Das neue Colnago Y1Rs war noch gar nicht offiziell vorgestellt, da kochten im Netz bereits die Emotionen hoch. Schon im Dezember kursierten erste Bilder des Colnago, das auch Wochen nach der Präsentation extrem polarisiert. Einerseits natürlich, weil der Bolide von Tadej Pogačar (UAE Team Emirates - XRG) gefahren wird. Der Radsport-Dominator der vergangenen Jahre peilt bei der Tour de France seinen vierten Gesamtsieg an, mit dem er nur noch einen Erfolg von Legenden wie Jacques Anquetil oder Eddy Merckx entfernt wäre. Andererseits löst das spektakuläre Rahmendesign rege Diskussionen aus und zieht auch bei unseren Testfahrten neugierige Blicke auf sich. Auslöser ist der eigenständige Hinterbau. Anders als beim klassischen Diamantrahmen bildet das Sitzrohr keine Linie zwischen Oberrohr und Tretlager, sondern knickt auf Höhe der Sitzstreben ab. Die Konstruktion ist seit der Regelanpassung seitens des Radsport-Weltverbands vor knapp vier Jahren erlaubt.
Nach zuletzt eher konventionellen Entwürfen zeigen sich die Italiener damit wieder von ihrer innovativen Seite und wecken Erinnerungen an das ikonische C35, über das vor fast vier Jahrzehnten wegen seines geschwungenen Monocoque-Carbonrahmens ebenfalls viel diskutiert wurde. “Der Rahmen soll natürlich nicht nur spektakulär ausschauen”, sagt Chefentwickler Davide Fumagalli gegenüber TOUR: “Unsere Räder sollen mit einer hohen Fahrqualität überzeugen.” Anders formuliert: Das Y1Rs will aerodynamisch auf dem Stand der Technik sein und mit den schnellsten Wettkampfrennern konkurrieren. Letzteres war laut Hersteller klarer Wunsch der beiden Profi-Teams von Frauen (UAE Team ADQ) und Männern (UAE Team Emirates - XRG).
“Für spezielle Rennen brauchen wir ein dezidiertes Aero-Bike”, zitiert Colnago die Rennfahrerinnen und Rennfahrer. Das ebenfalls neue Colnago V5Rs betont das geringere Gewicht und versteht sich wie der Vorgänger als Race-Allrounder. Damit dem Colnago Y1Rs der Anschluss an das schnellste Material wie dem Cervélo S5, optionales Arbeitsgerät von Pogačars Dauerrivalen Jonas Vingegaard (Visma | Lease a Bike), gelingt, entwickelte die Edelmarke “das längste und aufwendigste Projekt in der Geschichte von Colnago”. Neben obligatorischen CFD-Simulationen (Computational Fluid Dynamics) habe man ein Testverfahren angewandt, bei dem die Prototypen im Windkanal mit 70 Drucksensoren bestückt waren und somit für jedes Bauteil die Strömung optimiert werden konnte. Und der Aufwand macht sich bezahlt.
In unserem unabhängigen Windkanaltest ermittelten wir eine Aero-Leistung von 204 Watt, die das Rad zur Überwindung des eigenen Luftwiderstands bei 45 km/h benötigt. Das Y1Rs erreicht damit aus dem Stand das Niveau eines Cervélo S5 (202 Watt), Canyon Aeroad CFR (204 Watt) oder Scott Foil RC Ultimate (203 Watt). In der World Tour ist uns aktuell nur das Van Rysel RCR-F als messbar schnelleres Bike bekannt. Mit vergleichbaren Laufrädern und strömungsoptimiertem Vorderreifen würde das Colnago Y1Rs den Boliden aus Frankreich sogar überholen und als erst drittes Rad im TOUR-Test die 200-Watt-Marke knacken. Die Bestnote für die Aerodynamik kann durchaus als kleine Sensation gesehen werden, schließlich machten Rennmaschinen aus Cambiago in jüngerer Vergangenheit nicht zwingend durch Top-Speed im Wind auf sich aufmerksam.
