Eines gleich vorweg: Die Race-Allrounder auf den folgenden Seiten sind teuer. Sehr teuer, um genau zu sein. Schon das günstigste Rad kostet 7299 Euro, für den teuersten Testteilnehmer wird mehr als das Doppelte fällig. Nicht immer lassen Preisschilder im XXL-Format Rückschlüsse auf die Qualität eines Renners und damit eine erstklassige Note zu. In diesem Vergleichstest allerdings schon: Die 13 Modelle von Cannondale bis Van Rysel verkörpern die aktuelle Crème de la Crème unter den Wettkampfrädern. Keine der Rennmaschinen hat bei der Gesamtnote eine Zwei vor dem Komma stehen, drei Modelle verdienen und teilen sich gar den Titel als bestes Wettkampfrad im TOUR-Test.
Die Formel-1-Boliden unter den Rennrädern eint der Anspruch, möglichst schnell von A nach B zu kommen. In den vergangenen Jahren antworteten die Hersteller darauf mit schnellen Spezialisten, die klar dem Aerodynamik-Diktat unterlagen und dabei das eine oder andere Gramm zu viel bewusst in Kauf nahmen. Leichte Rennräder mit klassischem Design hatten es seither schwer. Sowohl bei den Profis, die die Aerodynamik als rennentscheidenden Vorteil erkannt haben, als auch bei Hobbysportlern, die von der neuen Kategorie angezogen werden und ihren Vorbildern nacheifern. In jüngerer Vergangenheit vollzieht die Branche allerdings einen Kurswechsel. Die Erfolgsformel “Aero ist Trumpf” besteht zwar weiter, die Prioritäten sind aber nicht mehr so klar verteilt und das Gewicht rückt wieder mehr in den Fokus.
Dabei liegt die Geburtsstunde der sogenannten Race-Allrounder eigentlich schon mehr als 15 Jahre zurück; angesichts des rasanten technischen Fortschritts sind das mehrere Generationen. Als Pinarello das Dogma 60.1 präsentierte, steckte die Kategorie bei vielen Herstellern noch in den Kinderschuhen. Das Ur-Modell des heutigen Arbeitsgeräts von Geraint Thomas & Co. (Ineos Grenadiers) vereinte erstmals Leichtbau mit aerodynamischen Elementen und ebnete den Weg für weitere Multitalente. Mit dem ersten Scott Foil fand sich schnell ein Nachahmer, spätestens mit dem Vorgänger des aktuellen Specialized S-Works Tarmac SL8 war der Trend gesetzt.
Neue Wettkampfräder werden zwar weiterhin konsequent auf gute Aerodynamik hin entwickelt. Eines der wichtigsten Kriterien ist damit erfüllt. Dank neuer Fertigungstechnologien und exklusiver Carbonqualitäten stellen die Hersteller inzwischen aber auch deutlich leichtere Renner auf die Reifen – im Testfeld bleiben sieben Modelle unter sieben Kilogramm. Dass in fahrfertigem Zustand sogar das UCI-Gewichtslimit erreichbar ist, zeigt das Specialized. Inklusive eines Pedalsatzes (225 Gramm), der bei unseren gewogenen Gewichten noch fehlt, liegt die Profiversion des von Red Bull-Bora-Hansgrohe und Soudal Quick-Step gefahrenen Rades immer noch ein paar Gramm unter 6,8 Kilo.
Die Top-Allrounder, zugeschnitten auf die besten Profis der Welt, sind dadurch auf vielen Streckenprofilen schnell und machen den Wechsel zwischen einem leichten Bergrad und einer windschnittigen Speed-Waffe obsolet. Ein Paradebeispiel für die gelungene Symbiose aus Gewicht und Aerodynamik ist das Scott. Mit 6940 Gramm erzielt das Foil RC Ultimate beim Gewicht “nur” einen Mittelfeldplatz, fährt den meisten Konkurrenten aber dank erstklassiger Aerodynamik von 203 Watt bei 45 km/h davon. Nur das Storck ist noch schneller. Mit 198 Watt bei Renntempo stellt das Aerfast.5 Pro sogar einen neuen Bestwert im TOUR-Test auf. Es löst damit das Simplon Pride II (199 Watt) ab und fährt in verschiedenen Szenarien an der Spitze, wie unsere Simulationen zeigen.
