David Voll
· 04.11.2016
Welche Laufradgröße ist die beste für den Allround-Einsatz? Wir testeten mit zwei BIKE-Lesern und dem Scott Genius in drei Laufradvarianten: 27,5, 29 und 27,5 Plus.
Während die Reifendimensionen jahrelang wie zementiert waren, ist die Reifen- und Laufradindustrie nun aus dem Dornröschenschlaf erwacht. Im Zeitraffer entwickelt sie neue Standards. Nachdem zunächst der Durchmesser um Twentyniner und 27,5" erweitert wurde, steht aktuell die Reifenbreite im Fokus: nach dem Fatbike-Trend folgt jetzt das Plus-Format. Vergleicht man die Laufradgrößen mit Musiknoten, scheint der richtige Ton noch nicht gefunden. Doch mit jedem neuen Reifen- und Laufradstandard steigt auch die Unsicherheit der Biker-Kundschaft: Welches Reifenmaß ist für mich das beste?
Qual der Wahl beim Scott Genius
Um der Frage auf den Grund zu gehen, machten wir den Lesertest mit dem Scott Genius. Das steht dem Kunden in drei Laufradvarianten zur Wahl: 29 Zoll (Genius 900), 27,5 Zoll (Genius 700) und 27,5+ (Genius 700 Plus). Um eine bessere Vergleichbarkeit zu gewährleisten, rollten alle drei All-Mountain-Modelle in der jeweiligen Top-Ausstattung Premium (Genius 700) bzw. Tuned (900 und Plus) in die Redaktion. Alle waren auf Tubeless umgebaut. Kleine Unterschiede in der Ausstattung zeigen sich dennoch im Detail: So bildet der Carbon-Rahmen bei allen drei Modellen die Basis, lediglich das Plus-Modell muss sich mit einer Alu-Hinterbauschwinge begnügen. Bei der Schaltung montiert Scott an den Tuned-Modellen die 1x11-Schaltung von Sram, an der Premium-Version Shimanos XTR-2x11-Gruppe. Letztere bietet in der Praxis eine spürbar größere Übersetzungsbandbreite und gehört an All Mountains wie das Mundstück an eine Trompete. Ansonsten spielen alle drei im Einklang: Shimano-XTR-Trail-Bremsen, Fox-Fahrwerke mit steifen 34er-Gabeln und drei wählbaren Modi (Lockout, Traction Control, Descend) via Twinlock-Hebel. Standard sind in dieser Preisklasse auch Rock-Shox-Reverb-Teleskopstützen und 740 Millimeter breite Carbon-Lenker, deren Lenkimpulse dank 60 Millimeter kurzen Vorbauten direkt umgesetzt werden. Absolute Traum-Bikes sind alle drei schon auf dem Papier. Mit 130 bis 150 Millimetern Federweg fallen die getesteten Genius-Modelle in die Kategorie All Mountain – Bikes für den anspruchsvollen Geländeeinsatz.
Der Bikepark am Geißkopf bot das passende Testambiente: Statt mit dem Lift, ging es über lange Schotteranstiege und knackige Trail-Passagen hinauf zur Bergstation und von dort über flowige, wie auch verblockte Trails wieder hinab. Für unsere zwei Lesertester Dominik und Tobi, sonst eher als Hobby-Biker auf sportlichen Racefullys unterwegs, eine neue, aber auch unbefangene Erfahrung. Mit ihnen wollten wir die Frage klären: Welches Laufrad passt zu wem?
