Timo Dillenberger
· 16.05.2024
Wer auch immer den Begriff Aero-Gravelbike ins Spiel brachte, hat der Radgattung damit keinen Gefallen in Sachen Image getan! Viele Offroadfreunde rümpfen bei dem Begriff die Nase. Aerodynamik und entspanntes Biken durch Feld und Flur haben wenig Schnittpunkte. Selbst wenn man richtig Gas gibt, findet dieses Vergnügen im Amateurbereich bei Geschwindigkeiten von durchschnittlich um die 22 oder 23 km/h statt, ein Bereich, in dem Aerodynamik eine winzige bis gar keine Rolle spielt. Damit sich tragflächenförmige Rahmen- und Lenkerprofile diesbezüglich lohnen würden, müsste man die Nadel durchweg über 30 oder gar 32 Stundenkilometer halten. Gravelweltmeister Matej Mohorič und seine Profikollegen können und tun das, obwohl sein Einsatzrad von Merida gar nicht so extreme Formen aufweist wie einige Mitbewerber.
Viel treffender sind oder wären Bezeichnungen wie Race- oder Speed-Gravelbikes für diese recht neue Gattung möglichst leichter, sportlicher und auf kürzere Strecken ausgelegter Modelle. Die Aeroformen von Rahmen oder Lenker sind eher die Sahnehaube, genau wie die Komplettintegration, also Innenverlegung, aller Leitungen oder Züge. Betrachtet man die Modelle am Markt oder unsere Auswahl hier, erkennt man auch oft direkte Ähnlichkeiten zu den Straßenrennrädern der entsprechenden Marke. Manchmal teilen sie sich sogar Komponenten wie die als Cockpit bezeichnete Fusion aus Vorbau und Lenker – schick und windschnittig, dafür kann man genauso schwer nachträglich die Sitzposition verändern wie Zusatzequipment, also Lampe oder Tasche, am stark ovalisierten Lenker befestigen.
Wie eingangs erwähnt, liegen Speed-Gravelbikes, was ihren Einsatzbereich angeht, zwischen Straßenrennrad und Cyclocross. Hohe Geschwindigkeiten und gleichmäßiges Tempo treffen auf feste bis lose und teils ruppige Untergründe. Hochtechnische Passagen mit Sprüngen und Trageelementen wie beim Crossen gehören nicht unbedingt dazu, komplett unbefestigte Wege und Downhills wie beim MTB auch nicht. Um für solche Strecken und die langsam zahlreicher werdenden Gravelrennen gerüstet zu sein, mussten die Rahmensets abspecken und sich strecken. Es gibt keine definierte Grenzen, aber unter neun Kilo sollten Speed-Gravelbikes schon wiegen.
Fast wichtiger: Die Geometrie muss eine weiter vorgeneigte Haltung als beim Allrounder zulassen, flache Sattelrohrwinkel oder Vorbauten unter 90 mm sind tabu, das Verhältnis von Stack und Reach im Bereich von etwa 1,5 oder darüber auch. Damit wird bei Speed-Gravelbikes das Oberrohr im Verhältnis zur Rahmenhöhe länger und man sitzt direkter überm Tretlager. Das schafft sowohl eine effizientere Biomechanik zum Treten als auch eine Gewichtsverteilung weiter auf dem Vorderrad für mehr Grip und wendigeres Fahrverhalten.
Natürlich gehört auch die windschnittigere Sitzhaltung elementar zum “Aero”-Gravel. Nachteil: Der Sitzkomfort leidet, und das Rad möchte weniger gerne geradeaus laufen. Für entspannte und vor allem längere Touren wäre das falsch. Viele Einsteiger empfinden das agile Handling als respekteinflößend, besonders auf unruhigem Untergrund. Und weil sie sich eh nicht als Reiserad oder Commuter eignen, spart man sich meist auch entsprechende Gewindeösen zur Gepäckbefestigung oder Kabelkanäle für Licht.
