Georg Bleicher
· 21.10.2024
Der Dropbar, vulgo Rennlenker, hat seinen Reiz: Die aerodynamische Sitzposition macht bei Speed das Leben leichter – nicht nur im Gegenwind. Vor allem aber schafft der Lenker abwechslungsreiche Griffpositionen und hilft so, auf langen Strecken Verspannungen zu vermeiden und für verschiedene Einsatzbereiche den richtigen “Anpack” zu haben. Aber warum sind diese Rennräder mit leicht profilierten, etwas breiteren Schlappen seit Jahren im Trend und erobern jetzt auch den E-Bike-Sektor?
Für viele, die bislang keine Erfahrung damit haben, ist der Dropbar tatsächlich oft ein Unsicherheitsfaktor. Fürs Gravelbike selbst gibt’s viele Argumente, allen voran die vielfältigen Einsatzbereiche und die Möglichkeit weiterzufahren, wo der Asphalt dem Waldboden weicht – was uns immer auch einen Hauch von Abenteuer verspricht. Und wer es nicht kennt, mit einem leicht stollenbewehrten, sicher haftenden Reifen im Flow über einen schotterigen Feldweg zu fegen, sollte es jenseits vieler erklärender Worte einfach mal probieren.
Fürs Elektrisieren gibt’s noch einen wichtigen Grund mehr: Graveln über Stock und Stein braucht mehr Kraft als Straßen fahren, und warum sollte man sich dabei – oder auf Pendlerstrecken, für die sich die Räder auch anbieten – nicht unterstützen lassen?
Auf den ersten Blick sind sich unsere Kandidaten sehr ähnlich, und es sieht außerdem so aus, als hätten die E-Gravelbike-Hersteller nur auf den Bosch-SX-Motor gewartet: Vier der sechs Testkandidaten setzten auf den kleinen Mittelmotor vom Marktführer, die anderen beiden Marken, Desiknio und Urwahn, auf das nach Angaben des Herstellers leichteste System x20 von Autozulieferer Mahle. Zwei Motorsysteme, die sich an zwei verschiedene Fahrertypen wenden, wie man schnell merkt: Wer gern grundsätzlich auf eine sehr harmonische Dauerunterstützung spekuliert, die auch am Berg viel Power bietet, ist lieber mit dem Bosch SX unterwegs.
Der andere Typ fährt gern auch mal längere ebene Passagen ohne Unterstützung und gönnt sich den Zusatzschub, wenn die Ausdauer nachlässt, es technisch schwieriger oder steiler wird. Dabei ist der Mahle X20 Motor mit nur etwa 1,4 Kilogramm Gewicht leichter als eine Rohloff-Nabenschaltung. Insgesamt bringt das System 3,2 Kilogramm auf die Waage. Unser Desiknio Endorphin kommt mit Pedalen so auf gerade einmal 13 Kilogramm. In der Ebene rollt das Rad tatsächlich wie ein Bio-Bike – Feinfühlige monieren schlimmstenfalls eine etwas schwerere Hinterhand als beim Bio-Graveler.
Beim Bosch-SX-System ist das Hauptgewicht in der Radmitte (Tretlager und Unterrohr), auf etwa 4,5 Kilogramm summiert sich das Motorgewicht mit einem 400-Wattstunden-Akku der Stuttgarter – das bedeutet dann aber auch etwa 160 Wattstunden Kapazität mehr als bei den Mahle-Antrieben. Das Advanced mit Bosch als das zweite Leichtgewicht mit gut 14 Kilo ist auch noch gelegentlich motorfrei seinen Spaß, die Agilität des Desiknio liefert es aber nicht.
