Georg Bleicher
· 11.10.2024
Eine fantastische Idee: ein Fahrzeug, das so schnell ist, dass es auch für mittlere Strecken bis etwa 25 Kilometer als Verkehrsmittel eingesetzt werden und im Stadtverkehr gerade so mitschwimmen kann, aber trotzdem wendig wie ein Fahrrad ist. Das in der Rushhour deshalb den Stau umfährt und dabei auch noch Spaß macht und mindestens genauso wie das Pedelec für Bewegung und damit nachhaltige Gesundheitseffekte sorgt. Das S-Pedelec ist – in der Theorie – dieses Fahrzeug. Der Antrieb unterstützt bis 45 Stundenkilometer, ansonsten funktioniert das S-Pedelec genauso wie ein klassisches 25er. Die Technik ist, bis auf Motorleistung und einige Details (siehe Interview) dieselbe. Viele Motoren sind vom Hersteller sehr einfach auf 45er-Unterstützung „upgegradet“. Das S-Pedelec muss auch nicht schwerer oder schwieriger zu fahren sein. Allerdings braucht eine dauerhaft deutlich höhere Geschwindigkeit mehr Fahrsicherheit. Äußerlich unterscheidet vor allem ein großer Pflicht-Rückspiegel und das Kennzeichen das Bike von einem normalen E-Bike.
Hört sich alles super an, ist bislang in Deutschland aber nur ein Traum: Das echte Leben des S-Pedelec-Fahrers sieht meist anders aus. Er muss lange Umwege fahren, auf der schnell befahrenen Straße ein Risiko eingehen und kommt manchmal sogar nur per Ordnungswidrigkeit ans Ziel. Hauptgrund hierfür: Das schnelle Bike ist, anders als das Pedelec, rechtlich kein Fahrrad, sondern ein Fahrzeug – mit anderen Regeln. Die wichtigsten: Es darf keinen Radweg benutzen und muss auf der Fahrbahn fahren, darf nicht in Gegenrichtung durch für Radfahrer freigegebene Einbahnstraßen fahren, selbst Fahrradstraßen kann es nur nutzen, wenn sie für KFZ freigegeben sind – es ist ja ein Fahrzeug. Auch wenn sich das wie ein kleiner Schönheitsfehler anhört: In der Praxis ist das eine echte Herausforderung für den S-Pedelec-Fahrer.
Ein Beispiel aus der eigenen Praxis: Aus meiner Siedlung führt ein kombinierter Rad-/Gehweg auf die Einkaufsstraße hinaus. Den darf ich im S-Pedelec-Alltag nicht nutzen. Ich muss einen Umweg von über 1,2 Kilometern und drei Ampeln in Kauf nehmen (ca. sieben Minuten), um dorthin zu kommen, wo ich mit dem Fahrrad in weniger als einer Minute bin. Blödes Beispiel? Es kommt noch blöder: Wer etwa von einer Düsseldorfer Rheinseite auf die andere will – sei es als Arbeitspendler oder in der Freizeit – kann das nur über eine der vier mehrspurigen Brücken. Diese ist für 60 Stundenkilometer freigegeben – an die sich die Autofahrer nicht immer halten. Etwas für starke Nerven und gute Schutzengel. Die Deichwege Richtung Norden und Süden, fantastische Fahrrad-Pendlerwege, sind fast immer kombinierte Rad- und Fußwege – also auch Fehlanzeige. Hier gilt: viel befahrene Straßen durch die Vororte nehmen und mit genervten Autofahrern in den Passagen dazwischen umgehen können. Auch viele Wirtschaftswege für die Landwirtschaft sind für Autos tabu – und damit leider bisher auch für den Speed-Pedelecer. Allerdings wäre es oft möglich, diese Wege umzuwidmen. So käme man auch zu weniger Verkehrsbelastung.
