Christian Artmann
· 17.05.2015
Die anhaltende Diskussion um Laufradgrößen und der jüngste Fatbike-Trend hat Räder und Reifen ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. BIKE erklärt, wohin die Reise in der nahen Zukunft gehen könnte.
Nichts beeinflusst die Performance eines Mountainbikes so nachhaltig wie das System Laufrad/Reifen. Nur 80 bis maximal 120 Quadratzentimeter verbinden Vorder- und Hinterrad mit dem Boden. Doch genau auf dieser Fläche laufen alle Kräfte zusammen, die Bike und Biker in ihrer Fortbewegung beeinflussen: Antriebs-, Lenk-, Brems- und sogar Stoßkräfte. Dennoch haben Laufrad und Reifen in den letzten Jahren nicht so recht im Zentrum der Entwicklungsarbeit gestanden. Das hat sich jedoch mit dem Aufkommen der Diskussion um die Laufradformate geändert. Plötzlich wurden wieder vermehrt grundsätzliche Fragen gestellt: Wie funktioniert das System Laufrad/Reifen eigentlich im Gelände? Warum fahren sich 29er und Fatbikes so anders? Müssen 29er-Laufräder zwangsläufig Kompromisse in der Steifigkeit eingehen? Wieso wurden früher Reifendrücke unter 2 bar als unfahrbar abgetan? Wenn grundsätzliche Fragen ernsthaft gestellt werden, geraten immer wieder Dogmen ins Wanken. Nabenstandards werden ebenso in Frage gestellt wie Reifenbreiten und Felgenkonstruktionen. Am Ende stehen oft ganz neue Denkansätze. Manche davon sind sogar schon etwas älter, konnten sich in der Vergangenheit aber nicht durchsetzen. Syntace zum Beispiel hat die Diskussion um breitere Felgen schon vor fünf Jahren angestoßen – erst jetzt scheint die Zeit dafür reif zu sein, dass solche Ideen auf breitere Akzeptanz treffen. Andere Konzepte wie Fatbikes oder die Plus-Formate, also 2,8 bis 3,0 Zoll breite Reifen (s. BIKE 10/2014), sind noch taufrisch, produzieren aber jetzt schon verblüffende Ergebnisse – wie unter anderem unser Fatbike-Test in dieser Ausgabe zeigt. Doch auch ganz neue Ideen sind erlaubt. Schwalbe und Syntace haben eben erst mit Procore ein Doppelkammersystem für MTB-Reifen vorgestellt – ein Konzept, dessen Potenzial wir im Innovations-Check auf Seite 110 genauer unter die Lupe nehmen.
Ob wir alle in ein paar Jahren mit 50 Millimeter breiten, einwandigen Carbon-Felgen unterwegs sein werden, dazu Doppelkammerreifen mit 2,8 Zoll Breite – wer will das heute wissen? Klar ist dagegen, dass sich die Branche in einer Art Aufbruchstimmung befindet, dass sich Konstrukteure und Produkt-Manager bereit zeigen, die Paradigmen der Vergangenheit zu hinterfragen. Die nächsten Seiten erbringen den Beweis dafür.
Die Entwicklungen, die für die nähere Zukunft richtungsweisend sein könnten.
1. PLUS-Formate
Sei es in 26", 27,5" oder 29" – für jedes Format gibt es bereits Produkte, die einen "goldenen Mittelweg" in Sachen Reifenvolumen suchen. Anfangs als komplett eigener Standard eingeführt, mit speziellen Rahmen und Gabeln, sind die Plus-Formate mittlerweile auch auf ihre Kompatibilität mit bestehenden Bauteilen hin konzipiert und damit eine echte Nachrüstoption.
2. Fatbikes light
Der Name sagt es eigentlich schon: Fatbikes sind schwer. Während die Geometrien und das Handling oft schon in Richtung Trailbike gehen, ist gerade der Faktor "Beschleunigung" und "rotierende Masse" noch ein echter Hemmschuh. Doch Tubeless und Leichtbau bieten erste Lösungsansätze.
3. Immer breitere Felgen
Betrugen vor ein paar Jahren die Innenweiten der meisten Felgen noch 17 bis 21 Millimeter, zeigt der Trend momentan Richtung 30 Millimeter. Das Gros der aktuellen Modelle rangiert zwischen 21 und 26 Millimetern – die extremeren Vertreter schaffen es bereits auf über 30 Millimeter.
