Tempolimit überschritten, Müdigkeit erkannt, Sicherheitsabstand einhalten – ich habe aufgehört zu zählen, wie viele Warnmeldungen mir unser übereifriger Firmen-Van während der letzten drei Stunden auf das Dashboard projiziert hat. Entnervt tippe ich auf den Start-Stop-Button, der Ford Transit verstummt, und ich steige aus. „Na, gute Fahrt gehabt?“ Ralf Holleis – gefühlt zwei Meter groß, ruhige Stimme und in Barfußschuhen – hat mich bereits erwartet und streckt mir seine ölige Hand entgegen. Er ist der Gründer der Marke Huhn, das Mastermind hinter den eleganten Stahl-Bikes aus Bischofsgrün im Fichtelgebirge, und wird mir heute seine neueste Entwicklung zeigen.
Dass der studierte Produktdesigner ein geschicktes Händchen für Metall hat, zeichnete sich schon früh ab. „Mit neun Jahren hat mir mein Dad ein Elektrodenschweißgerät geschenkt. Von da an habe ich vom Kinderwagen bis zum Tandem-Bike alles Mögliche zusammengebrutzelt“, erklärt Holleis. Bis er seinen Lieblingswerkstoff nutzte, um Fahrradrahmen zu bauen, dauerte es aber noch.
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Inzwischen hat mich Holleis in seine Werkstatt geführt. Sie dockt an eine Scheune an, die er in Eigenregie zur riesigen Erdgeschosswohnung ausgebaut und renoviert hat. Nackte Rahmen hängen über einem massiven Schweißtisch, darunter quellen 3D-gedruckte und gefräste Rahmenteile aus einer Plastikkiste. Aus einem Regal ragen Stahlrohre jeder Größenordnung. Der kurze Weg vom techniküberfrachteten Firmenwagen in diese nostalgiegeladene Handwerksoase fühlt sich an wie eine Zeitreise. Inmitten der 20 Quadratmeter großen Werkstatt steht der Prototyp des Chabo – Holleis’ jüngste Kreation und gleichzeitig das erste Serienbike von Huhn.
Seit sich Ralf 2016 dazu entschied, seinem Hobby einen Namen zu geben, konzentrierte er sich mit Huhn ausschließlich auf Custom-Rahmen, experimentierte mit Metallmuffen und sämtlichen additiven Fertigungsmethoden (3D-Druck), die der Metallbau so hergibt: Cold Metal Fusion, gesintertes FDM oder selektives Laser Melting. Doch damit hat das Chabo nur noch wenig zu tun. Als vor anderthalb Jahren die Idee eines Serienbikes in ihm reifte, standen vor allem der Preis, die Nachhaltigkeit und die Haltbarkeit ganz oben im Lastenheft. Mit seiner jahrelangen Erfahrung weiß Holleis: „Verschweißte Stahlrundrohre in Kombination mit Frästeilen sind in diesem Fall die einzig konsequente Lösung.“
Die Eckdaten des Bikes: 130 Millimeter Federweg an der Gabel, 120 Millimeter im Heck und 29er Laufräder. Den Fakten nach also ein sportliches Trail- oder Down-Country-Bike. Mit lupenreinen Schweißnähten verschmelzen insgesamt sieben Stahlrohre zu einem Hauptrahmen – natürlich allesamt recycelt. Die Dämpfer-Anlenkung und die Aufnahme am Rahmen fräst die deutsche Firma Radoxx aus Alu-Rohlingen. Das hintere Rahmendreieck besteht aus vier weiteren Stahlrohren. Um diese miteinander zu verbinden und an den Hauptrahmen zu koppeln, greift Holleis auf Metallteile aus dem 3D-Drucker zurück. „Ohne die enorme Hitze, die beim Schweißen entsteht, habe ich bei der Fertigung auch keinen Verzug und die Toleranzen des Hinterbaus besser im Griff.“
Hinterbaulager gibt es nicht. Warum? Weniger bewegliche Teile bedeuten weniger Stress. Ihr erinnert euch: Das Bike soll möglichst unkompliziert sein. Stattdessen bieten die Sitzstreben gerade so viel Flex, dass sich der Hinterbau auch ohne zusätzliche Lagerpunkte beim Einfedern frei bewegen kann. „Flexpivot“ heißt diese Technologie im Fachjargon.
Der Schaltzug und die Bremsleitungen verlaufen zugunsten der Servicefreundlichkeit außen am Rahmen. So viel zu den Features des zukünftigen Serien-Huhns. Der Preis für ein pulverbeschichtetes Chassis liegt bei 3.200 Euro. Gegen 600 Euro Aufpreis ist das Chabo auch mit zusätzlicher Ceramic-Beschichtung erhältlich. Aktuell sind für das Jahr 2025 dreißig Exemplare geplant.
Kleiner Wermutstropfen angesichts der „Massenproduktion“: Holleis wird zwar weiterhin hier zuhause in seiner Schweißermontur schwitzen – allerdings nur, um an Prototypen oder Custom-Projekten zu arbeiten. Die Fertigung der Serienbikes übernimmt ein Kollege der Firma Bicycle-Frames-Engineering in Berlin. Der Blick durch das Werkstattfenster in den Hof stimmt mich aber zuversichtlich: Ein Mainstream-Massenprodukt wie unser Transit wird das Chabo niemals sein – daran können auch ein paar mehr produzierte Bikes pro Jahr nichts ändern.
Bei meinem Besuch durfte ich das Prototypen-Chabo für eine kurze Testfahrt auf die Trails am Ochsenkopf entführen. Für meine 1,74 Meter Körpergröße fällt die Sitzposition trotz Rahmengröße L angenehm kompakt aus. Grund dafür ist der 77,5 Grad steile Sitzwinkel. Er platziert mich weit vorn und mit viel Druck auf der Front des Bikes – perfekt für steile Rampen. Dazu noch die 450er Kettenstreben, und die Klettereigenschaften suchen im technischen Gelände ihresgleichen. Der Hinterbau steht dabei hoch im Federweg, sackt an Kanten nicht weg und generiert gute Traktion. Nerviges Wippen im Wiegetritt? Fehlanzeige! Bergab überzeugt das Chabo mit massig Laufruhe.
Der üppige Reach und das lange Heck machen es möglich. Der Hinterbau leistet dabei ganze Arbeit, schluckt im mittleren Hub fleißig und bietet gegen Ende trotzdem viel Gegenhalt. So vermittelt das Huhn mehr Federweg, als man es von einem 120er-Bike erwarten würde. Wer sich ein verspieltes Trailbike wünscht, wird sich mit dem Chabo eher nicht anfreunden. Aufs Hinterrad oder um enge Kurven geht das Bike nur mit viel Nachdruck.
Bewertung | Kommentar |
✅ | gelungenes Fahrwerk |
✅ | top Klettereigenschaften |
✅ | vermittelt viel Sicherheit bergab |
⚠️ | Handling wenig verspielt |
Von allen Stahl-Bikes, die ich bisher gefahren bin, gefällt mir das Huhn Chabo am besten. Das Fahrwerk ist erste Sahne, die Geometrie vermittelt in allen Lebenslagen viel Sicherheit, und das Gewicht ist erträglich. Mit dem Qualitätssiegel „Made in Germany“ triggert das Stahl-Fully auch bei mir den Haben-wollen-Reflex. Angesichts der Langlebigkeit und der stabilen Wertentwicklung von Stahl-Bikes klingt der Preis fair.