Dabei kann das S-Pedelec auch bei uns seine Vorteile ausspielen – wenn man in seiner Region Glück hat. Wer ländlich wohnt und ein S-Pedelec zum Arbeitspendeln nutzen will, der hat manchmal gute Karten: Je weiter eine größere Stadt entfernt ist, desto geringer ist oft der Verkehr auf den Landstraßen. Hier ist man mit dem S-Pedelec, solange die Straßen breit genug zum komfortablen Überholen sind, oft sicherer und entspannter unterwegs als in der City. Gelegentlich begleiten etwas größere Straßen auch parallele Wege, die nicht als Radweg ausgewiesen sind und so für das S-Pedelec zugelassen sind. Apropos Radweg: Ihn auch mit dem schnellen Rad zu nutzen ist verlockend, aber gefährlich. Nicht nur wegen der 15 Euro Strafe beim Erwischtwerden: Bei einem Unfall kann es schnell zu Problemen mit der Versicherung kommen. Außerdem gibt es zusätzlich Scherereien, wenn man vorsätzlich ohne Schild auf dem Weg unterwegs war. Schleichwege über Feld- und Wirtschaftswege bieten sich an, wenn keine „Durchfahrt Verboten“- oder Radweg-Schilder den Weg versperren. Wo man unsicher ist, welche Straße für Fahrzeuge zugelassen ist, sollte man sich bei der jeweiligen Kommune informieren. Die einzelnen Bundesländer unterscheiden sich in ihrer Freigabe. Bei unseren südwestlichen Nachbarn ist das S-Pedelec ein wichtiger Bestandteil des täglichen Verkehrs.
In der Schweiz wurden 2023 26.000 S-Pedelecs verkauft. Das sind 15 Prozent der verkauften E-Bikes. Zum Vergleich: In Deutschland betrug die Zahl der verkauften Pedelecs insgesamt 2,1 Millionen. Davon waren laut Zweirad Industrie Verband ZIV gerade mal knapp 1 Prozent S-Pedelecs, also um die 20.000. In der Schweiz wird das schnelle Rad vor allem als Pendlerfahrzeug eingesetzt. Einer der Gründe für die Länderunterschiede ist in der Radwegbenutzungspflicht in der Schweiz zu sehen. Hier wird mit dem S-Pedelec verpflichtend auf dem Radweg gefahren, wo vorhanden.
Die Länder, Städte und Gemeinden haben Entscheidungshoheit darüber, wie der Verkehrsraum genutzt wird. Sie konnten aber bislang dem Radverkehr nicht einfach viel mehr Platz geben. Tatsächlich waren Fahrradstraßen, neue Fahrradwege oder eben eine Radwegfreigabe für S-Pedelecs extrem schwierig, erklärt Michael Müller, verkehrspolitischer Sprecher des VCD (Verkehrsclub Deutschland). Die gesetzliche Vorgabe dazu stand im Straßenverkehrsgesetz: Der Verkehrsfluss des Kraftverkehrs darf nicht beeinflusst werden. „Lediglich wenn es nachweislich um quantifizierbare Sicherheit ging, war es für die Kommunen einfacher, etwas zu verändern.“ Anders gesagt: Der Spruch „Da muss erst was Schlimmes passieren, damit dort etwas geändert wird“, war bislang also traurige Wahrheit bei der Planung für neue Radwege oder dem Erstellen von Radwegen oder Umwidmungen zu Fahrradstraßen und ähnlichem.
Mit dem gerade geänderten Straßenverkehrsgesetz können die Kommunen und Länder in konkreten Fällen auch mit Klima- und Umweltschutzzwecke sowie städtebaulicher Entwicklung argumentieren, wenn es darum geht, Infrastruktur umzugestalten. Und was treibt den Klimaschutz mehr voran, als wenn noch viel mehr Menschen Rad, Pedelec oder eben S-Pedelec fahren?
Es gibt also Licht am Ende des Tunnels. Gerade mit dem Klimaschutz können die Städte heute gut argumentieren, wenn es um neue oder umgewidmete Wege für Fahrrad oder Pedelec geht. Und eben auch um Umwidmungen für das S-Pedelec. „Die nachweisbare Gefahrenlage ist nicht mehr grundsätzlich notwendig.“ Müller hebt aber auch hervor: „Praktisch ist es immer noch schwierig, weil komplex, das Fahrrad und den Fußverkehr im einzelnen Fall besser zu stellen. Aber die Kommunen müssen mutig vorangehen und es halt einfach mal machen“, postuliert er, „dann klappt das.“ Natürlich ist das auch immer vom Willen der Menschen in den einzelnen Institutionen abhängig. Schule machte dabei schon vor Jahren die Stadt Tübingen: Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer schaffte es auch innerhalb des alten Straßenverkehrsgesetzes mit viel Durchsetzungskraft, viele Radwege für die schnellen Räder zu öffnen und so eine kleine S-Pedelec-Oase in Deutschland zu kreieren.
