Timo Dillenberger
· 19.05.2024
Wenn man im Wald mit seinem Gravelbike einen Mountainbiker nach dem anderen stehen lässt, liegt das nicht zuletzt daran, dass man am Gravel alles Unnötige für solche gemäßigten Strecken weggelassen hat. Es ist eine Fahrmaschine, bei der die Arme und Beine des Piloten die Dämpfungsarbeit zumindest bei gröberen Schlägen übernehmen. Um den Rest kümmern sich höchstens noch die voluminösen Reifen.
Je nach Terrain, Zeit im Sattel oder Komfortansprüchen des Fahrers reicht das aber nicht immer aus. Ganz vereinzelt tauchen hier und da Modelle auf, die doch wieder “echte” Federelemente tragen. Dazu gehören in erster Linie Federgabeln, aber auch Dämpfer zwischen Gabel und Rahmen sowie Elastomer-Pads, die in den Hinterbau integriert werden. Streng genommen ist sogar die mit Absicht stark flexende Sattelstütze am Rose Backroad eine Federung, genau wie der “schwimmend” gelagerte Rahmenknoten am Hinterbau des Trek Checkpoint in der Carbonvariante.
Wer sein Gravelbike gern mit zusätzlichem Komfort ausstatten würde, muss jetzt stark sein. Nachträglich ist das nicht einfach. Eine gefederte Sattelstütze wäre die simpelste Lösung, wenn die originale Stütze denn rund ist. Gerade bei Modellen mit flachem Sitzrohrwinkel unter 73,5 Grad funktioniert dieses Tuning gut, das zusätzliche Gewicht in dieser Schwerpunktlage ist aber durchaus negativ spürbar. Eine Federgabel nachzurüsten ändert dagegen die komplette Geometrie des Rades.
Ein im letzten Jahr getestetes Gravel mit Federgabel erwies sich als hypernervös und ganz schlecht ausbalanciert, der Rahmen war wohl nicht dafür konstruiert worden. Zusätzlich zur Reifenfreiheit erhöhen die Federbeine nämlich den vorderen Teil eines Rahmens. Um fahrbar zu bleiben, muss die Geometrie von vorneherein an eine Federgabel angepasst sein.
Für mehr Dämpfung am Lenker gäbe es zum Beispiel den gefederten Vorbau von Kinekt, der dämpft mittlere Schläge, aber leider auch zackige Lenkbefehle und harte Antritte. Für ein wenig mehr Komfort an den Händen bietet unter anderem Ergon Gelpads an, die unters Lenkerband gewickelt Stöße etwas mildern, Sparfüchse können statt extra gepolstertem Lenkerband auch günstiges einfach doppelt wickeln.
Hersteller wie Giant, Canyon, Trek, Specialized, BMC oder YT haben wegen dieser Nachrüstproblematik ihre gefederten Gravelbikes von Grund auf neu konstruiert. Was ihnen zur Steigerung des Komforts eingefallen ist, reicht von innovativ bis genial. Wobei: Den arretierbaren flachen Dämpfer zwischen Gabelkrone und Steuerlager kennen wir schon aus den 90ern, wo er am Straßenrennrad bei Rennen über brutal ruppige Pflasterstraßen in Frankreich seine Dienste tat. Zum Gravelbike passt er genauso gut, wenn sogar besser.
Die Federung ist grundsätzlich ein Kompromiss. Mit Absicht etwas flexibler konstruierte Standardkomponenten wie biegsame oder geteilte Sattelstützen, extradünne Streben im Hinterbau oder weichere Lenkerbügel haben wenig negativen Einfluss auf das Fahrverhalten des Rades, soften aber Bodenwellen auch nur ein wenig ab. Giant, Koga und Canyon haben so in unserem Test gute Punkte gesammelt. Das gilt auch für Rahmen mit guten Komfortwerten.
Sind echte Dämpfungselemente mit Luftbälgen oder Schraubenfedern verbaut, bedeutet das größere Federwege und mehr Ausgleich von Unebenheiten, dafür steigt das Gewicht, zusätzliche Bauteile können kaputtgehen und das Handling ändert sich. Ein Gravelbike mit vollgefedertem Rahmen scheint es (noch) nicht zu geben. Laut Giant seien Fullys im Leichtbausegment nicht mehr zu finden, weil der bewegliche Mechanismus markenübergreifend nicht die gewünschte Zuverlässigkeit aufwies.