Die Harmonie zwischen Motor und Mensch, die der Bosch-Antrieb schafft, vor allem beim Antritt oder am Berg, ist vom Heckantrieb nicht erreichbar. Bei ihm schlägt eher das geringe Gewicht und der leichte Lauf des Rads ohne Unterstützung zu Buche – und das sehr leise Fahrgeräusch. Trotzdem: Wer schon mal durch den Wald gegravelt ist, den irritiert das Säuseln des Antriebs zunächst und der Flow durch die Schotterwege fühlt sich, da daran lässt sich auch wenig rütteln, nicht so ganz so harmonisch an wie aus rein eigener Kraft auf einem 9-Kilo-Rad. Denkbar ist aber, dass der Gravel-Einsteiger das anders empfindet und den Flow, gerade in hügeligen Passagen viel mehr genießt als der Gravel-Oldie.
Bei den Bosch-Motoren kommt bauartbedingt dazu, dass selbst sensible Fahrernaturen kaum mal einen geräuschlosen Gangwechsel hinbringen – schon gar nicht unter Last. Das ist schade. “Smart” sind beide Systeme, wobei der Marktführer derzeit ein deutlich weiter reichendes Spektrum von Individualisierbarkeit und Einstellbarkeit sowie Konnektivität bietet.
Bei Mahle dürfte sich in nächster Zeit noch einiges weiterentwickeln, vorrangig ist derzeit die Customisierbarkeit der einzelnen Unterstützungsstufen. Wünschenswert wäre für den Mahle-Motor die Möglichkeit, vom Lenker aus Zugriff auf die Antriebssteuerung zu haben. Der Button auf dem Oberrohr ist unpraktisch, vor allem wenn man auf einer kniffligen Passage flott unterwegs ist. Hier könnte Mahle nachrüsten. Rekuperieren, also beim Bremsen Strom “tanken”, kann übrigens keiner dieser Antriebe.
Die Profis pedalieren noch bei 70 Stundenkilometer locker mit – dazu braucht es einen langen, großen Gang. Wer keine Radrennen fährt, kommt selten in die Situation mit so hohen Geschwindigkeiten, und wenn, dann nur bergab. Dabei konzentriert man sich lieber auf seine Sicherheit als darauf, noch schneller zu werden. Fakt ist, dass das oder die kleinsten Ritzel zwar genutzt werden, meist aber mit sehr kleiner Trittfrequenz. 65 bis 80 Umdrehungen pro Minute sollten es in puncto Gelenkgesundheit und Effizienz schon sein. Daher der Tipp: Achten Sie darauf, dass vor allem ausreichend kleine Gänge (bei Kettenschaltungen: große Ritzel) vorhanden sind.
Eine Untersetzung – das größte Ritzel ist hier größer als das Kettenblatt – sollte möglich sein. Und auch wenn es nicht extrem steil ist: Wer bergauf gut mithilft, spart Strom. Bei unseren Bosch-SX-Modellen kommt hinzu: Die abrufbare Motorleistung wächst mit der Trittfrequenz! Also: kleinere Gänge rein, und rund geht’s! Abgesehen vom Centurion- und dem Urwahn-Graveler – der mit dem breit angelegten Pinion-Getriebe ohnehin auch noch wartungsfrei unterwegs ist – wünschten wir uns die Schaltgruppe jeweils um eine Stufe höher. Der Unterschied fällt meist im Neuzustand kaum auf, klar ist aber, dass höherwertige Schaltgruppen robuster sind und länger exakt schalten. Und am E-Gravelbike wird die Übersetzung häufig gewechselt.
Wichtig ist eine Untersetzung (= das große Ritzel ist größer als der Zahnkranz) für starke Steigungen. Im schnellen Bereich werden meist zu lange, nur bei schnellen Bergabfahrten nutzbare Gänge angeboten. Die Pinion-Schaltung am Urwahn bietet eine sehr breite interne Übersetzung an.
Ohne Gepäckträger auf große Tour? Geht, ist aber etwas aufwendiger als beim Trekkingrad. Warum dann keinen Träger? Gepäck auf dem Hinterrad macht das Bike hecklastig, das Handling vor allem auf unebenen Terrain und Schotter wird deutlich schwieriger. Außerdem ist ein starrer Träger auf einem ungefederten Rad bei schwierigem Terrain dem Gepäck nicht zuträglich. Daher hat man zunächst Taschen zum Anschnallen und mittlerweile auch viele zum Anschrauben am eigens dafür an Rahmen und Gabeln befindlichen Ösen entwickelt. Mit diesen Taschen verteilt man das Gewicht relativ gleichmäßig über das ganze Rad. Das ist beim Ein- und Auspacken deutlich aufwendiger als bei klassischen Packtaschen, macht sich aber stark im Handling bemerkbar.
