Zwischen grünen Wiesen und den Westalpen liegt im noch nicht ganz erschlossenen Gewerbegebiet in der Nähe der Schweizer Grenze, am Rande von Annecy, der Firmenneubau des französischen Unternehmens Mavic. Von außen betrachtet schaut es gut aus. In den Fenstern spiegelt sich die idyllische Natur. Auf den Parkplätzen vor dem Gebäude stehen mehrere signalgelbe Serviceautos.
Mühelos kann man von unten bis in den obersten Stock spähen. Die riesigen Büros sind spartanisch eingerichtet: Neben einem langen Schreibtisch, an denen die Mitarbeiter vor ihren Computer-Bildschirmen sitzen, schmücken Kartons und Zimmerpflanzen die Räume. Durch die bodentiefen Fenster hat man mit Sicherheit einen tollen Blick auf die Umgebung. Ein Zettel am Empfangstresen fordert uns auf, uns per Whatsapp anzumelden.
Im Treppenhaus springt uns ein Rad an der Wand direkt ins Auge. Radsportfans wissen, dass es sich hier nicht um ein X-beliebiges Rennrad handelt. Mit dem Lotus wurden in den 1990ern von Zeitfahr-Spezialist Chris Boardman Geschwindigkeitsrekorde gebrochen. Warum das schwarz-gelbe Rennrad hier hängt? Es ist von Laufrädern bis Lenker mit Mavic-Komponenten ausgestattet. Das Lotus ist nur einer der unzähligen Meilensteine der Marke.
Mavic-Felgen und -Laufräder konnte man über Generationen hinweg an etlichen Rädern von Radsportlern finden. Bei der Entwicklung des Rennrades spielte die Erfindung der elektronischen Schaltung sowie des Systemlaufrads eine entscheidende Rolle. Trotzdem hatte das Unternehmen nicht immer wirtschaftlichen Erfolg. Internationale Bekanntheit erlangte der Komponentenhersteller jedoch durch seinen neutralen Rennservice bei der Tour de France. Die angesprochenen gelben Autos begleiteten die Rennradprofis seit 1973.
Verantwortlicher für die Außenwirkung der Marke ist Michel Lethenet. Mit fast 25 Jahren Erfahrung ist der PR-Manager eine Institution auf seinem Posten. Glückwünsche zum Einzug wollte er nicht entgegennehmen: “Bitte nicht wundern, wir wurden schon immer größer wahrgenommen, als wir sind.“ Das gelte für so ziemlich alle Bereiche im Unternehmen. Von der Mitarbeiterzahl, über Umsätze bis hin zur Marktmachtstellung scheint das Unternehmen größer, als es in Wirklichkeit ist. „Wegen der Präsenz denken viele, wir wären ein Weltkonzern.“
Nicht die schlechtesten Voraussetzungen für seinen Job. Die Marke war ein regelrechter PR-Selbstläufer. Anlässlich des 50. Jubiläums möchte man meinen, dass die Stimmung auf Grund der fehlenden Präsenz der gelben Autos bei der Tour de France bescheiden war. Lethenet würde es rückblickend jedoch als Glück bezeichnen, dass die neutralen Ersatzrennräder und Hunderte Laufräder von Mavic in der Garage geblieben sind.
Zwar war die Abgabe der Tour de France ein echter Schock, jedoch nur der Anfang einer Odyssee, die die Mitarbeitenden auf eine harte Probe stellen sollte. Ein Jahr später dann die Hiobsbotschaft: Der milliardenschwere finnische Mutterkonzern Amer Sports kündigte den Verkauf seiner Mavic-Anteile an. Danach liefen die Dinge aus dem Ruder.
Lethenet redet sich bei einem Kaffee sichtlich die anstrengenden Jahre von der Seele. In seiner beruflichen Laufbahn habe es einige unternehmerische Fehlentscheidungen gegeben, die er vertreten musste. Jedoch stellte das, was auf 2019 folgte, auch für ihn eine neue Herausforderung dar. Wie es dazu kommen konnte, dass die einst als unantastbar geltende Traditionsmarke zum Spielball undurchsichtiger Finanzrochaden wurde, lässt sich nicht umfänglich ermitteln .
Der PR-Manager vermittelt uns die Brisanz bildlich: „So knapp“, er führt Daumen und Zeigefinger so dicht aneinander, dass nur noch ein Blatt Papier dazwischen passt, „und wir wären komplett von der Landkarte getilgt worden.“
Dann wird es undurchsichtig: eine US-amerikanische Scheinfirma hatte die Finger im Spiel, Unternehmenszahlen wurden verschleiert. Ein Mitarbeiterrat wurde gegründet und behördliche Verfahren eingeleitet. Aufsichtsbeamte und Insolvenzverwalter inspizierten das Unternehmen. Viele jüngere Mitarbeiter haben freiwillig gekündigt, Abteilungen,die jedoch noch über wertvolles Know-how verfügen, wurden halbiert.
Lethenet blieb. Er ist seit jeher der Einzige auf seinem Posten und scherzt, dass er fürs Halbieren nicht groß genug sei. Doch während er spricht, merkt man, dass es hier um mehr als nur ein Business geht. Die Marke Mavic ist sein Leben - genauso wie das vieler seiner Kollegen.