BIKE: Wo siehst Du blinde Punkte in der Bike-Entwicklung?
Lutz Scheffer: Bisher ging es vorrangig ums Bike-Fahrwerk sowie die Kontaktpunkte zum Fahrer. Reifen und Laufräder hat man oft als pure Randerscheinungen betrachtet. Dabei ist der Reifen nicht nur der einzige Kontaktpunkt vom Bike zum Boden. Er kann auch als Federungskomponente viel leisten. Gerade weil die Reifenfederung fast ohne Trägheit und ungefederte Masse arbeitet, ist sie in Sachen Feinfühligkeit allen normalen Federelementen überlegen.
Wo geht der Weg Deiner Meinung nach hin?
Einen Lösungsansatz sehe ich in Fatbikes, die viele der Anforderungen besser erfüllen als die gängigen Mountainbikes. Nehmen wir die Traktion: Bei niedrigem Luftdruck hat man damit eine erheblich größere Kontaktfläche. Auch was Linienwahl und Grenzbereich angeht, sind solche Reifen um Welten gutmütiger. Und selbst von deren Leichtlaufeigenschaften bin ich sehr positiv überrascht.
Aber wie steht es dabei mit der rotierenden Masse?
Ja, hier müssen die Gewichte noch deutlich runter, damit auch das Handling stimmt. Für die nahe Zukunft räume ich leichten 3-Zoll-Reifen mit etwa 1 bar Druck auf 27,5er-Felgen große Chancen ein, und zwar für sämtliche MTB-Kategorien.
"Ich bin überzeugt – in ein paar Jahren wird das, was wir heute als extrem breite Felgen bezeichnen, die Norm sein." Scott Nicol (Ibis)
Kein Trend ist so neu, dass er sich nicht irgendwann in der Geschichte wiederholt. Während der Anfänge des Mountainbike-Sports waren die Reifen nur selten über 2,0 Zoll (ca. 50 mm) breit, die Felgen aber hatten oft Maulweiten um 25 Millimeter. Ein Breitenverhältnis von 1:2 also. Dann ließ der Ruf nach leichteren Laufrädern die Felgen immer schmaler werden. Etwas zeitversetzt begannen dann auch noch die Reifen in ihrer Breite zu wachsen – zuerst nur auf 2,1 Zoll, dann auf 2,2 Zoll, und mittlerweile fährt man kaum noch unter 2,3 Zoll breite Pneus. Bei einer Felge mit 17 Millimetern Innenbreite ergibt das bereits ein Größenverhältnis von 1:3. Solange man mit stabilisierenden Schläuchen und hohen Drücken unterwegs war, blieb dieses Ungleichgewicht noch relativ unproblematisch. Aber seit dem Einzug der Schlauchlos-Technologien geht der Trend auch zu immer niedrigeren Drücken. Damit wurde das Breitenverhältnis von Reifen zu Felge kritisch. Die Vorzüge niedriger Drücke musste man sich mit schwammigem Fahrgefühl und unter Umständen sogar mit plötzlichem Druckverlust erkaufen – oder eben weiterhin mit 2,5 bar über die Trails holpern. Jo Klieber, Mastermind von Syntace, war einer der Ersten, der dieses Problem erkannte und sich die Lösung auf die Agenda schrieb. Bereits 2009 fuhr er auf Felgen mit 33,5 Millimetern Innenweite. Doch die Erkenntnis brauchte ihre Zeit, bis sie zum anerkannten Trend wurde. Erst jüngst zogen auch andere Hersteller nach und bieten nun Felgen in diesen Dimensionen an.
Breite Reifen ergeben auf schmalen Felgen eine Art "Glühbirnen-Querschnitt" (im Bild rechts). Die Reifen brauchen hohe Betriebsdrücke, um in Schräglage oder bei seitlicher Belastung nicht zur Seite abgelenkt zu werden. Bei noch stärkeren Belastungen knickt der Reifen seitlich weg bzw. die Reifenwulst wird aus dem Bett gehebelt – im Schlauchlosbetrieb sehr oft die Ursache für plötzliche Luftverluste (Burping). Im schlimmsten Fall springt der Reifen sogar von der Felge. Breite Felgen (im Bild links) stützen die Reifenkarkasse deutlich besser ab und halten den Reifen auch bei niedrigen Drücken stabil.