Im Prinzip landet man mit Speed-Gravelbikes wieder da, wo die Amerikaner einmal mit den Urvätern der Gravelbikes hinwollten: Es sind eigentlich Rennräder, die aufgrund größerer Reifenfreiheit und etwas stabilerer Bauweise auch auf schlechten Straßen und Wegen gut performen und deutlich weniger pannenanfällig sind. Neben mehr Grip und der Robustheit erlauben die dicken Reifen zusätzlich weniger Luftdruck und damit erheblich besseren Komfort als am Rennrad. Wie die TOUR kürzlich im Windkanal herausfand, machen sogar fünf bis sieben Millimeter Unterschied vom breiten zum schmalen Gravelreifen eine Aero-Ersparnis von ein paar Watt aus. Auf Racemodellen werden also eher Breiten um 40 mm gefahren.
Obwohl ihr Einsatzspektrum deutlich schmaler ist als z. B. bei den von uns getesteten Modellen, gehören die Aerogravels quasi ausnahmslos zur preislichen Speerspitze im Gesamtsegment. Leichtbau, Luftstromoptimierung und Top-Komponenten haben nun mal ihren Preis. Das heißt nicht, dass man mit so einem teuren Boliden automatisch das beste Rad für sich kauft. Auch wenn die Komfortwerte eines dieser Edel-Gravelbikes deutlich besser sind als beim entsprechenden Straßenpendant, auf Langstreckenkomfort und Alltagsnutzen wurde bei der Entwicklung keinerlei Fokus gelegt.
Diese Bikes sind sauschnell zu bewegen, wenn man zum einem technisch wie körperlich über entsprechende Fähigkeiten verfügt und wenn man zum anderen auf Laufruhe und hohe Berechenbarkeit des Fahrverhaltens verzichten kann. Für die bloße Aerodynamik etliche Hundert Euro mehr auszugeben, ist nur für trainierte und wettkampforientierte Biker lohnenswert. Rennradler, die mit einem Gravel liebäugeln, könnten überlegen, statt zwei teuren Boliden ein Aerogravel mit zweitem Laufradsatz und Straßenreifen anzuschaffen.
Selbstbewusst nennen die Belgier ihr Kanzo Fast das schnellste Gravelbike weltweit. Zumindest ist es das individuellste, online kann man sich sein Ridley-Rad fast Schraube für Schraube zusammenstellen, das Rahemenset startet bei 2.999 Euro. Sein Oberrohr dürfte das längste in der Offroadwelt sein, in Größe M misst es 56,5 cm, trotzdem bleibt der STR-Wert im orangen Bereich, weil das „lange“ Steuerrohr den Lenker anhebt. Mit gebeugten Armen sitzt man aber quasi waagerecht, der Vorbau ist sogar nach unten abgewinkelt! Laut Ridley gibt der tief ansetzende Hinterbau einen Rest Komfort.
Beim Felt Breed lukt dann doch die Bremsleitung unterm Cockpit hervor. Trotzdem wollten wir es vorstellen, seiner Wandelbarkeit wegen. Den schnittigen Aero-Rahmen mit den sündhaft teuren Zipp-Laufrädern kann man nämlich in ein Komfortbike verwandeln. Die Gabel kann gegen eine gefederte getauscht werden, ohne die Geometrie zu zerstören, die dicke, steife Sattelstütze kann eine dünnere mit Gummihülse ersetzen. Dieses Duo lässt kleine federnden Bewegungen zu. Und es ist das einzige Aerogravel, dass 50er Reifen zulässt. „Zwei Räder“ mit eTap-Schaltung zu dem Preis ist doch okay!
Das Rose Backroad FF ist brandneu, deutlich leichter und länger als sein Allroundpendant, aber nicht ganz so kompromisslos in Sachen Sitzposition oder Verzicht auf praktische Elemente. Der Sattel wurde vorverlegt, fast überm Tretlager hat man viel Power (Topmodell kommt inkl. Wattmessung), dafür ist der Oberkörperwinkel für Racerbikes human. Sehr gefällt uns das eigens entwickelte Gravel-Cockpit, sie bietet aufrechte, sportliche, breitere und schmale Lenkerpositionen. Züge sind natürlich komplett innen, Abenteuergadgets wie 45 Reifen und Provianttaschen blieben erhalten.