Sauber bepackte E-Gravelbikes bieten nahezu denselben Fahrspaß und dasselbe Handling wie Räder ohne Gepäck, allerdings sollte man sich beim Packen mehr einschränken als mit Gepäcktaschen – und sich ein System für die jeweilige Zuordnung eines Gepäckstücks zu einer Tasche zuzulegen hilft auch. Wir zeigen als Beispiele für Bikepacking-Taschen Modelle von drei Herstellern: Von Ortlieb ist das kleine AccessoryPack für die Lenkerbefestigung (kann auch auf eine Frontrolle geschnallt werden), von Vaude die Lenkertasche Trailguide, und Decathlon stellte uns die wasserdichte “Arschrakete” ADVT 900 mit entsprechender Aufnahme für die Fotos zur Verfügung.
Natürlich sind nicht nur Sitzposition und Lenkerhaltung im Vergleich zum Trekking- oder Mountainbike unterschiedlich: Das klassische Gravelbike hat keine Federgabel oder Heckfederung, ein Graveler ist schon mit der Ausstattung wie an unserem Moustache-Testrad, also mit Federstütze und verstellbarem Vorbau, maximal komfortorientiert. Sprünge, sehr grobes Wurzelwerk oder Stufen stellen die Grenze für den Graveler dar.
Ein Gravelbike voll auszunutzen heißt für viele: auf einem mehr oder minder ebenen Schotter- oder Feldweg dahinzugleiten, auch mal eine Matschpassage mit Tempo zu kreuzen und durch die Kurven zu schwingen. Abstecher auf MTB-Trails, sofern nicht zu technisch, sind je nach Gravelbike-Charakter auch gut möglich. Der Flow und die Leichtigkeit, die mit Motor auch an Steigungen möglich ist, stellt für viele den eigentlichen Reiz des Rads dar. Vor allem, wenn’s in enge Kurven oder leicht technisches Terrain geht, macht sich das Gewicht des Rads bemerkbar.
Für unseren Test der E-Gravelbikes heißt das: Unabhängig von den Handling-Eigenschaften der einzelnen Räder ist der Spaßfaktor umso größer, je geringer das Gewicht ist. Was typisch sportliches Gravelbiken anbelangt, ist das Desiknio auch deshalb klar erste Wahl, und das nicht ganz so quirlig veranlagte Advanced, ebenfalls mit feinem Carbonframe, ist ihm dicht auf den Fersen. Auch wenn sie keine sonstige Alltagsausstattung haben, sind mehrere Räder mit Lichtelementen ausgestattet. Das Bulls glänzt mit einer eigenen eindrucksvollen Kreation an beiden Achsaufnahmen, andere haben fast unsichtbare, aber gerade für ihren Zweck äußerst wirkungsvolle Lampen und Rückleuchten am Rad – die wie am Centurion mit der feinen Supernova Mini-3-Leuchte auch deutlich in die Kaufpreise eingehen.
Sinnvoll? Solange sie wie an unseren E-Gravelbikes bruchsicher und gewichtsmäßig unauffällig angebracht sind, ja. Wieso Stecklichter mitführen, wenn ich sehr hochwertiges Licht mit geringem Zusatzgewicht und vom Akku gespeist immer dabeihaben kann? Wichtig ist noch: Verzichte ich für ein Licht unterhalb des Lenkerbügels auf die Lenkerrolle? Oder gibt es eine andere Möglichkeit beim jeweiligen Rad, das Licht anzubringen?
