Als sich an einem Sonntag im März vier EMTB-Leser in der Redaktion in München einfinden, sind die Erwartungen ausgewogen verteilt. Der Tag beginnt mit einem Unentschieden zwischen Team Skepsis und Team Hoffnung. „Ich mag es, wenn ich beim Radfahren selbst aktiv sein kann“, sagt zum Beispiel Franz Fischer. Und sein Tester-Kollege Dirk Oswald schätzt es grundsätzlich ebenfalls nicht, wenn ein System ihm etwas abnimmt: „Das ist auch beim Autofahren so, wenn sich der Scheibenwischer von selbst einschaltet – dann ist er entweder zu schnell oder zu langsam, aber macht nie genau das, was ich gerade will.“
Heute dürfen sie in Begleitung von EMTB-Redakteur Adrian Kaether etwas testen, was in der Bikebranche durchaus revolutionär ist: die neuen Automatikschaltungen von Shimano und Sram. Andreas Schweig startet deshalb voller Hoffnungen in den EMTB-Lesertesttag und sagt: „Ich kann mir vorstellen, dass die Hersteller da was richtig Gutes entwickelt haben.“ Und Claus Selig, den das Thema „wahnsinnig interessiert“, ist jetzt schon davon überzeugt: „Das ist die Zukunft des Bikens.“
Redakteur Adrian hat für die EMTB-Leser vier aktuelle Bikes vorbereitet: Das Centurion No Pogo F3000i und das Bulls Sonic EVO EN-SL jeweils mit der neuen Shimano XT Di2-Schaltung in Kombination mit dem neuen EP801-Motor. Das Propain Ekano CF und das GasGas MXC dagegen mit dem Sram Eagle Powertrain-System – einer Kombination aus Srams kabelloser Eagle-Schaltung und dem Drive S Mag-Antrieb von Brose.
Was beide Systeme vereint: Ihre automatische Schaltfunktion lässt sich so zuschalten, dass Schaltvorgänge von Hand nicht mehr nötig sind. Auch beim Rollen ohne Pedalieren suchen sich die Automatikschaltungen den richtigen Gang, was Shimano „Free Shift“ und Sram „Coast Shift“ nennt. Die signifikanten Unterschiede neben der Hardware: Sram funktioniert bis auf das Schaltwerk, das meist vom E-Bike-Akku über ein Kabel mit Strom versorgt wird, kabellos und lässt sich mit zwei Unterstützungsstufen (Range und Rally) konfigurieren. Shimanos System dagegen ist kabelgebunden und bietet auf Wunsch bis zu 15 Unterstützungsstufen an, freischaltbar per App.
„Typisch japanisch“, sagt Claus zu den vielfältigen Möglichkeiten, Shimanos Automatikschaltung über die E-Tube-App zu konfigurieren. Nicht nur zwei verschiedene Automatikmodi lassen sich damit individuell einstellen, sondern auch die Reaktionsfreudigkeit des Systems in vielen verschiedenen Facetten. Wichtigstes Einstellungskriterium für eine reibungslos funktionierende Automatik ist dabei die Trittfrequenz. Damit findet das System die richtigen Zeitpunkte fürs Schalten. Das ist auch bei Sram so, wenngleich die Einstellung intuitiver gelingt und auch direkt über das ins Oberrohr formschön eingelassene Display möglich ist. „Ich habe bei der Trittfrequenz nachjustieren müssen, weil es für mich am Anfang überhaupt nicht gepasst hat“, urteilt Claus Selig deshalb nach der Anfahrt zu den Isar-Trails, während Dirk Oswald gleich nach den ersten Metern schwärmt: „Ich habe sofort gemerkt, dass das mega funktioniert.“
Mit der XT Di2 und der Eagle Powertrain haben Shimano und Sram Systeme entwickelt, die automatisch schalten können. Das funktioniert, indem Antriebe und Schaltungen miteinander kommunizieren und auf Änderungen von Trittfrequenz, Geschwindigkeit und Drehmoment reagieren.
Für sein Eagle Powertrain System nutzt Sram den bewährten Brose Drive S Mag (90 Nm) mit eigener Software. Herzstück der Automatikschaltung ist Srams Eagle-Transmission mit zwölf Gängen. Die Schaltung lässt sich im Vergleich zu Shimano in weniger Parametern einstellen, außerdem bietet Sram nur zwei Unterstützungsstufen für den Motor. Die Bedienlogik ist dafür besonders intuitiv, die für die Schaltautomatik maßgebliche Trittfrequenz-Einstellung kann auch während der Fahrt angepasst werden. Die App braucht man für die Feineinstellung nicht.
