Miene macht. Soll auf Asphalt und festem Feldweg punkten.
WTB-Allrounder: Kleine, eng stehende Stollen und kräftige Seitenblöcke versuchen, das Beste beider Welten zu sichern.
Auf Speed angelegt: Die fein geblockte Mittelleiste sorgt laut WTB für Speed auf Asphalt und trockenen Waldwegen. Kein Matschreifen.