Die Zuspitzung erkauft sich der neue Rekordhalter allerdings mit dem höchsten Gesamtgewicht im Testfeld, wodurch das Storck bei hochprozentigen Anstiegen Zeit einbüßt. Wie diffizil die Entwicklung eines Alleskönner-Rennrades ist, zeigt mit dem Trek ein äußerst prominenter Vertreter. Galt das Madone SLR bislang als Experte für Highspeed, verabschiedete sich der US-Hersteller mit der achten Generation von diesem Ansatz und stellt einen Allrounder vor. Die starke Aerodynamik blieb dabei auf der Strecke, mit 216 Watt kann das Profirad von Lidl-Trek nicht mehr mit den schnellsten Maschinen mithalten. Auch auf der Waage wird das einstige Vorzeigemodell von der Konkurrenz um Canyon, Giant, Scott oder Specialized abgehängt. Großen Anteil daran haben die vergleichsweise schweren Laufräder der Eigenmarke Bontrager.
Speziell die Race-Allrounder von Factor oder Scott zeigen, dass es auch anders geht. Obwohl die Rahmen-Sets beider Räder wegen der klaren Fokussierung auf die Aerodynamik relativ schwer sind, senken leichte und schnelle Laufräder mit Felgen und Speichen aus Carbon das Gewicht.
Die Rangliste zeigt, dass die Rad-Kategorien technisch näher zusammenrücken. Cube und Giant etwa sind einst explizit als Aero-Rennräder angetreten, hingegen Cannondale und Van Rysel als Vertreter der Leichtbauzunft. Inzwischen präsentiert sich das Ranking im eng gestaffelten Mittelfeld bunt gemischt: Die Leichten werden schneller, die Schnellen leichter.
Bei der Rahmensteifigkeit als drittem, entscheidendem Qualitätskriterium haben die Hersteller ihre Hausaufgaben größtenteils gemacht. Erwähnenswert ist vor allem das Giant, das bei System- und Tretlagersteifigkeit neue Maßstäbe setzt und sich wie aus einem Guss fahren lässt. Auch das Specialized verdient sich Bestnoten und erweist sich als extrem fahrstabil und antrittsstark. Gleichzeitig offenbart das Testfeld, dass es eines hohen technischen und finanziellen Aufwands bedarf, um Carbonrohre bzw. -rahmen nicht nur leicht und aerodynamisch, sondern auch verwindungssteif zu konstruieren.
Am meisten fällt das Factor gegenüber der High-End-Konkurrenz ab. Ausgezehrt Profi-Fahrer wie Hugo Houle (Israel Premier-Tech), dessen Ostro VAM uns als Testrad diente, können damit umgehen. Unsere Praxistests zeigen jedoch, dass schon kleinste Schwächen bei der Frontsteifigkeit in ein etwas schwammiges Lenkverhalten bei hohen Geschwindigkeiten münden können.
Auf viel Federkomfort hingegen legen nicht alle Hersteller wert, die Renngeräte sind tendenziell eher straff abgestimmt. Es gibt aber Ausnahmen. Scott und Cannondale beispielsweise gelingt ein guter Kompromiss, indem nachgiebige Carbonstützen im Rahmen stecken, die verhältnismäßig viel Federweg bieten. Viele Marken kompensieren die Systemhärte zudem mit breiteren Reifen. 28 Millimeter sind Standard, auf modernen Carbonfelgen dehnen sich die Pneus meist noch etwas weiter aus. Mit bis zu 32 Millimeter breiten Gummis lassen sich die Boliden für ruppiges Terrain wappnen. Schließlich soll ein Allrounder per Definition nicht nur schnell und leicht sein, sondern im Extremfall auch knüppelharte Pavés meistern.