Den bis dato letzten Spezialisten namens Concept hatten die Lombarden vor sieben Jahren auf der Eurobike vorgestellt. Dass damals im Peloton noch Räder mit Felgenbremsen unterwegs waren, verdeutlicht, wie rasant sich seitdem die Rennradtechnik weiterentwickelt hat. Neben dem “Knickrohr” bietet das Colnago Y1Rs mit dem tragflächenartigen Lenker in Y-Form und der vor das Steuerrohr verlegten Gabel weitere technische Leckerbissen. Im Gegensatz zur Heckkonstruktion waren vergleichbare Konzepte aber schon gesehen: Die Integration der Gabel erinnert an das Cervélo S5, die Aussparung am Lenkkopf für eine tiefe Montage des Cockpits kennt man unter anderem vom Bianchi Oltre Comp oder Simplon Pride II. “Das Design gibt es natürlich auch bei anderen Herstellern. Aber die Form funktioniert eben aerodynamisch sehr gut”, so Chefentwickler Fumagalli über die Lenker-Vorbau-Einheit, die Colnago in 13 Versionen anbietet.
Gemessen an der aerodynamischen Qualität des Y1Rs haben Colnagos Konstrukteure auf die weiteren Kernkriterien eines Wettkampfrenners nicht so großen Wert gelegt. Speziell bei den Steifigkeitswerten bleibt das Rad hinter den Mitbewerbern zurück und liefert damit eine mögliche Erklärung, warum Pogačar den pfeilschnellen Boliden bislang nur sporadisch im Renneinsatz hatte.
Der Fahreindruck: Bei schnellen Kurvenfahrten lenkt sich das durchaus wendige Rad etwas indifferent, während es bergab durch die aggressive Rahmengeometrie viel Last auf das Vorderrad und damit Präzision in die Linie bringt. Angesichts der geringen Tretlagersteifigkeit überrascht die Herstellerangabe, dass das Y1Rs hauptsächlich für Sprintspezialisten entwickelt worden sei. Hobbyfahrer mit weniger Dampf in den Beinen werden davon wenig merken. Rückblickend auf das diesjährige Finale bei Mailand-San Remo drängt sich jedoch die Frage auf, ob Tadej Pogačar aus einer verwindungssteiferen Maschine im Sprint gegen Mathieu van der Poel und Filippo Ganna das Quäntchen mehr Speed zum Sieg hätte herauskitzeln können.
Nicht zuletzt das – auf die direkte Konkurrenz bezogene – vergleichsweise hohe Gesamtgewicht von 7,4 Kilogramm und der geringe Federkomfort verhindern, dass sich das Colnago für die Crème de la Crème der besten Wettkampfräder im TOUR-Test qualifiziert. Zu den aktuellen Rekordhaltern von Canyon, Scott und Specialized (alle mit der TOUR-Note 1,5) lässt der Bolide eine Lücke, verbunden mit einem enger gezogenen Einsatzspektrum – auch im Vergleich zum V5Rs.
Das mutmaßliche Hauptarbeitsgerät von Pogačar bei seiner Jagd nach dem vierten Tour-Titel spielt aerodynamisch zwar nicht um den Sieg mit; dafür soll der Allrounder in der leichtesten Serienversion rund 600 Gramm sparen und dürfte wie der Vorgänger besser mit holperigen Straßen umgehen. Solvente Hobbysportler mit einem Hang zu extravagantem Design muss das nicht stören bzw. vom Bekenntnis zu Colnago abhalten. Vorausgesetzt, der Geldbeutel ist groß genug. Schon das getestete “Basismodell” mit SRAM Red AXS kostet 12.300 Euro. Für die Replika von Pogačars Rad mit Shimanos Dura-Ace-Gruppe und Enve SES 4.5-Laufrädern werden sogar 16.200 Euro fällig. Eines ist dadurch sicher: Die emotionalen Diskussionen um das Y1Rs werden so schnell nicht abebben.