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Tatsache ist, Biken wird immer teurer. Top-Modelle kosten nicht selten fünfstellige Summen. Auch die Preise für Komponenten und Zubehör erreichen völlig abgehobene Sphären. Eine Schaltgruppe für den Preis des Canyon Neuron in diesem Test? Wurde kürzlich erst vorgestellt. Schuhe für 400 Euro? Sind noch nicht mal das Ende der Fahnenstange. Evil Eye zeigte letztens sogar eine Sonnenbrille für über 600 Euro.
Die Bike-Industrie scheint, was die Preise anbelangt, völlig abzuheben. Tatsache ist aber auch, dass Biker beim Kauf immer zurückhaltender werden. Inflation, explodierende Energiekosten und steigende Lebensmittelpreise lassen die Haushaltskassen schrumpfen wie das Kaspische Meer. In Deutschland gehört laut Statistik eine Familie mit zwei Kindern bereits zur unteren Einkommensschicht, wenn ihr Nettoeinkommen unter 3213 Euro pro Monat liegt. Bleiben wir also auf dem Boden der Tatsachen und schauen, wie es sich für dieses Budget biken lässt.
Um das herauszufinden, haben wir das Limit für diesen Trailfully-Vergleich bei 3400 Euro angesetzt. Sechs Kandidaten erfüllen diese Vorgabe, wobei das Canyon Neuron für 2699 Euro sogar noch deutlich unter der Grenze liegt. Als Referenz-Bike fährt ein Rocky Mountain Element für 4500 Euro mit zum Test an den Geißkopf. Die Strecken in der MTB Zone bieten ideale Testbedingungen und bilden das gesamte Einsatzspektrum eines Trailfullys ab.
Auch wenn der Name etwas anderes vermuten lässt, ist der Enduro Trail 2 Trailbike-Terrain in Reinform: Die naturbelassene Strecke führt über weichen Waldboden, gespickt mit Wurzelpassagen und engen Kehren direkt in einen Schotteranstieg, auf dem die Testkandidaten ihre Kletterfähigkeiten unter Beweis stellen müssen. Danach biegen wir für den finalen Härtetest in den Schlussabschnitt der Freeride-Strecke ein. Felsgespickte Steilstücke wechseln sich mit rumpeligen Vollgaspassagen ab – hier trennt sich bei Fahrwerken und Geometrien schnell die Spreu vom Weizen.
Doch klären wir zuerst mal die Frage, was Biker für maximal 3400 Euro von einem Trailfully überhaupt erwarten können. Viel Blingbling schon mal nicht. Tatsache ist, ein Factory-Fahrwerk von Fox mit golden schimmernden Standrohren darf man sich in dieser Preisklasse nicht erhoffen. Stattdessen Performance-Schriftzüge an nahezu allen Federelementen. Die günstigen Fox-Komponenten dominieren das Testfeld. Cube und Specialized verbauen gar die noch mal schwerere Rhythm-Ausführung der 34er-Gabel. Da sticht die hochwertige Rockshox Pike Ultimate mit umfangreich einstellbarer Dämpfung am Radon positiv heraus. Und auch in der Praxis überzeugt die Gabel mit bester Performance.
Abstriche müssen Biker auch in Sachen Antriebe in Kauf nehmen: Die NX-Schaltgruppen an Specialized und YT wechseln nicht nur auffällig langsam zwischen den Gängen – lange Hebelwege eingeschlossen – auch die Bandbreite von gerade mal 454 Prozent ist für ausgiebige Trail-Touren kontraproduktiv. Ein ähnliches Bild zeigt sich bei den Bremsen. Srams günstige G2-R-Stopper streicheln eher über die Bremsscheiben, als sie so richtig in die Zange zu nehmen. Ähnlich schwach ist nur die gruppenlose Shimano am Giant. Generell ist man in diesem Testfeld aber mit den Shimano-Komponenten deutlich besser bedient: ausreichende Bandbreiten, knackige Gangwechsel und überzeugende Brems-Power in schnellen Abfahrten. Sowohl die XT- als auch die SLX-Komponenten lassen kaum Wünsche offen. Wer gerne ausgiebig klettert, sollte zudem auf ein 30er-Kettenblatt an der Kurbel achten, um einen kleinen Gang für steile Stiche als Reserve zu haben.
Große Unterschiede gibt es dann auch bei den Reifen. Von schnell rollenden Schwalbe-, beziehungsweise Maxxis-Kombis an Canyon, Cube und Radon bis hin zum grobstolligen Maxxis Minion DHF mit griffiger MaxxTerra-Mischung am Giant ist alles mit dabei. Doch was ist eigentlich die ideale Reifenwahl für ein Trailfully? Schwer zu sagen. Fest steht aber: Ein Mix aus gröberem Profil und weicherer Mischung vorne sowie einem schneller rollenden Reifen hinten ist in den meisten Fällen die bessere Wahl als eine Einheitsbereifung – so wie unsere Lieblings-Kombi von Specialized: überzeugender Grip, angenehme Dämpfung und dennoch passable Rolleigenschaften.