Achtung: Nicht jeder Reifen harmoniert mit breiten Felgen! Während breitere Felgen in Normallage grundsätzlich die Traktion fördern, hängt das Kurvenverhalten stark vom Reifenquerschnitt ab. Rundliche Querschnitte werden durch breite Felgen meist noch gutmütiger, ohnehin schon eckige Reifenprofile können mit sehr breiten Felgen zum Teil recht "eigenwillig" werden.
Das Diagramm zeigt, wie die Felgenbreite die noch fahrbaren Reifendrücke beeinflusst – hier für einen durchschnittlich schweren Fahrer (80 kg) mit Reifen um 2,3 Zoll Breite. Insbesondere sehr breite Felgen mit Innenweiten von über 25 mm lassen sich noch bei Drücken fahren, bei denen der Durchschlagschutz bereits kritisch ist. Das Potenzial sehr breiter Felgen muss daher teilweise ungenutzt bleiben, oder man braucht Kunstgriffe wie besondere Reifenkonstruktionen oder das Procore-Doppelkammersystem von Schwalbe.
Für eine optimale Performance, vor allem im Schlauchlosbetrieb, sollten Reifenbreite und Felgeninnenbreite grob zusammenpassen. Im Zweifelsfall aber lieber eine etwas zu breite als eine zu schmale Felge wählen:
1,9" – 2,1"-Reifen --> 19 – 23 mm*
2,0" – 2,3"-Reifen --> 23 – 27 mm*
2,2" – 2,5"-Reifen --> 27 – 30 mm*
> 2,4"-Reifen --> ab 29 mm*
*Wegen der stabilisierenden Wirkung, kann man mit Schlauch auch etwas schmalere Felgen fahren.
+ Bei gleichem Druck bereits spürbar mehr Komfort durch größeres Luftvolumen (alternativ: Man kann bei breiteren Felgen eine Reifengröße kleiner fahren)
+ Höherer Grip durch größere Kontaktfläche zum Boden (insbesondere in Verbindung mit geringerem Druck)
+ Bessere Führung des Reifens (= präzisere Lenkung) bei niedrigeren Betriebsdrücken, ohne schwammig zu werden oder den Reifen wegknicken zu lassen (Vorsicht: an ausreichenden Durchschlagschutz denken!)
+ Weniger Gefahr von plötzlichem Luftverlust (Burping) auch bei niedrigen Drücken
+ Die größeren Felgenquerschnitte kommen der Laufradsteifigkeit zugute
– Breite Felgen sind bei gleicher Bauart entweder schwerer als schmalere, oder sie sind bei gleichem Gewicht anfälliger gegen Dellen und Defekte
Durchschlagschutz: Auch hier ergeben die Messungen, dass die Felgenbreite keinen direkten Einfluss auf den Durchschlagschutz hat. Wieder ist allein der Reifendruck ausschlaggebend. Genau deswegen scheinen breite Felgen aber auch öfter Durchschläge zu haben, weil man mit ihnen eben gerne mit niedrigeren Drücken fährt, bei denen der Durchschlagschutz bereits zu schwach ist.
Rollwiderstand: Die bestehenden Messungen auf den Prüfständen der Reifenhersteller wie auch eigene Rollversuche zeigen keinen relevanten Einfluss der Felgenbreite auf den Leichtlauf eines Reifens – bei gleichem Luftdruck wohlgemerkt. Dafür ist der Einfluss des Luftdrucks deutlich messbar und vielfach belegt. Und weil im Gelände ein Reifen mit niedrigem Luftdruck eben auch schneller rollt, hat die Felgenbreite – und zwar über die Möglichkeit, niedrigere Drücke zu fahren – dann eben doch wieder indirekt Einfluss auf den Rollwiderstand.
Der Trend weg von den ultraschmalen Felgen mit 17 bis 19 Millimetern Innenweite, die eher für Reifen bis 2,0 Zoll geeignet sind, ist schon bei fast allen Herstellern vollzogen. Aber den Schritt hin zu wirklich breiten Felgen mit Maulweiten über 25 mm sind bisher nur einige, wenige gegangen.