Neben den hochwertigen Tubeless-Reifen zeichnen sich alle Kandidaten außerdem durch beste Antriebskomponenten von Shimano oder SRAM aus. Sowohl Dura-Ace Di2 als auch Red AXS sind über alle Zweifel erhaben und rennmäßig übersetzt. Am Storck mit einem großen Mono-Kettenblatt derart stramm, dass man schon einige Kilometer in den Beinen haben sollte, um die Kurbel bergauf noch rotieren zu lassen. Ungewöhnlich ist die Getriebewahl am Pinarello, dessen Kompaktkurbel mit dem eigentlichen Renncharakter des Dogma F fremdelt. Merkwürdig finden wir, dass einige Hersteller angesichts der mitunter fantastischen Preise auf einen Leistungsmesser verzichten.
Die fabelhaften TOUR-Noten zeigen es: Alle Kandidaten haben sich ihren Platz unter den Top-Allroundern für die kommende Saison verdient. Angesichts dessen mögen die Kritikpunkte bei einigen Modellen kleinlich wirken. In der Beletage des Radsports ist die Luft aber so dünn, dass es beim Material oft auf Nuancen ankommt. Neben dem Fahrer natürlich, der die PS eines solchen Boliden auch auf die Straße bringen muss. Dass in unserem Testfeld prominente Vertreter wie ein Colnago von Dominator Tadej Pogačar (UAE Team Emirates) oder Cervélo von Jonas Vingegaard (Visma-Lease a Bike) fehlen, ist entweder der unterdurchschnittlichen Aerodynamik oder dem hohen Gewicht der jeweiligen Serienräder geschuldet.
Zudem war das neue Colnago Y1Rs von Pogačar zum Testzeitpunkt noch nicht verfügbar. Folgerichtig setzen sich mit Canyon, Scott und Specialized drei Räder an die Spitze, die kaum Ansatz zur Kritik bieten und die konträren Eigenschaften Aerodynamik und Gewicht bestmöglich vereinen: echte Allrounder mit breitem Einsatzspektrum. Leichte Bergräder gehören dadurch nicht zwangsläufig zum alten Eisen, viele Marken haben sie noch im Angebot. Unserer Einschätzung nach werden künftig aber weitere Hersteller nur noch eine Race-Plattform unterhalten, allein schon aus Kostengründen. Und apropos Kosten: Dass ein Top-Allrounder aus der Einser-Liga nicht zwangsläufig einen fünfstelligen Betrag kosten muss, zeigen mit Cube, Rose, Stevens und Storck gleich vier Hersteller aus Deutschland.
Ein leicht konstruiertes Rahmen-Set ist nicht zwingend ein Garant für ein sehr leichtes Rad, denn heute sind Lenker und Sattelstütze meistens untrennbar mit einem Modell verbunden. Das Diagramm zeigt die Gewichte der Kompletträder und, zur besseren Orientierung danach sortiert, das Chassis ohne die Laufräder. Die Gewichtsunterschiede der Schaltgruppen sind vernachlässigbar klein, vergleichsweise viel Potenzial steckt aber in den Laufrädern. Auffällig sind Scott und Factor, die mit sehr leichten Laufrädern trotz relativ schwerer Rahmen-Sets ein niedriges Komplettradgewicht erzielen. Rose und Trek verschenken hier eine bessere Teilnote.
