Christian Artmann
· 28.11.2016
Boost gehört zu den großen Trends der Saison. Doch was genau steckt hinter dem neuen Standard? Und was bringt Boost 148 wirklich?
Seit die Urväter des Mountainbikens mit ihren Klunker-Rädern die Trails des Mt.Tamalpais hinuntergerast sind, ist eine Menge passiert. Kaum einer wird anzweifeln, dass sich Bikes heute um Welten besser und sicherer fahren als noch vor zehn Jahren. Neben großen Innovationen bei den Anbauteilen – bei Federelementen, Scheibenbremsen oder Reifen – gab es auch einen dauernden Fluss der sich ändernden Standards. Das Steuerrohr hat viele Wechsel erlebt, ehe es bei der heute gängigen konischen Form angekommen ist. Das Tretlager scheint noch immer in der Findungsphase zu stecken. Nur ein Standard ist über all die Jahre unangetastet geblieben – die Breite der Naben.
Egal, wie sehr die ständig wachsenden Ritzelpakete sowie die hinzukommenden Scheibenbremssockel den Platz an der Nabe eingeengt haben – hier hat sich kaum etwas getan. Zwar gab es in den letzten fünf Jahren den Wechsel vom Schnellspanner hin zu Steckachsen. Aber die effektive Baubreite und alle damit verbundenen Maße (Flanschabstand, Kettenlinie) sind gleichgeblieben. Auch wenn die Zahlen etwas anderes suggerieren, ist eine 135x5-Hinterradnabe genau gleich aufgebaut und genauso breit wie eine 142x12-Nabe. Das zeigt sich schon daran, wie einfach sich die meisten modernen Laufräder zwischen den Standards umrüsten lassen. Doch mit den immer besser werdenden 29er-Bikes wuchs der Leidensdruck stetig an. Sowohl bei der Laufradsteifigkeit als auch der Rahmenkonstruktion wurden die Kompromisse immer offensichtlicher.
Da ist es schon fast verwunderlich, dass der neue Boost-Standard, der genau diese Themen angeht, wahre Kritiktiraden auslöst. Klar, Veränderung tut weh, und jeder neue Standard muss sich zuerst einmal bewähren. Aber in einer Zeit, in der Biker kontinuierlich mit immer neuen Standards bombardiert werden, ist die Ablehnung sicher auch darin begründet, dass viele gar nicht wirklich wissen, womit sie es bei Boost überhaupt zu tun haben. Deswegen haben wir uns das Thema genauer angesehen und erläutern auf den nächsten Seiten alles, was man über den neuen Standard Boost wissen sollte. Und für alle Traditionalisten bleibt vorerst der beruhigende Trost: Der neue Standard betrifft fast nur die Riege der langhubigen 29er und der Plus-Bikes. Vorerst zumindest.
DIE INITIATOREN - Interview mit Anatol Sostmann und Chris Hilton
Antwort von Anatol Sostmann, Trek-Marketing-Manager:
Boost hatte am 2014er-Remedy 29er seinen ersten Auftritt. Wie kam das?
Aus dem 2013er-Remedy haben wir gelernt, dass ein solches Twentyniner steifere Laufrädern braucht. Also haben wir uns auf die Suche gemacht, wie man deren Steifigkeit mindestens auf das Niveau des 27,5-Zoll-Formats anheben kann. Die einzige Vorgabe war, dass wir das mit dem bisherigen Q-Faktor realisieren wollten.
Ging es dabei nur um die Steifigkeit?
Ja, zuerst war unser einziges Ziel die steiferen Laufräder. Dann haben wir festgestellt, dass mit Boost weitere Effekte erzielt werden können, um die 29er noch agiler und verspielter zu machen. So erlaubt Boost, die Hinterbauten unserer 29er deutlich kompakter zu konstruieren.
Warum findet man Boost nur bei den 29ern?
Boost wurde geboren, um unsere 29er zu optimieren. Dort ist der Nutzen deutlich spürbar. Bei Boost für kleinere Laufräder sehen wir das Kosten/Nutzenverhältnis noch nicht als ideal an.
Chris Hilton, Sram – Produktmanager Antriebe:
Welche Vorteile hat Boost?
Boost bringt in erster Linie neue konstruktive Freiheiten. Damit lassen sich einfach bessere Bikes bauen – mit mehr Reifenfreiheit, wie beispielsweise Plus-Bikes. Bikes mit steiferen und kompakteren Hinterbauten, aber auch mit optimal platzierten Drehpunkten. Den Weg haben wir mit unseren 1x11-Antrieben bereits eingeschlagen und verfolgen ihn mit Boost konsequent weiter. Der Q-Faktor bleibt dabei unangetastet, weil sich bei unseren Boost-Kurbeln nur die Spider oder das Kettenblatt ändert, nicht aber die Kurbelarme selber. Dabei ist es wichtig, nie Standards zu mischen. Boost macht nur als Ganzes und mit einem passenden Boost-fähigen Rahmen wirklich Sinn.