Es gehört zum Einmaleins des Radsports, dass leichte Reifen und Laufräder der Performance eines Bikes und dem Fahrspaß guttun. Doch nirgendwo gilt das in so einem starken Maß wie bei den Fatbikes. Bei Laufradgewichten, die sich schon fast dem Gesamtgewicht eines Racebikes annähern, muss man sehr viel rotierende Masse beschleunigen und in Fahrt halten. Zum Teil ein echter Kraftakt und nicht zuletzt einer der Gründe, warum Fatbikes bisher als Dritt- oder Viert-Bike ihr Nischendasein fristen. Das Beispiel der Kuroshiro/Tune-Laufräder zeigt, was aktuell bereits möglich ist – sprich: In den Fatbike-Laufrädern und -Reifen steckt noch viel Entwicklungspotenzial. Doch oft sind es auch schon die kleinen Tuning-Maßnahmen, die große Wirkung zeigen. Lutz Scheffer, Canyon-Chef-Designer und bekennender Fatbike-Fan, schwört auf 24-Zoll-Downhill-Schläuche (ca. 200 g) in seinen Fatbike-Pneus und spart so auf einen Schlag gut ein halbes Kilo ein. Die auch bei den Fatbikes aufkommende Tubeless-ready-Technolgie stellt weitere Einsparungen in Aussicht.
Mit einem Fatbike auf dem Rundkurs des 24h-Rennens von Finale Ligure Spaß haben? BIKE-Testautor Chris Artmann hatte exklusiv die Gelegenheit, die Enso-685-Carbon-Felgen (ca. 425 g!) der italienischen Edelschmiede Kuroshiro auf einem Fatbike über die steinige Strecke zu jagen. Innovativ: Durch das spezielle Design der Speichenlöcher kann die Felge allein mit Dichtmilch auf Tubeless umgerüstet werden, und man genießt den Wegfall des Schlauchs gleich dreifach – niedrigeres Gewicht, höherer Pannenschutz und ein geringerer Rollwiderstand. Neben dem Fatbike-typischen Komfort bei Drücken zwischen 0,5 und 0,75 bar und einer Gutmütigkeit, die im Vergleich jedes All-Mountain-Bike wie eine nervöse Rennfeile erscheinen lässt, bringen die superleichten Laufräder völlig untypische Beschleunigungsfreuden. Mit schier endloser Traktion gesegnet, zieht man damit jeden noch so steilen Anstieg überraschend leichtfüßig hoch – egal ob über Wurzeln oder losen Schotter. Auch wenn es sich hier um eine zugegeben kostpielige Tuning-Maßnahme handelt, zeigt sie doch klar, welches Potenzial noch in Fatbike-Laufrädern schlummert.
Man muss vor Surly einfach den Hut ziehen, dass sie es als Erste gewagt haben, neben den gerade erst aufkeimenden Fatbikes und normalen Mountainbikes eine Zwischengröße einzuführen. Damit hatten sie alle vorgegebenen Schubladen und Gedankengebilde verlassen. Mittlerweile ist das Oversized-Format in allen drei Laufradgrößen zu finden – sprich: breite Reifen zwischen 2,75 und 3 Zoll, die vorzugsweise auf breiten Felgen (35 bis 50 mm) montiert sind. Dem Fahrgefühl und der Performance nach könnte man die Plus-Formate auch gut "Semi-Fatbikes" nennen. 29+ ist dabei eine recht exotische Erscheinung, weil man dafür spezielle Rahmen und Gabeln braucht – aktuell sind 29+Laufräder nur starr, mit Upside-down-Gabeln wie der RS-1 oder mit Fatbike-Gabeln zu fahren. Die Nachrüstbarkeit in existierenden Rahmen spricht klar für die beiden kleineren Formate. B+ (auf Basis von 27,5-Zoll-Laufrädern) und 26+ lässt sich oft problemlos in Rahmen und Gabeln des nächst größeren Formats einbauen. Unsere Erfahrungen zeigen, dass man damit dem bekannten Bike ganz andere Charakterzüge verleihen kann, die vor allem Tourer- und Genuss-Biker, aber auch Enduro-Piloten ansprechen dürften.
+ Deutlich spürbares Plus an Traktion & Komfort gegenüber Standardreifen
+ Sehr gutmütiges Fahrverhalten, vor allem auf losem Untergrund; hohe Fahrsicherheit
+ 26+ und 27,5+ meist mit Bikes und Komponenten des nächst größeren Formats kompatibel (Nachrüstbarkeit)
– (Noch) wenig Auswahl an Reifen und Laufrädern
– 29+ braucht spezielle Rahmen/Gabeln
Derzeit gibt es kaum Teile für die Plus-Formate, doch schon für 2015 kommen ein paar spannende, neue Produkte auf den Markt. Wir zeigen die Wichtigsten: