Peter Nilges
· 26.07.2024
Eine Umlenkrolle sagt mehr als tausend Worte. Schon der erste der Blick auf die beiden High-Pivot-Bikes Norco Optic und Kavenz VHP verrät: Bei diesen Fullys handelt es sich um keine gewöhnlichen Trailbikes. Die aufwendige Kettenumlenkung und nicht zuletzt die wuchtige Optik mit den großvolumigen Carbonrohren am Norco legen den Verdacht nahe, dass hier zwei Enduro-MTBs vor uns stehen. Auch die Wahl der Federgabel passt eher zu einem potenten Abfahrer. Der kanadische Hersteller Norco spezifiziert dicke 36er-Standrohre sowie fette Maxxis-Schlappen.
Tatsächlich aber platzieren sich das Kavenz VHP 12 und das Norco Optic mit nominell 120 bzw. 125 Millimeter Federweg am Heck mitten in der Trailbike-Klasse. Wozu dann der Aufwand mit Umlenkung und aufwendiger Kinematik, mag sich der ein oder andere jetzt fragen. Im Downhill- oder auch Enduro-Segment liegen High-Pivot-Bikes voll im Trend. Kleinere Marken wie Deviate, Actofive, Forbidden, Hope, Devinci oder Nicolai haben High Pivot für sich entdeckt. Aber auch größere Hersteller wie Trek, Commencal, GT und Cannondale setzen auf Bikes mit Kettenumlenkung oder experimentieren – wie Canyon bei seinem neuen Downhiller – mit einer optimierten Raderhebungskurve.
Ein Zufall? Nicht wirklich. Der anhaltende Trend, den Hauptdrehpunkt des Hinterbaus möglichst hochzulegen, steigert die Abfahrtsperformance. Im Vergleich zur traditionellen Hinterbaukinematik, wo der Hauptdrehpunkt weitestgehend auf Höhe des Kettenblattes liegt, kann das Hinterrad beim Einfedern besser dem Hindernis nach hinten oben ausweichen (Erklärung im Kapitel “So funktioniert High Pivot”). Man bleibt weniger stark an Wurzeln und Steinen hängen, was dem Hinterbau mehr Schluckvermögen einverleibt. Unterm Strich bewältigt man raue Passagen somit schneller und komfortabler.
Im Gravity-Sport klingt das Konzept absolut einleuchtend. Hier geht es bergab schließlich um jede Sekunde. Aber gilt das auch für Trailbikes, die gleichermaßen bergauf wie bergab bewegt werden? Mit dem Norco Optic und dem Kavenz VHP 12 betritt das High-Pivot-Konzept Neuland im Federwegsbereich um 120 Millimeter. Beide Marken können zwar auf ihre Expertise im Downhill- und Enduro-Segment zurückgreifen, doch gelingt der Transfer auch auf die kurzen Federwege?
Die Bestandsaufnahme fördert große Unterschiede zutage. Obwohl die Federwege recht ähnlich ausfallen, gehen die Trailbike-Interpretationen weit auseinander: Das wuchtige Optic besitzt vorne wie hinten rund zehn Millimeter mehr Federweg und rollt mehr oder minder im Enduro-Spec über die Trails. Trotz des Vollcarbon-Rahmens und einem Preis von 10.999 Euro wiegt das Norco inklusive Pedale satte 15 Kilo. Mit schnelleren sowie leichteren Reifen, einer Federgabel mit 34-Millimeter-Standrohren und insgesamt 700 Gramm leichteren Laufrädern präsentiert sich das Kavenz eine ganze Spur sportiver. Beim Gesamtgewicht trennen die beiden immerhin 1,1 Kilo – zugunsten des Kavenz. Und das trotz Alu-Rahmen und 3000 Euro günstigerem Preis. Richtige Leichtgewichte sind jedoch beide nicht.