Die Automatikfunktionen der XT Di2-Schaltung von Shimano sind nur mit den neueren Motoren EP 801 und EP 6 kompatibel. Zudem benötigt das System zur vollständigen Freigabe der Schaltautomatik die robuste Linkglide-Kette und -Kassette mit nur elf Gängen. Das soll den Verschleiß minimieren. Einige Hersteller verbauen die XT Di2 auch mit der klassischen Zwölffach-Hyperglide-Kassette, dann gibt Shimano offiziell aber nur die Free-Shift-Funktion frei (Schalten im Rollen). Das Argument: Die leichte und Hyperglide-Kassette verträgt sich nicht mit automatischem Schalten unter Last. Per App lassen sich bei Shimano zwei Automatikmodi detailreich konfigurieren, die sich über das Display am Lenker schnell anwählen und wechseln lassen. Die Konfiguration über die App, genauso wie die Verstellung der Trittfrequenz (auch über das Display-Menü möglich) geht leider nur, wenn das Bike steht.
Was auffällt: Alle vier EMTB-Lesertester gewöhnen sich schnell daran, nicht mehr schalten zu müssen. Auf dem Radweg und im ersten sanften Auf und Ab entlang der Münchner Isar funktionieren beide Systeme so, dass sie sowohl Team Skepsis als auch Team Hoffnung begeistern. „Ich bin positiv überrascht“, zieht Franz Fischer ein Zwischenfazit und attestiert dem Shimano-System „idiotensicher“ zu funktionieren. Und Andreas sagt zur Sram Automatikschaltung: „Sie hat bislang gemacht, was sie soll und schaltet sehr intuitiv.“
Aber die Härteprobe steht für die Schaltungen noch bevor. Nachdem EMTB-Redakteur Adrian all die Konfigurationsmöglichkeiten im Detail erklärt, dürfen sich die Lesertester auf den Isartrails so richtig austoben. Knackige Anstiege, technische Abfahrten, dauernd wechselndes Gelände und teils rutschige Untergründe stellen Bikes und Biker vor große Herausforderungen.
Die Lesertester tauschen die Bikes durch, um die Unterschiede zwischen dem Sram- und dem Shimanosystem zu erspüren. „Shimano schaltet sehr weich, Sram etwas knackiger und lauter“, stellt Andreas Schweig fest. Aber insgesamt verfliegt die Anfangseuphorie in dem fordernden Gelände bei allen vier Testern. Insbesondere bei der schwungvollen Einfahrt in steile Rampen erwies sich die Technik – sowohl bei Shimano, als auch bei Sram – in der Wahrnehmung der Tester als partiell überfordert. Claus Selig stellt etwas ernüchtert fest: „Die Automatik kann ja nicht vorausschauen, deshalb war ich oft im falschen Gang.“ Im Downhill dagegen begeisterte sowohl Free Shift bei Shimano als auch Coast Shift bei Sram alle Tester gleichermaßen. „Dass du in kniffligen Situationen nicht mehr treten muss, um den richtigen Gang einzulegen – das finde ich großartig“, sagt Dirk.
„Schaltet jetzt mal alle die Automatik wieder aus“, fordert EMTB-Redakteur Adrian die vier Tester vor der Rückfahrt zur Redaktion auf. Der Trail wird jetzt wieder flowiger. Und schon nach ein paar Minuten stellt Claus wieder auf Automatik um. Seine augenzwinkernde Begründung: „Selbst schalten ist irgendwie sowas von 80er!“
Gas geben, steuern, bremsen. So einfach kann Fortbewegung sein. Was beim Auto für viele längst zur guten Gewohnheit geworden ist, soll jetzt auch den Fahrradmarkt revolutionieren. Die vier EMTB-Leser waren schlichtweg begeistert davon, wie gut die Systeme von Sram und Shimano auf Radwegen, Waldwegen und technisch einfachen Trails funktionieren. „Die Zielgruppe dafür ist riesig“, beschreibt Franz Fischer seine Eindrücke. Er glaubt – wie alle anderen Tester auch –, dass vor allem Einsteiger und Hobbybiker die Vorzüge der Automatikschaltung voll auskosten können.
Wichtig, damit die Automatik-Schaltung reibungslos funktioniert, ist eine perfekte Einstellung der Schaltung und eine gute Anpassung auf die individuelle Trittfrequenz. Bei Shimano geht das über die E-Tube-App, bei Sram ganz einfach über eine sechsstufige Anpassung im Display. Auch das Sram-System kann zusätzlich über eine App konfiguriert werden – so lässt sich etwa die Belegung der beiden Pods, mit denen sich über jeweils zwei Knöpfe links und rechts am Lenker das komplette System inklusive Sattelstütze funkgesteuert bedienen lässt, individuell belegen. Wer manuell schalten will, kann mit beiden Systemen jederzeit in die Automatik eingreifen. Wobei das gerade auf Touren eigentlich überflüssig ist. Claus Selig sagt dazu: „Auf dem Radweg oder auf einfachen Trails hatte ich kein einziges Mal das Bedürfnis, selbst zu schalten.“
Ich habe von der Automatik erwartet, dass ich beim Biken nicht mehr überlegen muss, in welchem Gang ich fahre. Und genau diese Erwartungen haben sie im einfachen Terrain voll und ganz erfüllt. Sowohl Sram als auch Shimano funk-tionieren sehr intuitiv. Den Schalthebel habe ich kein einziges Mal benutzt. – Andreas Schweig, Leser-Tester
Anhand von Geschwindigkeits-, Trittfrequenz und Drehmomentänderungen schalten die Systeme von Shimano und Sram automatisch. Aber gerade, wenn es steil wird, ist das „sehr gewöhnungsbedürftig“, wie Franz Fischer feststellt. „Ich habe ständig eingreifen und selbst schalten müssen.“ Gleichmäßige Steigungen meistern die Automatikschaltungen perfekt – aber sobald das Gelände unrhythmisch wird, empfinden die vier Lesertester ihre Performance nicht als zufriedenstellend.