Ob solche prominenten Federelemente am Gravelbike nötig sind? Jein! Je nach Einsatzzweck ist der Komfort wichtiger oder die Dynamik des Rades. An der Masse der Modelle wird man Federgabeln wohl nicht finden, die meisten werden aber auch nie hartes Gelände sehen. Auf Touren mit ungewissem Terrain sind sie aber eine Alternative, genau wie an Pendlerbikes. Unauffällige “Addons” wie am BMC oder Cinelli könnten sich stärker verbreiten, sie ändern weder die sportliche Linie des Bikes noch spürt man sie arg beim Handling. Merke: Durchgeschüttelt werden ermüdet ebenso wie Pedalieren.
Konzeptionell sticht das Specialized Diverge STR heraus. Der Dämpfer unterm Steuerrohr funktioniert wie der erwähnte aus den 90ern. Komplett neu ist der auf den Sattel wirkende. Der Dämpfer liegt waagerecht und ist im Oberrohr verbaut. Sein Kopf ist mit der überlangen Sattelstütze verbunden, die im Bereich des Tretlagers beweglich gelagert ist. Bis zu zwei Zentimeter kann sich der Dämpfer in und gegen die Fahrtrichtung bewegen.
Der Sattel federt also auf einer Kreisbahn nach unten wie nach hinten, wobei seine Entfernung zu den Pedalen stets gleich bleibt, man verliert keine Tretenergie. Idee hinter der Anordnung: Auch zu überfahrende Hindernisse schlagen nicht plötzlich von unten gegen das Hinterrad. Genauso “prallen” ja beide Räder horizontal gegen eine Bodenwelle, Bordstein oder Wurzel. Die bidirektionale Dämpfung mildert den Schlag in beiden Richtungen ab. Wie man an der Sporthochschule Köln aktuell erforscht, verlangsamt das nicht nur die Ermüdung des Fahrers, man kann Hindernisse auch dynamischer überfahren.
gerade geöffnet: >> Gravel-Exoten: Mit Federn & Stoßdämpfern - 6 gefederte Gravelbikes in der Übersicht
Der Urs ist das Abenteuerbike der Schweizer. Ihn gibt es nochmals unterteilt in die leichtere Performance- und die langstreckentauglichere LT-Version. Je nach Preisklasse sind ein bis alle drei Teile der hauseigenen Micro Travel-Technologie integriert. Kernstück ist der Elastomer-Puffer, der zwischen Sattelstreben und Hauptrahmen steckt und Erschütterungen vom Sattel weitestgehend fernhält. Zwischen Rahmen und Gabel sitzt eine steife Coil-Feder samt hydraulischem Dämpfer und 20 mm Federweg, die zusammen mit dem leicht federnden Vorbau für Lenkerkomfort sorgt.
Während wir beim Checkpoint ALR im Test noch den Fahrkomfort bemängelt haben, weisen seine Schwestermodelle aus Carbon statt Alu schon das recht neue IsoSpeed-Modul im Rahmen auf. Es funktioniert ganz ähnlich dem Dämpfer im Diverge STR, das Sattelrohr ist am Rahmenknoten entkoppelt, kann also über die komplette Länge vom Tretlager bis zum Sattel flexen, ein Mechanismus im Inneren begrenzt das auf wenige Millimeter. Da man auf den SL- und SLR-Modellen etwas aufrechter sitzt, kommt dem gesteigerten Sattelkomfort hier auch mehr Bedeutung zu.
Der Exot unter Exoten trägt klar Mountainbike-Gene. Der Reach im STR-Wert stammt eher aus dem Oberrohr, weniger aus dem kurzen MTB-Vorbau. Die Rudy Ultimate-Federgabel ist die gleiche wie im Giant unten, nur steht sie mit 69 Grad steiler, das soll in ruppigem Gelände mehr Sicherheit verleihen. Ihre 40 mm Federweg wirken dafür sehr senkrecht, die Luftbälge sollten hier etwas weicher eingestellt sein. Der Hinterbau des Carbonrahmens ist auf seitliche Steifigkeit bei leichtem vertikalem Flex ausgelegt. Die verlängerte Radbox ist eher Designelement als Schutzblech.
