Es gibt kaum einen zweiten Hersteller, der seine Modellpalette so feingliedrig unterteilt wie die Kultmarke aus Kalifornien. Ganze sieben Modelle tummeln sich allein im voll gefederten Bereich zwischen 100 und 170 Millimeter Federweg. Hardtails, Gravelbikes, Downhiller und E-MTBs kommen noch hinzu. Für jede noch so kleine Nische hat Santa Cruz das passende Gefährt im Programm. Gut, wenn man weiß, was man will, und ein Albtraum für alle Unentschlossenen, die bereits mit den Farboptionen überfordert sind. Bis auf das Racefully Blur tragen zudem alle Fullys bis hoch zum Enduro Nomad die gleiche optische Handschrift. So setzen alle Modelle auf den bewährten VPP-Hinterbau, besitzen ein bauchiges Unterrohr und einen tief liegenden horizontalen Dämpfer, was für einen hohen Wiedererkennungswert sorgt.
Unser Testbike Tallboy ist das kürzeste VPP-Fully im Line-up und bietet 130 Millimeter vorne und 120 Millimeter Federweg am Hinterbau. Mit nur fünf Millimetern weniger am Heck grenzt das Blur TR von unten und das 5010 mit 130 Millimetern von oben – hier allerdings mit 27,5er-Laufrad – an das Tallboy.
Mit einem Preis von 9999 Euro lässt das Tallboy X0 AXS in Sachen Ausstattung keine Wünsche offen. Es gibt lediglich eine nochmals 2000 Euro teurere Variante mit Sram-XX-SL-Transmission-Antrieb, die 250 Gramm weniger auf die Waage bringt. Auch die Santa Cruz eigenen Reserve-Carbon-Laufräder sind bereits an unserem Testbike verbaut, ebenso ein Top-Fahrwerk von Fox. Einziges Manko sind die schwachen Sram-Level-Bremsen mit wenig Schmackes.
Auf dem Trail kann das Santa Cruz Tallboy mit seiner Wohlfühl-Geometrie punkten. Die leicht sportliche Sitzposition passt zum vortriebsorientierten Charakter. Die gute Sattelüberhöhung sorgt in der Ebene für genügend Druck auf dem Lenker. In richtig steilen Kletterstücken wird die Front jedoch leicht und das Vorderrad steigt. Der Grund: Mit 75,2 Grad fällt der Sitzwinkel relativ flach aus. Das Tallboy hängt nicht nur wegen der schnellen Maxxis-Forekaster-Reifen gut am Gas und weiß jede Tempoverschärfung zu parieren. Selbst im Wiegetritt zeigt sich der VPP-Hinterbau von seiner effizienten Seite und bleibt auch ohne Dämpferplattform erstaunlich ruhig. Nerviges Wippen? Fehlanzeige! Auf Sensibilität und Traktion – selbst unter Kettenzug – muss man beim Tallboy dennoch nicht verzichten.
Weil das Fahrwerk viel Gegenhalt und Popp bietet, lädt das Tallboy zum Spielen ein und reagiert direkt auf die Impulse des Fahrers. Bunnyhop über den Baumstamm, Wurzelfelder überspringen oder ein kleiner Manual – all das gelingt mit dem Tallboy nahezu mühelos. Sobald das Gelände ruppiger und damit anspruchsvoller wird, erreicht das Bike jedoch schnell seinen Grenzbereich. Der Hinterbau arbeitet zwar gut, glänzt mit seinen 120 Millimetern jedoch nicht mit Schluckvermögen und reicht größere Brocken direkt an den Fahrer weiter. Hier würde das Tallboy am liebsten an seine größeren Brüder verweisen. Womit wir auch bei der Frage nach dem Einsatzgebiet wären. Mit 12,8 Kilo ohne Pedale fällt das hochpreisige Trailbike zwar leicht, aber keineswegs so asketisch wie manche Down-Country-Konkurrenz aus. Für den uneingeschränkten Trailgenuss kommen die Reifen zu früh ans Limit. Sowohl die Nehmerqualitäten als auch der Komfort des Fahrwerks könnten besser sein. Der Einsatzbereich fällt also entsprechend schmal aus, doch die passende Alternative ist im Santa-Cruz-Sortiment nicht weit entfernt.
Benotung: Das BIKE-Urteil setzt sich aus den subjektiven Eindrücken der Testfahrer und unseren Labormesswerten zusammen. Das Urteil ist preisunabhängig. Notenspektrum: sehr gut (0,5–1,5), gut (1,6–2,5), befriedigend (2,6–3,5), ausreichend (3,6–4,5), mangelhaft (4,6–5,5).
LABOR (10 %): 2,5
AUSSTATTUNG (25 %) 2,1
+ verspieltes Handling
+ effizientes Fahrwerk
– wenig Schluckvermögen
– Reifen kommen früh ans Limit
Versierte Fahrer können es mit dem verspielten Tallboy ordentlich laufen lassen, auch wenn der Einsatzbereich spitz ausfällt. Für Tourenbiker fehlen jedoch die Nehmerqualitäten und Racer stören sich am zu hohen Gewicht. - Max Fuchs, BIKE-Redakteur