Peter Nilges
· 14.04.2016
Reifen im Plus-Format sind der neueste Hype in der Bike-Branche. Ist 27,5+ oder B+ nur Marketing oder Evolution? BIKE hat die aktuellen Größen objektiv in Labor und Praxis miteinander verglichen.
In der Bike-Industrie ticken die Uhren schneller. Während bei vielen Bikern noch nicht einmal 27,5 Zoll ins Bewusstsein gedrungen ist, drängt bereits ein neuer Trend in die Shops. 27,5-Plus, 27,5+, 650B+ oder kurz B+. Verschiedene Begriffe, doch gemeint ist immer dasselbe: Laufräder mit einem Durchmesser von 27,5 Zoll, gepaart mit breiteren Reifen um 3,0 Zoll.
Aus Angst, etwas zu verschlafen, will jeder Hersteller von Anfang an dabei sein. Auf umfangreiche Erfahrungen können die wenigsten zurückgreifen. Dem Bike-Hersteller fehlen oftmals die Testreifen oder Felgen, dem Reifenhersteller dagegen meist die entsprechenden Bikes zum Testen. Was das Optimum bei der neuen Plus-Breite ist, kann daher momentan noch niemand mit Sicherheit sagen.
Von der Idee her macht Plus absolut Sinn. Jeder, der bereits Erfahrungen mit einem Fatbike gesammelt hat, weiß, wie viel Traktion ein breiter Reifen mit wenig Luft bietet. Wer ein Fatbike gefahren ist, weiß jedoch auch, wie sich breitere und damit schwerere Reifen anfühlen. Träge, teigig, undefiniert und durch die fehlende Dämpfung bisweilen recht hoppelig. Nicht zu vergessen: der breitere Q-Faktor der Kurbeln, der so manchem Knie zusetzt.
Warum also nicht den Mittelweg, den goldenen, einschlagen? Was beim Laufraddurchmesser bereits durchexerziert wurde, vollzieht sich jetzt bei der Reifenbreite. Aus 26 und 29 Zoll wurde der Kompromiss 27,5 Zoll, aus den traditionellen Breiten um 2,2 Zoll und 4,8 Zoll beim Fatbike wird 3,0 Zoll. Semi-fat oder eben Plus, wie der Zusatz für die zusätzliche Breite heißt. Die Essenz aus beiden Kompromissen (Durchmesser und Reifenbreite) heißt damit 27,5+ oder auch B+. Zumindest schießen sich die meisten Hersteller auf dieses Maß ein. 29+ oder gar 26+ bietet der Markt ebenfalls in homöopathischen Dosen. Wir dürfen also gespannt sein.
Gewicht, Durchmesser, Reifenaufstandsfläche und Volumen – in den nakten Zahlen hebt sich das neue Plus-Format zum Teil deutlich von den bestehenden Größen ab und liegt vom Durchmesser je nach Ausführung näher an 29 oder 27,5 Zoll. Doch um den Plus-Reifen objektiv richtig auf den Zahn zu fühlen, hat BIKE zusätzlich alle relevanten Kriterien wie Rollwiderstand, Traktion, Fahrstabilität, Trägheit, Komfort und Pannenschutz in Labor- und Praxismessungen abgeklopft – mit überraschendem Ergebnis.
Gewicht
Wie nicht anders zu erwarten, belasten die 27,5-Zoll-Komplettlaufräder die Waage am wenigstens. Die 29-Zöller wiegen nur vier Prozent mehr, während die Plus-Kombination durch die breiteren Reifen und Felgen um 25 Prozent mehr bei Schwalbe (2,8" Breite) und ganze 44 Prozent mehr bei Specialized (3,0" Breite) auf die Waage bringt. Wird entgegen dem Testaufbau (alle Tubeless mit 100 ml Dichtmilch) ein Schlauch verwendet (208–284 g), fällt der Unterschied noch größer aus.
Reifenaufstandsfläche
Bei gleicher Belastung eines Reifens hängt die Aufstandsfläche (die Kontaktfläche mit dem Boden) lediglich von dem gefahrenen Luftdruck ab. Mit einem fahrbaren Luftdruck von 1,0 bar bei den Plus-Reifen und 1,5 bar bei den schmalen ergibt sich rechnerisch bei gleicher Karkassenflexibilität eine um 33 Prozent größere Auflage.
Volumen
Drei Liter trennen den Specialized 27,5er vom dicken Plus-Reifen. Bei Schwalbe beträgt der Unterschied lediglich 1,8 Liter. Der Vergleich zeigt, wie groß der Spielraum innerhalb der neuen Plus-Größe ist. Schwalbe-Plus und Specialized-Plus trennen ebenfalls ein Liter. Durch das große Volumen fühlen sich die Plus-Reifen auch bei niedrigem Druck relativ stramm an und sorgen für dicke Arme beim Pumpen.
FAZIT: In dem neuen Plus-Format steckt ohne Zweifel eine Menge Potenzial, wie unsere Tests belegen. Allerdings zeigen die Messungen auch, dass das Fahrgefühl und die Ausführung der Plus-Reifen extrem unterschiedlich sein können. Hätten wir die Tests nur mit dem deutlich schmächtigeren und wenig dämpfenden Schwalbe-Plus-Reifen gemacht, würde das Fazit lauten: Es gibt kaum Nachteile hinsichtlich Gewicht, Trägheit, und Rollverhalten, dafür hebt sich die Traktion aber auch nicht entscheidend von einem guten 29er-Reifen ab. Mit dem schweren und deutlich besser dämpfenden Specialized-Plus-Reifen als anderem Extrem müsste das Fazit lauten: Plus-Reifen bieten einen spürbaren Gewinn an Traktion, Komfort und Sicherheit, beschneiden aber deutlich die Agilität eines Bikes. Auf Grund der Dimension der neuen Plus-Reifen fallen die Unterschiede in Sachen Reifenaufbau und Gummimischung noch stärker ins Gewicht als bislang. Wo das Optimum hinsichtlich der Reifen- und Felgenbreite, des Außendurchmessers und der Gummimischung liegt, muss sich aber erst, wie bei allen Neuheiten, noch herauskristallisieren.
Ebenfalls stellt sich die Frage, für wen das neue Reifenformat eine echte Bereicherung ist. Da sich die Plus-Bikes optisch deutlich von einem normalen Bike abheben, lässt sich die Neuerung gut vermarkten. Ob aber wirklich jeder Touren-Fahrer einen Nutzen aus mehr Traktion und damit Sicherheit ziehen kann, dafür aber mehr Gewicht mitschleppen muss, hängt stark von dem jeweiligen Einsatzbereich und den persönlichen Anforderungen an ein Bike ab. Denn, auch wenn die Reifentechnologie weiter voranschreitet, werden breite Reifen immer schwerer als schmale bleiben. Zudem ist die durch Reifenfreiheit und Einbaubreite der Naben fehlende Kompatibilität mit bestehenden Bikes ein echter Kritikpunkt für das neue Plus-Format.
Peter Nilges BIKE-Testredakteur: "Nüchtern betrachtet sammelt der Plus-Reifen in den gleich gewichteten Testkriterien die meisten Punkte. Kommen weitere Punkte wie Gewicht oder höhere Ansprüche hinsichtlich der Fahrdynamik hinzu, bröckelt der Vorsprung der Plus-Reifen. Fraglich bleibt auch, ob wirklich Reifenbreiten bis 3,0 Zoll nötig sind, da viele Biker das volle Potenzial der gängigen Reifen noch überhaupt nicht ausschöpfen. "
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