Future-Shock 2.0 nennt Specialized die Kombination aus Dämpfer im Oberrohr und der Federung, die den Vorbau über 20 mm entlang des Gabelschaftes gleiten lässt. Videos zeigen, dass die Teile dabei nicht gegeneinander verkanten und leichtgängig einfedern. Wenn es nicht nötig ist, kann man den Dämpfer komplett sperren, das gilt auch für den im Heck. Den Fahrer abfedern und nicht den Rahmen, ist das Kredo der Konstruktion, die natürlich ihren Preis hat. Ein hoch ergonomischer Lenker, optional 26-Zoll-Schlappen oder das Staufach im Unterrohr trösten darüber hinweg.
Die Stahlrahmen von Cinelli werden in Italien aus wertigen 3-fach konifizierten Columbusrohren gefertigt und sind echte Handwerkskunst. Sehr spezielle Kettenstreben und die laut Hersteller steifsten Gabelscheiden geben Platz für Reifen bis 47 mm Breite. Der Versatz von Hinterbaustreben und Oberrohr soll auch am Heck etwas Komfort bringen. Die Geometrie ist auf Langstrecken ausgerichtet, der Rahmen nicht extrem kurz, man sitz laut Datenblatt aber eher aufrecht. Der Dämpfer unterm Steuerrohr mit 20 mm Federweg ist eher für abenteuerliche Wege als harte Downhills gedacht.
Das nagelneue Revolt mit Federgabel entspricht optisch sehr dem Schwestermodell in unserem Test. Zum standardmäßig komfortablen D-Fuse genannten Heck mit seinen dünnen, flexibleren Streben kommt hier der Komfort aus 40 mm Federweg der Rockshox Rudy Ultimate-Gabel. Es ist nicht der baugleiche Rahmen des Revolt, der STR-Wert weist trotz langer Gabelscheiden auf eine leicht gestrecktere Geometrie hin, man sitzt also sportlicher. Top: Selbst in der günstigsten Variante gehört schon eine gefederte und absenkbare Sattelstütze zur Grundausstattung.
Insgesamt 30 mm Federweg hat der im Oberrohr verbaute Dämpfer beim Specialized, der auf das innere Sattelrohr wirkt. Das ist erst knapp überm Tretlager fixiert und bewegt sich längsseits im äußeren Rahmenrohr. Durch den tiefen Drehpunkt, die verstellbare Dämpferhärte und die waagerechte Ausrichtung soll es weder Wippbewegungen beim Treten noch Aufschaukeln an Bodenwellen geben.
Schon mal gesehen? Einen Dämpfer zwischen Gabelkrone und Steuerrohr wie beim Cinelli Nemo hat Cannondale in den 90ern an Rennrädern schon versucht. Am Gravelbike werden sie sich wohl viel eher durchsetzen. Der hydraulische Dämpfer an der speziell entwickelten, extrasteifen HiRide Sterra-Gabel taucht bis zu 20 mm ein und ist wartungsfrei. Mehr Federweg brächte zu viel Bewegung ins System.
Klassische Federgabeln mit hydraulischen oder pneumatischen Dämpfern sieht man bisher erst an drei oder vier Modellen. Zum einen sind solche “offensichtlichen Hilfsmittel” bei Radenthusiasten noch verpönt, zum anderen braucht es Rahmen mit entsprechender Geometrie und besonders leichte Gabeln mit nur 20 bis 40 mm Federweg wie die Rockshox Rudy Ultimate-Luftfedergabel am YT Szepter.
Am BMC Urs arbeitet eines der leichtesten Dämpfungskonzepte. Elastische Materialien in den Rahmen einzulassen gab‘s früher schon, Hinterbau und Sattelrohr komplett zu entkoppeln, und zwar nur dort, ist neu. Die Kettenstreben sind nicht drehbar gelagert, können dank des Elastomers aber viel freier flexen als bei starren Dreiecksformen. Führungsstäbe durch den Dämpfer verhindern seitlichen Führungsverlust.
Bei sportlichen Rädern ergeben sogenannte “Lock out”-Funktionen noch mehr Sinn als bei Geländeboliden. Mit einer Handbewegung wird die Federungsfunktion gesperrt, um auf ebenen Wegen unnötige Neigebewegungen zu verhindern. Am Specialized Diverge z. B. wird der hydraulische Dämpfer unterm Vorbau namens “Future Shock 2.0” mit einer leichten Drehung zur höher aufragenden Vorbaukappe.