Was bringt Boost bei den Laufrädern?
Die zusätzliche Steifigkeit durch den Einsatz von Boost-Naben ist enorm – nach unseren Messungen zwischen 17 und 33 Prozent. An der Front spürt man die zusätzliche Steifigkeit durch die zehn Millimeter mehr als am Heck mit nur sechs zusätzlichen Millimetern.
Cristian Artmann – Bike-Testredakteur
Ich halte Boost für einen Schritt in die richtige Richtung. Mit dem längst überfälligen konstruktiven Lösungsansatz geht man gleich mehrere Probleme an – steifere Laufräder, mehr Reifenfreiheit und mehr Optionen bei der Konstruktion neuer Rahmen sind für mich gute Argumente. Meine bisherigen Erfahrungen mit Boost-Bikes bestätigen den Nutzwert. Ich frage mich aber, ob ein unangetasteter Q-Faktor es wirklich wert ist, hinten nur einen Teil des Weges zu gehen. Eine wenige Millimeter breitere Kurbel würde man kaum merken, und die technischen Vorteile ließen sich noch besser nutzen. Ich meine: Boost ist mehr Nutzwert als Hype!
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Etwas breiter bitte: Der neue Boost-Standard betrifft Naben und Kurbel und lässt sich nicht an einem herkömmlichen Bike nachrüsten. Hinterbau und Gabel müssen für die gewachsene Einbaubreite vorgesehen sein. Mehr Steifigkeit und Reifenfreiheit sind das Ziel.
Boost an sich ist nicht viel mehr als ein für alle offener Standard, den Sram und Trek zusammen entwickelt haben. Dabei wächst die Hinterradnabe in ihrer Baubreite von 142 auf 148 mm und die Vorderradnabe von 100 auf 110 mm Breite an. Gleichzeitig wandert die Kettenlinie weiter nach außen, weshalb Boost gleichzeitig Anpassungen an Kurbeln bzw. Kettenblättern notwendig macht. Die Kurbelbreite (Q-Faktor) bleibt jedoch unverändert.
Für viele Biker sind "Boost-Standard" und "Plus-Reifen" austauschbare Begriffe. Warum?
Es ist kein Zufall, dass Boost als Standard und Plus-Bikes zeitgleich aufgetreten sind und deswegen oft gleichgesetzt werden: Mit Boost schafft man an vielen Plus-Bikes erst den notwendigen Platz für die drei Zoll breiten Plus-Reifen. Es gibt aber auch plusfähige Bikes, die zumindest hinten ohne Boost auskommen (z. B. Last Fast Forward). Deswegen: Beim Antrieb ist Boost durch den gewonnenen Platz prädestiniert für Plus-Bikes. Es ist aber keineswegs der einzige Weg. An der Gabel ist Boost allerdings ein echtes Muss für die Plus-Bikes. Nur die junge Generation der Federgabeln mit 110 mm Achsbreite bieten genug Raum zwischen den Holmen für die bis zu drei Zoll breiten Reifen. Die bisherigen Gabeln bauen dafür einfach zu schmal.
Boost will gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Steifere Laufräder und mehr Platz im Tretlagerbereich, wo es vorher extrem eng wurde. Wie viel macht das aber wirklich aus?
Durch die breiteren Naben kann man die Laufräder steifer und – wenn man den Herstellern glaubt – auch haltbarer bauen. Die Steifigkeit beruht in erster Linie auf dem größeren Flanschabstand der Naben, mit dem man den Speichenwinkel vergrößert. Unsere Vergleichsmessung an einem Sram-Roam-40-Laufradsatz (siehe Grafik unten) bestätigt das. Mit Boost erreichen die zum Teil als zu weich kritisierten 29er-Laufräder nur vorne das Steifigkeits-Niveau vergleichbarer 27,5er-Laufräder. Hinten erhöht sich die Steifigkeit zwar um zehn Prozent, hinkt aber trotzdem noch hinter den Werten des 27,5er-Pendants hinterher. Der zweite Vorteil ist, dass durch die größere Kettenlinie an der Kurbel im chronisch beengten Tretlagerbereich mehr Platz zur Verfügung steht. Der kann auf unterschiedliche Weisen genutzt werden: Einmal, um die Hinterbauten kompakter zu konstruieren, siehe Beispiel rechts. Oder, um die Reifenfreiheit zu maximieren, wie etwa für Plus-Bikes, siehe Punkt 2. Zusätzlich kann man den durch Boost gewonnenen Bauraum auch nutzen, um den Hinterbau steifer zu machen – etwa durch den Einsatz größerer Lager oder eine breitere Abstützung.