Der Luftdruck macht die Musik
Bereits beim "Einstimmen" des Bike-Setups am Plus zeigt sich Tobi verwundert: "Was, nur 0,8 bar? Ich fahre sonst mindestens zwei bar." Doch genau hier liegen die Vorteile der 2,8-Zoll-Halbfett-Reifen: weniger Luftdruck, dafür mehr Komfort, Traktion und Grip. Schon auf den ersten Metern im Uphill zur Bergstation ist Dominik vom harmonischen Rollverhalten der Plus-Reifen überrascht: "Das Dickerchen geht ja erstaunlich gut bergauf! Das hätte ich nicht gedacht, dass der Unterschied zu den anderen Laufradgrößen so gering ausfällt." Auch Tobi stellt keinen gravierenden Unterschied im Vergleich zu den anderen beiden Modellen fest. Im Gegenteil: Auf den letzten verblockten 500 Metern über nasse Wurzeln und glitschige Steine spielen die Plus-Reifen ganz klar die erste Geige. Während sich Dominik auf dem 27,5er die Ideallinie suchen muss, kurbelt Tobias mit dem Plus relativ easy hinauf. Die voluminösen Reifen verschmelzen dank der großen Kontaktfläche mit dem Untergrund wie einzelne Töne zur Melodie und weisen somit deutlich weniger Schlupf auf. Beim 27,5er macht sich der kleinere Durchmesser dagegen bemerkbar: "Ich werde vom Bike vielmehr gefordert, muss gegenlenken, korrigieren und weiter nach vorne rutschen, damit das Vorderrad nicht den Bodenkontakt verliert," beschreibt auch Tobi später das Handling bergauf. Auch Dominik kritisiert das forderndere Kletterverhalten – die kleineren Räder stoßen subjektiv stets gegen die Wurzeln und Kanten, statt wie beim 29er oder Plus geschmeidig drüberzurollen. In der Summe überzeugt jedoch das 29er am meisten in der Uphill-Wertung mit dem Mix aus gleichmäßigem und ruppigem Geläuf. Das liegt am ausgezeichneten Überrollverhalten, aber auch an den leichtesten Laufrädern.
Oben angekommen, geht es gleich wieder hinab. Hierbei profitieren alle drei Bikes deutlich von der absenkbaren Stütze und der damit gewonnenen Fahrsicherheit. Im ersten Teil der Abfahrt, dem Flow-Country-Trail, zeigen sich dennoch sofort erste Unterschiede zwischen den Modellen. In den schnellen Anliegerkurven fahren sich 29er und Plus "wie auf Schienen", sie bieten "viel Laufruhe, Grip und Traktion" – so die Tester unisono. Beim Genius 700 musste vor allem Tobias dagegen schon mehr Feingefühl aufbringen, damit das Bike nicht unruhig wurde. Die Geometrie vom Plus-Bike, wie auch die des 27,5er, wirkt zwar etwas wendiger als die des 29ers, aufgrund der schwereren Laufräder passieren schnelle Richtungswechsel jedoch eher in Zeitlupe, also recht träge. Beim Wechsel vom Flow-Trail auf die Downhill-Piste bringt es Tobi auf den Punkt: "In der verblockten Abfahrt fällt es mir mit dem Plus-Bike deutlich schwerer, präzise zu fahren und eine definierte Linie zu halten. Das macht aber eigentlich nichts, denn das Bike vermittelt trotzdem ultimative Sicherheit!" Während das Plus den ruhigen Bass in der dreiköpfigen Genius-Band spielt, ist das 27,5er eindeutig die aufgeregt kreischende E-Gitarre: agil, wendig, mit vielen Reserven (mehr Federweg) und einer deutlich höheren Lenkpräzision als die größeren Laufradkollegen im Test. "Das Fahrverhalten des Genius’ 700 fühlt sich einfach viel ,satter‘ an", sind sich beide Lesertester einig. Beim 29er sind Tobias und Dominik allerdings geteilter Meinung: Während Tobias gut durch die Gesteinsbrocken und über die Stufen navigiert, kritisiert Dominik die geringere Lenkpräzision, die "wohl den großen Laufrädern geschuldet ist". Zudem bietet das 29er den geringsten Pannenschutz, der sich während der Testläufe gleich zweimal mit einem Plattfuß am Hinterrad offenbarte. Unabhängig davon sind leichte Pneus, wie die am 29er und 27,5er hinten montierten Schwalbe Rocket Ron, für den All-Mountain-Einsatz ungeeignet. Beim Plus-Bike stellt sich dagegen ein "Marshmallow-Gefühl" ein, wie es Dominik beschreibt, "das in fahrtechnischer Gleichgültigkeit mündet". Fehler toleriert das Plus daher subjektiv mehr. Wie viel die Federelemente am Plus tatsächlich leisten, lässt sich subjektiv nur erahnen. Denn die Rückmeldung vom Untergrund verschwimmt mit den dicken Reifen, die zusätzlich enorm federn.
Fahrspaß-Sieger: Das Plus-Format
Beim "Grand Finale" im Bikepark, den letzten Abfahrtsmetern auf der Dual-Slalom-Piste, zeigt sich das Lenkverhalten des Halbfett-Bikes träge, und es muss aktiver in die Kurven gedrückt werden. Auch beim Überspringen der Tables erfordert es mehr Kraft im Vergleich zum 29er und vor allem 27,5er, das mit seinem verspielten Charakter Tobias gar zum Whip verführt. Dennoch: Der reine Fahrspaß mit dem Plus ist gefühlt am höchsten. Das klingt einsteigertauglich. Aber: Um die Plus-Vorteile zu nutzen, braucht es gewisse Erfahrung, man muss den Luftdruck penibel kontrollieren und, um Gewicht zu sparen, die Laufräder möglichst tubeless aufbauen. Dazu kommt, dass Plus-Bikes mehr wiegen. Je preisgünstiger die Modelle, desto negativer wirkt sich das aus. Wer sich für das Genius Plus entscheidet, kauft theoretisch zwei Bikes in einem. Mit passenden 29er-Laufrädern (Boost-Standard) kann man den Charakter in Richtung sportlich verändern. Als 29er auf die Langstrecke, mit Plus-Reifen ins schwere Gelände. Schwalbe-Plus-Reifen kosten pro Stück sieben Euro mehr als "normale". In puncto Pannensicherheit zeigen sie obendrein Schwächen. Scharfkantigen Felsen hält die dünne, auf leicht getrimmte Karkasse nicht Stand.
Fazit David Voll, BIKE-Testautor
Am Ende ist es bei den drei Genius-Modellen wie mit der Musik: Die Geschmäcker sind verschieden. Es lässt sich nicht eindeutig sagen, welche Laufradgröße die bessere ist. Vielmehr spielen Konstitution (nicht jede Körpergröße passt auf ein 29er), das fahrtechnische Können (hier fordert vor allem das 27,5er dem Fahrer deutlich mehr ab), die persönliche Schmerzgrenze (wenn es dynamisch bergauf gehen soll) und nicht zuletzt der Einsatzbereich eine Rolle. Zwar gehören alle Genius zur All-Mountain-Kategorie, dennoch entscheidet gerade beim 29er die Reifenwahl über den Einsatzbereich. Bestückt mit leichten Pellen lässt sich auch mal ein Marathon fahren. Unsere beiden Lesertester haben jedoch am Ende klar ihren Favoriten gefunden: Während sich das wendig-verspielte Genius 700 als Dominiks Rockstar herauskristallisierte, überzeugte bei Tobias das poppige Genius 900 mit seiner Vielseitigkeit und Laufruhe. Das Plus-Bike eignet sich laut Testern für Leute, die schon alles haben.
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VOR- UND NACHTEILE DER KONZEPTE
29 Zoll
PLUS Sehr gutes Überrollverhalten, hohe Traktion, laufruhig und fahrstabil, einfach zu fahren, geringer Rollwiderstand, breiter Einsatzbereich
MINUS Laufräder sind instabiler/weniger steif als kleinere Durchmesser, nicht für jede Körpergröße geeignet
27,5 Zoll
PLUS Agil und Sprint-freundlich, geringes Gewicht, hohe Laufradsteifigkeit und -stabilität, große Auswahl an Reifen
MINUS Schwächeres Überroll-verhalten, weniger Komfort, nervöseres und anspruchsvolleres Handling in technischen Passagen, geringere Traktion
27,5 Plus
PLUS Sehr viel Grip und Traktion, subjektiv hohe Fahrsicherheit und Komfort, sehr gutes Überrollverhalten, Plus-Rahmen für 29er-Boost-Laufräder geeignet
MINUS Hohes Gewicht (700–1000 g schwere Reifen), wenig agiles Handling, mehr Einsatz vom Fahrer gefordert, geringe Auswahl an Reifen
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DIE TESTERGEBNISSE
So haben wir getestet: Der Bikepark am Geißkopf in Bischofsmais hat für All Mountains einiges zu bieten. Von der Talstation geht es vier Kilometer auf mäßig steilem Forstweg und einem steilen und sehr verblockten Stein- und Wurzel-Trail zur Bergstation. Während der 260 Höhenmeter beurteilten wir die Klettereigenschaften. Ab hier lautet das Kommando: Sattelstützen absenken und mit Vollgas in den Flow Country, einem flüssigen Trail mit Anliegern und kleinen Sprüngen. Hier zeigte sich das Handling der Bikes im Downhill und bei schnellen Richtungswechseln. Vom Flow-Country-Trail ging es dann über die verblockte Downhill-Passage, und über den Dual Slalom mit Steilkurven und Tables ins Ziel.
DAS SAGEN DIE LESER-TESTER:
Prof. Dr. Tobias Huep:
Das Genius 900 ist für mich der Allrounder, der, je nach Reifenwahl, alles mitmacht – von Bikepark bis Marathon. Mit dem Genius 700 Plus fühlte ich mich zwar stets sicherer, ich war aber subjektiv keinen Deut schneller als mit den anderen beiden Konzepten.