In Sachen Geometrie gibt sich das Norco trotz vergleichbarer Reach-Werte eine Spur laufruhiger. Mit 469 (Norco Gr. 3) zu 464 Millimeter (Kavenz Gr. M) liegen beide Rahmen dicht zusammen. Durch den minimal flacheren Lenkwinkel von 64,7 Grad und die vier Millimeter längeren Kettenstreben besitzt das Optic einen etwas längeren Radstand. So kommt in schnellen Passagen noch mehr Laufruhe auf, obwohl bereits das Kavenz mit einem 65,4er Lenkwinkel für ein Trailbike auf der flachen Seite liegt. Dank der sehr kurzen 423er Kettenstreben lässt sich das VHP 12 mit wenig Einsatz aufs Hinterrad ziehen und geht leicht durch enge Kehren. Weil der VHP-12-Rahmen auf der Enduro-Plattform VHP 16/18 basiert und nun mit einer kurzen Gabel auskommen muss, fällt der Sitzwinkel mit fast 79 Grad extrem steil aus. Auf dem Sattel sitzend bewirkt das eine frontlastige, zugleich sehr aufrechte, gedrungene Position. Im Wiegetritt wird sogar der Abstand zur Sattelspitze recht knapp, weshalb man hier häufiger streift. Die Bewegungsfreiheit könnte besser sein.
Auch auf dem Norco sitzt man recht bequem. Das hohe Gewicht und der höhere Rollwiderstand der Laufräder verleiten zu einer gemütlichen Fahrweise bergauf. Im Wiegetritt pumpt der Optic-Hinterbau bei offenem Dämpfer minimal weniger als der im Kavenz. Dafür besitzt dessen Float-Dämpfer ohne Ausgleichsbehälter eine stärkere Plattform, was für komplette Ruhe sorgt. Beim Pedalieren im Gelände und direktem Tausch gegeneinander fällt auf, dass das Kavenz einen leichten Pedalrückschlag besitzt. Hier tritt sich das Norco neutraler. Dicke Wurzeln und größere Hindernisse schluckt das Kavenz dafür souveräner und lässt diese förmlich im Hinterbau verpuffen. Da die Umlenkrolle am Norco nahe am Reifen sitzt, steht die Kette stark unter Dreckbeschuss, weshalb der Antrieb beim Pedalieren stetig mahlt und knarzt. Ein echtes Manko dieser Konstruktion.
Bergab trumpft das Norco dank seiner konsequenten DH-Ausrichtung richtig auf. Hinter der hohen Front steht man sehr sicher im Bike. Die dicke Gabel und potente Reifen erhöhen die Souveränität und geben dem Fahrer Selbstvertrauen. Draufsitzen und Wohlfühlen. Vor allem in steilen Passagen muss sich das Kavenz wegen der leichteren Reifen und der frontlastigeren Position an zweiter Stelle einsortieren. Dafür bringt der Hinterbau trotz des kleineren Dämpfers die Vorzüge einer High-Pivot-Anlenkung besser zu Geltung: Das Schluckvermögen ist top und man spürt förmlich, wie das Hinterrad an Hindernissen nach hinten ausweicht. Hier arbeitet das Norco-Heck etwas unauffälliger, auch im Vergleich zu herkömmlichen Hinterbauten im Trailbike-Bereich. Übrigens: Unsere Messungen im Labor bestätigen den Hinterbauten, mit 129 Millimetern am Kavenz und sogar 140 Millimetern am Norco, sogar etwas mehr Federweg als angegeben.
Trotz des höheren Gewichts und der abfahrtslastigeren Ausrichtung gewinnt das Norco dieses Trailbike-Duell. Extremer Sitzwinkel und Antriebseinflüsse kosten Punkte beim Kavenz. Durch den geringen Federweg kommen die Vorteile der High-Pivot-Kinematik insgesamt weniger stark zur Geltung als an einem Enduro. – Peter Nilges, BIKE-Testleiter
Bei einem traditionellen, niedrigen Hauptdrehpunkt (orange) am Hinterbau kann das Hinterrad meist nur wenige Millimeter nach hinten ausweichen. Die Raderhebungskurve verkürzt über das Einfedern sogar die Kettenstrebenlänge. Das Hinterrad bewegt sich also mit zunehmendem Einfedern in Fahrtrichtung gegen das Hindernis. Bei High-Pivot-Bikes kann das Hinterrad dem Hindernis besser nach hinten oben ausweichen.
Kehrseite der Medaille: Beim Einfedern des Hinterbaus längt sich die Kettenstrebe stärker als bei einem Bike mit niedrigem Drehpunkt. Dadurch kommt es zu Pedalrückschlag wie beim Cannondale SE2000. Um das Problem zu umgehen, muss die Kette über eine Umlenkrolle umgeleitet werden. Je nach Platzierung der Umlenkrolle kann der Konstrukteur den Antisquat (Wippunterdrückung) einstellen und auch den Pedalrückschlag im Zaum halten.