Jetzt sind die Mobilitätsexperten der Gemeinden dran. Wir wissen alle: Oft mahlen die Mühlen langsam, aber wir sind zuversichtlich, dass sich bald auch in diesem Bereich einiges verändern wird. Schließlich wäre es fatal, das Potenzial dieses genialen Fahrzeugs nicht zu nutzen.
Das S-Pedelec ist rechtlich ein Fahrzeug, genauere Bezeichnung: Leichtes Kraftrad mit zwei Rädern, L1e-B. Für das Rad ist eine Betriebserlaubnis vom Kraftfahrtbundesamt nötig. Der Motor des S-Pedelec darf bis 45 Stundenkilometer unterstützen. Ein (definierter) Rückspiegel ist Pflicht.
Dirk Zedler ist Sachverständiger für Fahrräder und Pedelecs und Gründer des Prüfinstituts Zedler. Wir haben ihn gefragt, was das S-Pedelec technisch vom Pedelec unterscheidet.
MYBIKE: Welche technischen Besonderheiten muss das S-Pedelec aufweisen?
Zedler: S-Pedelecs sind Fahrzeuge, brauchen also eine Betriebserlaubnis. Von den Herstellern werden oft sehr hochwertige Bauteile bei diesen Fahrzeuge eingesetzt. Bei Wartungsarbeiten müssen hauptsächlich Originalersatzteile verwendet werden. Bei Reifen etwa braucht man Ersatzpneus derselben Dimensionen und mit Freigabe nach UN ECE-R 75. Genaueres zu Ersatzteilen gibt’s in unserem „Leitfaden für den Bauteiletausch bei S-Pedelecs“. Viele Pedelecs haben serienmäßig Fernlicht und Bremslicht, Tagfahrlicht ist Pflicht, Rückspiegel, Reflektoren, Beleuchtung des Versicherungskennzeichens und eine Hupe ebenso.
Muss das Fahrwerk eines schnellen Pedelecs anders konstruiert werden als ein Pedelec?
Die Wahrscheinlichkeit, in einen fordernden Fahrzustand zu kommen, ist bei einem Fahrzeug, das generell zügiger gefahren wird, signifikant höher. Seriöse Anbieter konstruieren mehr Reserven in die Fahrstabilität. Federgabel und breite Reifen sollten zur Grundausstattung gehören.
Sollte das S-Pedelec sich technisch noch in anderen Punkten vom Pedelec unterscheiden?
Die Kilometerleistungen liegen oft deutlich höher als beim Pedelec 25. Verschleiß ist daher ein riesiges Thema, das noch nicht alle Hersteller ernst nehmen. Die Bremsbeläge und -scheiben, Ketten und Ritzel orientieren sich noch an mechanischen Fahrrädern. Hier muss umgedacht werden.
Das Schweizer Unternehmen Flyer AG wurde Anfang der 1990er Jahre gegründet und war einer der Wegbereiter des Pedelecs. Seit sieben Jahren gehört Flyer zur Kölner ZEG (Zweirad-Einkaufsgenossenschaft).
Der Hersteller Riese und Müller produziert in Hessen ausschließlich Pedelecs und S-Pedelecs (Ausnahme: Faltrad Birdy). Laut Pressesprecher werden hier die 25er-Modelle so aufwendig und robust konstruiert, dass sie sich auch als Basis für S-Pedelecs (mit entsprechender Ausstattung) eignen.
Das Schweizer unternehmen MyStromer AG sieht sich als Wegbereiter der Mobilitätswende. Es stellt nur S-Pedelecs her und steht für schnelle Pendlerfahrzeuge wie kaum ein anderes Unternehmen.
HP Velotechnik ist einer der wenigen Trike-Hersteller, die ihre Fahrzeuge auch als S-Pedelec anbieten. Für Pendler mit langen Strecken – und sicheren Arbeitsrouten – sicherlich eine sinnvolle Alternative zum Zweirad. Hier gelten übrigens nochmals etwas andere rechtliche Vorschriften.