Früher nannte man ein Trekkingrad ganz ohne Straßenausstattung auch Crosser oder, mit profillosen Reifen, Fitnessbike. Es hatte einen schmalen, geraden Lenker und wirkte wie ein MTB mit bestollten Rennradreifen. Dass sich jetzt der Gravellenker als Abwandlung des Rennlenkers durchgesetzt hat, liegt wohl an seinen vielen Möglichkeiten und der sportlichen, aerodynamischen Sitzposition, die sich durch diesen Lenker ergibt.
Wer noch nie Dropbar gefahren ist, braucht einige Zeit zur Eingewöhnung – zunächst kann durch die ungewohnte Haltung das Gefühl auftreten, dass das Handling weniger sicher ist. Das ist meist Gewöhnungssache. Die gestrecktere Sitzposition und das veränderte Lenkverhalten will “eintrainiert” werden. Wer bei längeren Fahrten Probleme mit den Handgelenken, dem Nacken oder Schultern bekommt, sollte seine Sitzposition vom erfahrenen Händler oder Bike-Fitter kontrollieren lassen. Manchmal dauert es auch einfach Zeit, bis sich die Muskeln an die veränderte Sitzposition gewöhnen und sich entsprechend anpassen – vor allem bei Menschen jenseits der 40 Jahre.
Wer den leichtfüßigen Flow auf Schotter liebt und dazu möglichst wenig Gewicht unterm Hintern haben will, ist mit dem Mahle-bestückten Desiknio sehr gut bedient. Nicht ganz so leichtfüßig rollt das Urwahn – das aber den ganz besonderen Flair echter Exklusivität und zugleich Komfort und Wartungsarmut mit sich bringt.
Wer vielleicht vom MTB kommt und auch im ruppigen Gelände bequem fahren will, hat mit dem Moustache einen guten Partner, wofür man etwas mehr Gewicht in Kauf nehmen muss. Ein sehr ausgewogenes Fahrwerk bieten das Centurion – mit hoher Bikepacking-Affinität – und das ergonomisch auch sportlich orientierte, sehr leichte Advanced, das die Roll-Eigenschaften des Desiknio unterstützungsfrei nur knapp nicht erreicht. Das nagelneue Bulls ist gewichtsmäßig das Schlusslicht, aber mit den breiten Reifen und vielen Adapter-Möglichkeiten ein robustes Bikepaking-Rad und immerhin das günstigste Rad im Test.
Alle unsere E-Gravelbikes sind mit Schutzblechen und Träger ausstattbar, einige gibt es sogar in Straßenversionen fertig zu kaufen, womit sie für City und Alltag durchwegs geeignet sind. Wichtige Nebensache dazu: der Ständer. Viele Leuten wollen im Alltag keinesfalls auf ihn verzichten, und nicht an jedem Rad lässt sich einer montieren. Achtung: Wir sind bei der Alltagseignung in den Grafiken allerdings von der tatsächlichen Ausstattung der Räder ausgegangen.
Sie merken selbst: Die Räder sind, abgesehen von zwei unterschiedlichen Motorcharakteristiken, qualitativ nah beieinander; die Noten werden außerdem von Faktoren mitbestimmt, die im Gelände nicht für jeden wichtig sind – etwa Komfort. Unser Tipp daher: Entscheiden Sie vor allem nach der hauptsächlichen Nutzung des Bikes und ihrem Spaßfaktor. Den können Sie garantiert bei der ausgiebigen Testfahrt sehr gut eruieren.
Nicht aufgeführt: Kategorie “Service” – 5 Prozent Anteil. 5- bzw. 6-Jahres-Garantien gibt es bei allen Herstellern auf Rahmen bzw. Rahmen und Gabeln (Ausnahme: Bulls, Gewährleistung von zwei Jahren). Wir haben bei diesem Sportrad-Test unsere Gewichtungen hin zum Fahren verschoben und Faktoren wie Laden und Abstellen und zum Beispiel Komfort geringer gewertet. Auch gab es nur ein geringes Plus bei einer Lichtanlage. Die Bewertungen sind so nicht mit den anderen MYBIKE-Schemata vergleichbar.
*Die Reichweitenangabe bezieht sich auf den mittleren Unterstützungsmodus bei aktivem Fahrstil.