Klassisches Beispiel: Die schwungvolle Anfahrt an einen steilen, wurzeligen Stich. Beim Geschwindigkeits- und Steigungswechsel reagieren die Schaltungen zu träge, die Tester monieren zu dicke Gänge im Anstieg. Immerhin: „Das hohe Drehmoment vom Sram-Motor schiebt Dich einfach hoch, wenn der Anstieg nicht zu lang ist“, sagt Dirk Oswald. Aber: das entspannte und entspannende Gefühl, nicht mehr selbst schalten zu müssen, genießen alle vier EMTB-Tester im steilen Gelände nicht mehr.
„Insgesamt enttäuschend“, sagt Claus Selig zur Performance der Automatikschaltungen im technischen Terrain. „Da ist noch viel Luft nach oben“. Immerhin ist er sich einig mit seinen Tester-Kollegen: Shimano schaltet geschmeidiger, Sram etwas knackiger. Insgesamt, so sagen die Tester, funktionieren die Schaltvorgänge auch im Steilen an sich zuverlässig. „Ab und zu krachte es zwar etwas – aber das tut’s beim manuellen Schalten ehrlicherweise manchmal auch“, sagt Andreas Schweig.
Auf gleichmäßigen Anstiegen arbeiten die Automatikschaltungen perfekt – das ist sehr komfortabel. Sobald es aber steil und wurzelig wurde, musste ich ständig manuell eingreifen. Wenn ich mit Schwung in ein Steilstück gefahren bin, war ich oft in zu schweren Gängen. Manche Passagen waren dadurch nicht mehr fahrbar. – Franz Fischer, Leser-Tester
„Das ist natürlich ein Gamechanger“, sagt Dirk Oswald darüber, dass die Automatikschaltungen auch dann den richtigen Gang einlegen, wenn man gar nicht pedaliert. Möglich ist das, indem sich der Antrieb auch beim Rollen mitbewegt – natürlich nur maximal so schnell wie das Hinterrad rotiert.
Was bei Shimano Free Shift und bei Sram Coast Shift heißt, lässt die EMTB-Lesertester ins Schwärmen geraten. Beim gemütlichen Radeln heißt das: Nie mehr drüber nachdenken, welchen Gang man zum Anfahren nach einem Stopp braucht. Beim seriösen Biken auf Trails dagegen spielen die Automatikschaltungen ihre Trümpfe so richtig aus. „Wenn du aus einer Kurve voll antreten willst, bist du automatisch im richtigen Gang“, sagt EMTB-Redakteur Adrian Kaether und weiß, dass genau deshalb auch Pros und Rennfahrer diese Automatik-Funktion schätzen.
Aber auch Hobbyfahrer wie unsere vier Tester sind von der Funktion voll begeistert. „Super, wenn ich mir keinen Stress mehr machen muss, in welchem Gang ich gerade bin“, sagt Franz Fischer. Und Dirk Oswald sieht auch Vorteile in punkto Sicherheit. Gerade wenn’s mal bergab brenzliger wird, hält er es für wichtig, dass sich Biker voll auf den Trail konzentrieren können. Beide Systeme funktionieren im Downhill perfekt und begeistern alle vier EMTB-Lesertester. „So muss innovative Technik funktionieren“, zieht Claus Selig sein Fazit.
Free Shift und Coast Shift ist super. Nicht nur auf flowigen Trails trägt das dazu bei, dass die Automatikschaltungen hervorragend funktionieren. Auf steilen und wurzeligen Downhills ist es sogar ein Sicherheitskriterium: Ich bin immer im richtigen Gang, auch wenn nicht am Pedalieren bin – perfekt! – Claus Selig, Leser-Tester
Wer sich beim Autofahren mal dran gewöhnt hat, den linken Fuß einfach abzustellen, möchte Automatikschaltungen nicht mehr missen. Im Vergleich dazu stecken die selbstschaltenden Systeme von Sram und Shimano noch in den Kinderschuhen. Aber in weiten Teilen haben sie die EMTB-Lesertester jetzt schon überzeugt, wenn nicht sogar begeistert. Und dafür gesorgt, dass sie – wenn die Trails nicht zu hart waren – schnell vergessen haben, wozu ihr rechter Daumen bislang eigentlich da war: zum manuellen Schalten.