Die Traditionsmarke für Rennräder hat nur ein kleines Gravelsortiment, darunter aber eine Rennmaschine wie das Bianchi Impulso RC. Ihr Steuerrohr startet in Größe XS bei winzigen 10 cm Länge, und neben die Kettenstrebe passen Kurbeln bis 52 Zähne, für geländeorientierte Räder extrem viel. Die abgebildete Topversion RC kommt mit 2 x 12 Gängen, für sportliches Fahren ein Vorteil gegen Single-Speed-Bikes. Rahmenprofile, 44 mm hohe Laufräder und sportliche Sitzposition verheißen wenig Luftwiderstand, die steil stehende Gabel Wendigkeit. Inklusive Imagebonus nicht superteuer.
Als „Offroad-Dogma“ wird es auf der Website betitelt („Dogma“ heißt das Profi-Rennrad der Italiener). Dass am Rahmen quasi alles für den Windkanal getan wurde, sieht man dem Pinarello Grevil F9 mit bloßem Auge an; dass sogar die Gabelscheiden so in den Wind gestellt sind, dass sie den Strom um Unterrohr und eventuelle Flaschen herumleitet – für Gravelspeed vielleicht minimal übertrieben. Praxisnäher: der variable Radstand, mittels wendbarem Inlay in den Achsaufnahmen hinten kann das Rad wendiger oder stoischer gemacht werden. Mit lackierter Sattelstütze tod-schick, aber teuer.
Mit dem Merida Silex 10 K hätte Mohorič auch auf Weltreise gehen können. Die zivile Version des WM-Bike vereint Details aus Rennsport und Reise. Das schlanke Carbonrahmenset und die Reynolds-Carbonlaufräder drücken das Gewicht und verbessern Agilität und Luftstrom. Trotz Highend-Carbon wurden Fixpunkte für Gepäck und eine langstreckentaugliche, fast MTB-ähnliche Geometrie eingesetzt. Ab Werk ist eine elektrisch absenkbare Sattelstütze verbaut, top auf schweren Trails, genau wie das ebenfalls vom MTB entliehene X01-Schaltwerk, das die Kette straffer hält. Viel Rad für viel Geld.
Die Testräder vorne im Heft zeigen allesamt Lösungen, wie man Züge und Leitungen relativ sauber in den Rahmen leitet. Aerobikes treiben diese Integration auf die Spitze. Kabel und Leitungen verlaufen aus dem Griff direkt in das Cockpit und von da durch Rahmen und Gabel bis zu ihrem “Einsatzort”. Kabelage, die nicht offen im Wind steht, spart ähnlich viel Leistung wie Aerorahmen, ca. 10–14 %.
Den Nutzen der weit ausgestellten Unterlenker haben wir schon infrage gestellt. Am Aerorenner ergeben sie Sinn, nicht weil die Bügel unten breiter, sondern weil sie oben enger sind. Straßenfahrer nutzen heute viel schmalere Lenker, um sich gegen den Wind kleiner zu machen. Fürs Graveln gäbe das zu wenig Kontrolle. Oben sehr schmale und unten “normal” breite Lenker sind der Kompromiss.
Der Verzicht auf Komfort zugunsten von maximaler Kraftübertragung und Dynamik geht bis ins Detail. Neben Rahmen und Laufrädern sind im Allgemeinen auch Lenker, Vorbauten und Sattelstützen deutlich steifer als an Allroundern. Am Ridley Kanzo ist die Stütze sogar deutlich ovalisiert, das verbessert den Luftstrom, versteift aber genau in der Richtung, in der Biegsamkeit für Sitzkomfort sorgen würde.
In Größe M hat das Ridley Kanzo einen kurzen Radstand von 1026 mm, hauptsächlich wegen der kurzen Kettenstreben (Foto: das HR ragt weit in den Rahmen hinein) und dem steilen Lenkwinkel von 71,5 Grad. Solche Geometrien machen Speedgravelbikes zu Slalommaschinen, die aber beherrscht werden müssen. Besonders, weil das Oberrohr gleichzeitig lang ist wie am Rennrad, damit frontlastig.
Die Felgen an Matej Mohoričs Rad (Merida Silex) sind 60 mm hoch, aus Carbon, haben 24 Messerspeichen und einen Verkaufspreis von 2200 Euro. Dieser Leichtbau leidet natürlich auf Schotter mehr als 32-Loch Aluräder. 40 mm “schmale” Reifen schützen auch nur bedingt und ihr Federungskomfort hält sich auch in Grenzen. Aber: Die Kombi rollt schnell, und am Speedgravel geht man solche Kompromisse halt ein.