Gewicht (25 Prozent der Gesamtnote): Für die Bewertung zählt das gewogene Komplettradgewicht in der einheitlichen Testradgröße 56–57 Zentimeter. Wir weisen zur Orientierung aber auch die Laufradgewichte aus. Die Notenskala ist so gelegt, dass bei einem mittleren Streckenprofil von 1000 Höhenmetern pro 100 Kilometern die physikalische Wirkung von Gewicht und Aerodynamik für die Durchschnittsgeschwindigkeit vergleichbar ist. Zur Orientierung: Die aerodynamische Optimierung des Rades kann auf solch einer Strecke bis zu knapp vier Kilogramm Gewicht kompensieren. Gleichzeitige Bestnoten in Gewicht UND Aerodynamik schließen sich aus, aber es gibt Rennräder, die einen sehr guten Kompromiss finden. Ist die Strecke bergiger als unsere Referenzstrecke, nimmt die Bedeutung des Gewichts zu, ist die Strecke flacher, wird die Aerodynamik wichtiger.
Luftwiderstand (25 Prozent): Dynamisch gemessen im Windkanal, mit TOUR-Dummy, drehenden Rädern, bewegten Beinen und über ein großes Spektrum von Anströmwinkeln. Verdichtet zu einer Aerodynamik-Note für typische Umweltbedingungen.
Frontsteifigkeit (10 Prozent): Wichtige Größe für die Lenkpräzision und das Vertrauen ins Rad bei hohem Tempo, ermittelt im TOUR-Labor. Es wird eine Gesamtsteifigkeit am fahrfertig montierten Rahmen-Set ermittelt, also inklusive Gabel. Die Steifigkeitswerte werden gedeckelt. Ziel sind nicht unendlich steife, sondern ausreichend fahrstabile Rahmen.
Tretlagersteifigkeit (10 Prozent): Verrät, wie stark der Rahmen bei harten Tritten, zum Beispiel im Sprint, nachgibt. Diese Messung findet ebenfalls im TOUR-Labor statt, mit einer realitätsnahen Aufspannung, bei der sich der Rahmen wie im Fahrbetrieb verformen kann.
Komfort Heck (10 Prozent): Ein Maß für die Nachgiebigkeit bei Fahrbahnstößen, gemessen im TOUR-Labor. Es wird ein Federweg bei Belastung der Sattelstütze gemessen. Der Messwert korreliert sehr gut mit den Fahreindrücken und dem Komfortempfinden. Gute Noten bedeuten auch eine ordentliche Fahrdynamik, die sich auf schlechten Straßen positiv auf die Geschwindigkeit auswirkt.
Komfort Front (5 Prozent): Analog zum Heck wird die Verformung des Lenkers unter Last ermittelt. Eine gute Note bedeutet viel Federkomfort, was die Hände auf langen Touren entlastet. Starke Sprinter, die viel Steifigkeit wünschen, sollten aber eher auf einen steifen Lenker achten.
Schalten (5 Prozent): Die Schalteigenschaften werden im Fahrtest ermittelt. Bewertet wird nicht der Preis oder die Qualitätsanmutung einzelner Komponenten, sondern ausschließlich die Funktion des gesamten Getriebes. Dabei spielen beispielsweise auch die Zugverlegung, die Qualität der Züge und die montierte Kette eine Rolle.
Bremsen (5 Prozent): Ähnlich wie beim Schalten zählt auch hier der Test auf der Straße, es fließen zusätzlich die Erfahrungen aus unseren unzähligen Tests von Bremsen mit in die Bewertung ein. Dabei wird nicht das Bauteil selbst, sondern die Funktion als Zusammenspiel von Bremskörper, Belägen, Felgen bzw. Scheiben und Zügen sowie Zugverlegung bewertet: Wie gut lassen sich die Bremsen modulieren? Wie standhaft sind die Bremsen, wie lang sind die Bremswege?
Reifen (5 Prozent): Bewertet werden Rollwiderstand und Grip – soweit bekannt aus einem unserer unabhängigen Reifentests oder anhand des Fahreindrucks.
Die Gesamtnote wird arithmetisch aus den prozentual unterschiedlich gewichteten (Prozentangaben in Klammern) Einzelnoten gebildet. Sie bringt vor allem die sportlichen Qualitäten des Rades zum Ausdruck.