Mehrmals klopft Lethenet auf den Tisch, denn für die rund hundert Mitarbeiter, die gerettet werden konnten, endete das nervenaufreibende Warten mit einem erfolgreichen Verkauf und Mitspracherecht. Die neuen Eigentümer, ein Brüderpaar aus Frankreich, sind ideale Partner und scheinen es ernst zu meinen. Sie haben das Team vergrößert, eine neue Infrastruktur geschaffen und eine vorübergehende Produktionslinie im neuen Gebäude eingerichtet.
Ein Premium-Leichtbau-Laufrad, das Cosmic Carbone Ultimate, wird hier nahezu geräuschlos produziert. Sebastien Lejeune, der 32-jährige Produktionsingenieur, erklärt, dass dies an der überwiegend praktizierten Handarbeit läge. Die Mitarbeiter schaffen pro Tag 10 Laufräder. Besonders wichtig ist Lejeune ein Kärtchen, das an die Laufräder gebunden wird: Manufacturé en France - hergestellt in Frankreich. Damit das Schildchen nicht nur an den Laufrädern hängt, sondern an allen Produkten, sollen in Zukunft Millionen investiert werden. Und nicht nur hier: Auch am historischen Standort Saint-Trivier-sur-Moignans.
Auf unserem Weg dorthin hören wir viele interessante Geschichten über Mavic: Zum Beispiel die Geschichte der gelben Mavic-Flugzeuge, die bei der Rad-WM 1985 über dem italienischen Montello flogen und den WM-Hauptsponsor und Erzrivalen Campagnolo verärgerten. Oder die Geschichte von Mavic und Look, die als erste westliche Ausrüster die chinesische Bahnmannschaft ausstatteten. Mavic war fast immer zur richtigen Zeit am richtigen Ort und hat sich immer wieder neuen Herausforderungen gestellt. Es gibt kaum ein Fahrradprodukt, auf dem nicht der Schriftzug von Mavic zu finden ist.
Mavics neustes Produkt ist ein E-Motor für Rennräder. Man ist im Moment auf der Suche nach Partnern für die Prototypen. Ein „Neverending Start-up“: So beschreibt Lethenet das Unternehmen. Dieser Claim passt seit der Firmengründung vor über 130 Jahren und gilt noch heute.
Der Standort Saint-Trivier-sur-Moignans ist das komplette Gegenteil zu Annecy: In trostlosen Baracken schlägt das industrielle Herz von Mavic. Seit 1966 findet hier die Verarbeitung von Aluminiumprofilen statt. Der Geruch von Öl und Aluminium füllt die Luft. Die Geräuschkulisse ist unüberhörbar.
Rodolphe Burnichon ist hier Standortleiter. Seit fast 30 Jahren sind diese Hallen das zweite Zuhause für den Endvierziger. Da die Auslastung der Produktion grade nur bei einem Drittel liege, sei da noch Luft nach oben, meint Burnichon. Er erklärt uns routiniert die einzelnen Produktionsschritte, vom Strangprofil bis zur Fertigfelge. Und führt aus, wie sie durch patentierte Verfahren das Verhältnis von Gewicht und Stabilität bei Aluminiumringen optimiert haben.
Anschließend zeigt er auf leere Flächen: “Hier wollen wir Laufräder montieren. Alles soll hier passieren.” Zwei große Fräsmaschinen im Nebenraum liefern schon mal einen Vorgeschmack. Bald soll hier die Carbon-Produktion aus Annecy stattfinden.
Im Dachgeschoss findet man Büros und Besprechungsräume. Die Produktionsgeräusche dringen bis ganz oben. Nach knapp 50 Jahren soll auch hier Geld investiert werden. Bevor die Handwerker antreten, müssen Burnichon und Lethenet jedoch noch einige Kisten befüllen. Von Materialien über Prototypen bis hin zu Bildern - die beiden haben Erfahrungen damit gemacht, wie schnell etwas bei einem Umzug verloren gehen kann.
Vor über 130 Jahren, im Jahr 1889, nahm die Geschichte von Mavic seinen Lauf, als die Marke in Lyon aus einem Vernickelungsbetrieb (AVA) hervorging. Chef beider Marken war Bruno Gormand. Nachdem Mavic mit Spielzeugautos und Schutzblechen anfing, folgte 1934 die Alu-Felge die fortan das Hauptgeschäft des Unternehmens bildetete. Parallel entwickelte das Unternehmen weitere Fahrradkomponenten, wie Antriebe und Pedale. 1985, nach dem Tod des Gründersohns, wurde Mavic interimistisch von Mitarbeitern geführt, bis das Unternehmen Salomon die Marke 1994 aufkaufte.
Ab 2005 gehören beide Marken zusammen mit Atomic, einem Ski-Hersteller, sowie Suunto, einem Elektronik-Anbieter, zur finnischen Amer-Sports-Gruppe. Der Firmensitz wurde nach Annecy verlegt. Mavic hat sich auf die Entwicklung von Systemlaufrädern für Rennräder und Mountainbikes spezialisiert und erweiterte sein Produktangebot um Radcomputer und eine Bekleidungslinie. Im Jahr 2019 verkaufte Amer Sports seine Anteile an die US-Investmentfirma Regent LP. Der Verkauf wurde jedoch nach Einspruch der Mitarbeiter von den französischen Behörden gestoppt. Seit 2021 ist die französische Bourellier-Gruppe der neue Besitzer.