Letztlich sollten die Reifen auch zum Charakter des jeweiligen Bikes passen. Und da gibt es auch in diesem Vergleich große Unterschiede. Eindeutig definieren lässt sich die Trailfully-Kategorie nur schwer, denn die Hersteller verfolgen hier vielfältige
Ansätze. Vom klassischen Touren-Bike für lange Anstiege und leichte Trails bis hin zum potenten Abfahrer, bei dem der Uphill eher zur lästigen Pflicht gehört, ist in diesem Test alles vertreten. Mit seinem gerade mal 2474 Gramm schweren Carbon-Rahmen und leichten Laufrädern gehört das Cube definitiv zur ersten Kategorie. Auch die etwas altbackene Geometrie mit steilem Lenkwinkel und flachem Sitzwinkel fühlt sich eher in leichtem Gelände wohl. Ähnliche Tugenden vertritt das Radon, wenngleich dessen Carbon-Rahmen gut 600 Gramm schwerer ist.
Auf der anderen Seite stehen sich Specialized und Giant gegenüber. Flache Lenkwinkel, lange Radstände, wuchtiges Auftreten. Die beiden Alu-Bikes blühen erst in der Abfahrt richtig auf und verleiten mit potenten Fahrwerken dazu, die Bremsen auch mal offen zu lassen. Das muss aber nicht heißen, dass man mit ihnen keine Berge erklimmen kann. Dank moderner Geometrien klettern beide Bikes souverän, wenn auch nicht ganz so flott. Das YT mit seiner sportlichen Sitzposition und den groben Schlappen lässt sich dagegen nur schwer in eine Schublade stecken. Bergauf leidet es etwas an Übergewicht, bergab bremsen die tiefe Front und das straffe Fahrwerk.
Die Wahrheit liegt wie immer irgendwo dazwischen. Und damit wären wir bei Canyon und unserem Referenz-Bike von Rocky Mountain. Beide treffen die Trailbike-Kategorie quasi wie die Faust aufs Auge: Dank sportlich komfortabler Sitzpositionen, gut rollender Reifen und mäßigem Gewicht lassen sich beide Trailbikes uneingeschränkt berghoch treten – die Fahrwerke sind dabei traktionsstark und antriebsneutral zugleich. Doch auch in der Abfahrt lassen weder das Neuron noch das Element Wünsche offen und verarbeiten zuverlässig verwinkelte Trails wie auch schnelle, verblockte Abfahrten. Umso erstaunlicher ist, dass Canyon ein ebenbürtiges Trailfully für 1800 Euro weniger auf die Reifen stellt. Bleiben wir also auf dem Boden der Tatsachen, können wir getrost behaupten: Mehr Bike als das Canyon Neuron braucht kein Mensch, um Spaß am Mountainbiken zu haben.
Was Canyon für gerade mal 2699 Euro abliefert ist erstaunlich. Solide Ausstattung, ausbalanciertes Fahrwerk, moderne Geometrie – da bleiben keine Wünsche offen. Besser hat uns nur das Rocky Mountain gefallen. Doch der Preis für das Element passt nicht so ganz zur mageren Ausstattung. Wer einen starken Abfahrer an seiner Seite sucht, der greift am besten zum Specialized. Dessen Fahrwerk liegt schon fast auf All-Mountain-Niveau, dennoch lässt es sich noch gut berghoch treten. Einen klassischen Tourer für lange Ausfahrten mit Schotteranstiegen und leichten Trails findet man bei Radon.
Auch wenn das Rocky außer Konkurrenz mitfährt: Für mich ist es das perfekte Trailbike. Es klettert leichtfüßig und ohne störende Antriebseinflüsse. Bergab begeistern das tolle Cockpit und das extrem gelungene Fahrwerk.
Ein Trailbike ist für mich vielmehr der Enduro-Ersatz auf den zahmen Home-Trails als ein sportlicher Touren-Begleiter. Ein potentes Fahrwerk, solide Reifen und gute Bremsen sind mir daher wichtiger als ein geringes Gesamtgewicht.
Ich liebe Trailbikes für ihren extrem breiten Einsatzbereich. Damit die Bikes mit rund 130 Millimetern Federweg aber mit wirklich jedem Szenarium zurechtkommen, müssen sie leicht sein. Das schafft in diesem Preissegment nur das Cube.
Selbst im unteren Preissegment um 3000 Euro stecken die Hersteller viel Liebe in Details. Folgende Punkte sind uns bei den sieben Testkandidaten dabei besonders aufgefallen.
YT dominiert mit seinem Carbon-Hauptrahmen. Dahinter reihen sich die Alu-Bikes von Rocky Mountain, Giant, Canyon und Specialized ein. Die Hybrid-Rahmen von Cube und Radon weisen die geringsten Steifigkeiten auf.
Steifigkeit: Grau: Stiffness-to-Weight (STW), der Quotient aus Steifigkeit und Rahmengewicht weiß: absolute Steifigkeit in Newton pro mm Auslenkung. Die Messungen wurden auf einem Prüfstand des Zedler-Instituts ermittelt.
Rocky Mountain nutzt seinen Preisvorteil und spezifiziert die leichtesten Laufräder.
Radon und Cube erzielen ebenfalls gute Werte. Giant bildet aufgrund seiner potenten Bereifung das Schlusslicht.
Trägheitsmoment Laufräder: Je niedriger der Wert, desto besser lassen sich die Laufräder beschleunigen.
Das wesentlich teurere Rocky Mountain muss sich an der Waage gegenüber Cube und Radon geschlagen geben. Das abfahrtslastige Specialized knackt mit Pedalen sogar die 15-Kilo-Marke.
Gewicht¹: BIKE-Messwerte, ²mit Pedalen (350 g), ³ohne Dämpfer, mit Steckachse hinten, ⁴mit Reifen, Kassette und Bremsscheiben.