Anders als beim Umstieg von Schnellspanner auf Steckachse sind Boost-Rahmen und -Komponenten nicht mehr mit den bisherigen Standards kompatibel. Eine Umrüstung aktueller Rahmen auf Boost-Laufräder ist nicht oder nur mit einem neuen Hinterbau möglich. Erste Adapterlösungen erlauben es zwar auch, Standardlaufräder auf Boost-Rahmen/-Gabeln zu fahren, der Nutzwert ist hier allerdings fraglich. Daher: Wer sich ein Bike mit Boost aufbauen will, braucht neue Laufräder bzw. Naben und muss die Kurbel anpassen. Ansonsten ist Boost weniger ein Umbauthema als eines, das vor allem beim Bike-Neukauf und dort vorerst fast nur bei All-Mountain-29ern wichtig ist.
Der auch 150x12 genannte Downhill-Standard hat in Wirklichkeit einen Achsabstand von 157 Millimetern. Um die gegenüber der bisherigen 142 mm breiten Nabe zusätzlichen 15 mm im Rahmen unterzubringen und auch weiterhin eine praktikable Kettenlinie zu erhalten, müsste man auch Kurbeln mit einem breiteren Q-Faktor einsetzen. Gerade für die CC- und Ausdauerfraktion unter den Bikern ein sensibles Thema, weshalb der unveränderte Q-Faktor ja auch eine der Zielvorgaben für Boost war. Nach Aussage von Sram stellt die 52-mm-Kettenlinie von Boost die breitest mögliche Nabenkonstruktion dar, bei der man noch ohne eine Änderung des Q-Faktors auskommen kann.
Die Vorlage von Sram ist eindeutig: Die Nabenflansche und damit die gesamte Baubreite der Naben rücken um jeweils gleiche Beträge auf beiden Seiten nach außen – hinten um 3 mm und vorne um 5 mm pro Seite. Doch es gibt auch Ansätze, die zusätzliche Breite anders zu nutzen.
Der US-Laufradproduzent setzt bei seinen Boost-Naben auf mehr Symmetrie im Laufrad, oder besser, auf ausgeglichene Speichenwinkel und -spannungen zwischen den beiden Seiten. "Mit der üblichen Interpretation von Boost erhält man zwar ein statisch steiferes Laufrad, behält aber die ungleiche Speichenspannung bei. Die Dauerhaltbarkeit leidet. Ist das Laufrad symmetrisch, nimmt die statische Steifigkeit zwar weniger zu, dafür kann man Speichenwinkel und -spannung nun auf beiden Seiten angleichen. Der positive Effekt daraus ist in der Praxis stärker spürbar und sorgt außerdem für ein haltbareres Laufrad", erklärt Bill Shook von American Classic. Deswegen ist bei der eigenen Boost-Hinterradnabe nur die Disc-Aufnahme 6 mm weiter nach außen versetzt. Die in Folge neu zentrierte Felge ergibt ein fast perfekt symmetrisches Laufrad. Vorne nimmt man sogar das Standardnabengehäuse und spacert die Nabe nur nach rechts aus – mit dem gleichen symmetrischen Ergebnis.
Bei Syntace/Liteville denkt man den Ansatz von Boost mit dem offenen Standard EVO6 noch weiter. Das Ganze basiert auf der Baubreite von Boost und nutzt eine asymmetrische Hinterbaukonstruktion für die Laufradsymmetrie. Ähnlich, wie schon beim Cannondale-Hardtail FS-I, braucht es dafür aber spezielle Rahmen, die bisher nur Liteville baut. Anstatt auf jeder Seite 3 mm breiter zu gehen, wird bei EVO6 die Hinterradnabe und damit auch die Kettenlinie um volle 6 mm nach rechts verschoben. So kann man das Laufrad wieder symmetrisch aufbauen und gleichzeitig die komplette zur Verfügung stehende Abstützbreite der Boost-Naben für die Laufradsteifigkeit nutzen. "Die gegenüber Boost um 3 Millimeter verschobenen Kettenlinien kompensieren wir mit den geringen Fertigungstoleranzen und einer hohen Hinterbausteifigkeit unserer Bikes. Wir haben EVO6 lange und ausgiebig getestet und keine Nachteile festgestellt", verspricht Jo Klieber von Syntace/Liteville.