Dr. Dominik Erhardt: Das 27,5er-Genius geht agil bergauf und überraschend stark bergab. Obwohl ich 29er- Verfechter bin, hatte ich mit dem Genius 700 am meisten Spaß. Das Plus-Format setzt emotionale Akzente. Hoher Eisdielen-Faktor und interessant für den Einsatz auf Schnee und Sand.
DAS SAGT DAS TESTLABOR:
Vergleicht man die drei Reifenmaße anhand von Schwalbe-Reifen (27,5+ in 2,8 Zoll Breite), schneiden die bis zu 200 Gramm schwereren Plus-Reifen besser ab als erwartet. Der Rollwiderstand ist gut, die Traktion ist besser. Bei der Pannensicherheit ist die dünne Karkasse das Problem. Bei anderen Reifenherstellern und breiteren Plus-Modellen fällt die Agilität schlechter aus, die Traktion und Fahrsicherheit liegt jedoch noch höher als bei 29 und 27,5 Zoll. Interessant: Für 2017 zeichnet sich ab, dass die Plus-Reifen wieder eher schmaler werden. Insider reden von 2,6 Zoll breiten, stabilen Reifen. Alle Fakten aus unserem Konzeptvergleich im Labor stehen hier->
VIELSEITIGES GENIE: AUS EINS MACH DREI
Wie variabel die Scott-Genius-Plattform ist, zeigt der Vergleichstest. Aus dem bekannten All-Mountain-Chassis zaubern die Scott-Ingenieure drei verschiedene Charaktere. Geliefert wurden uns dafür die teuersten, leichtesten Genius-Varianten.
29 " | SCOTT GENIUS 900 TUNED: Das Bike mit dem größten Einsatzbereich
Das Bike mit den größten Laufrädern wiegt am wenigsten. Das liegt vor allem an den Carbon-Felgen: Die kompletten Räder mit Reifen, Kassette und Bremsscheiben sparen gegenüber dem Plus-Modell fast ein Kilo. Die Vorteile der großen Räder spürten die Tester besonders beim Überrollen von Wurzelteppichen und an steilen Rampen bergauf. Klarer Fall: Das Top-Modell ist ein All Mountain der Spitzenklasse. Lesertester Tobias erklärte das Bike zu seinem Favorit – allerdings bitte mit Zweifach-Antrieb.
Preis: 8499 Euro
Gewicht (ohne Pedale): 11,13 Kilo
Federwege: 140/130 mm
Laufradgewicht komplett: 3591 g
27,5 " | SCOTT GENIUS 700 PREMIUM: Agiler, verspielter, mit Reserven im Fahrwerk
Die kleinsten Laufräder und der größte Federweg, dabei ein ausgezeichnetes Gewicht. Das 27,5er-Genius zielt auf Leute, die es bergab krachen lassen wollen und einen verspielten Fahrstil pflegen. Das agilere Handling spürt man auf der Downhill-Strecke sofort. Nach Meinung unserer Tester erfordert dieses Bike allerdings mehr Fahrkönnen als die anderen beiden – bergauf und bergab. Ausstattung und den Zweifach-Antrieb beurteilten die Tester als perfekt. Zitat: "Dadurch ist das Bike am vielseitigsten von allen."
Preis: 7599 Euro
Gewicht (ohne Pedale): 11,59 Kilo
Federweg: 150 mm
Laufradgewicht komplett: 3786 g
27,5 Plus | SCOTT GENIUS 700 TUNED PLUS: Plus-Format: für den, der schon alles hat
Das Plus-Modell ist das jüngste Bike der Genius-Palette. Die dicken Reifen verlangen nach dem Boost-Standard bei Hinterbau und Gabel, technisch ist das Bike also moderner als seine Brüder. Vorteil Plus-Chassis: Es passen auch 29er-Laufräder rein, Boost-Standard vorausgesetzt. Die Lesertester waren überrascht von der Traktion. Ihnen bescherte das Plus-Format den meisten Fahrspaß. Die größere Fahrfehlertoleranz erkauft man sich mit geringerer Agilität. Beide Leser wählten das Plus-Genius daher nicht zum Favorit.
Preis: 7999 Euro
Gewicht (ohne Pedale): 12,29 Kilo
Federwege: 140/130 mm
Laufradgewicht komplett: 4439 g