Wer hat’s erfunden? Das Schweizer Kräuterbonbon angeblich Ricola. Und das Light-Trailbike? Nein, Specialized war es nicht. Focus brachte schon 2017 das Jam² mit vollintegriertem, fest verbautem Mini-Akku (348 Wh) auf den Markt. Die Idee damals: ein leichtes E-Bike für die kurze Hausrunde, das man mit einem zusätzlichen Range Extender für große Touren aufpeppen konnte. Sehr coole Idee und in der Topversion tatsächlich schon unter 20 Kilo. Die aktuellste Ausbaustufe mit Fazua-Motor, das Focus Jam² SL, ist deutlich abfahrtsstärker ausgestattet, stellt mehr Batteriekapazität zur Verfügung und bleibt dennoch unter 19 Kilo (zum Test des Focus Jam² SL).
Der neueste Wurf aus Stuttgart, wo die Entwicklungszentrale von Focus sitzt, schafft es aber gewichtstechnisch in noch ganz andere Sphären. 16,6 Kilo spuckt die Waage im EMTB-Labor aus, als wir das Focus Vam² SL 9.0 anhängen. Damit ist es das mit Abstand leichteste E-Fully mit dem kräftigen Fazua Ride 60, das wir bisher getestet haben.
Mit seinen fluffigen 16,6 Kilo spielt es in der Klasse der superleichten Downcountry-E-Bikes vorne mit. Zwar verpasst es die 16er-Schallmauer, die die Super-Leichtgewichte Scott Lumen (zum Test des Scott Lumen) und Rotwild R.X 275 (zum Test des R.X 275) in ihren sündhaft teuren Topversionen unterbieten. Doch dafür ist der E-Antrieb im Focus Vam² SL viel kraftvoller unterwegs. Sowohl die Motor-Power als auch die Akkukapazität sind beim Fazua-System deutlich über den Werten des TQ HPR 50 in Scott und Rotwild. Die 16,6 Kilo sind also hoch anzurechnen. So leicht war ein Fazua-Fully an der EMTB-Waage noch nie!
Dafür musste Focus aber auch tief in die Diät-Trickkiste greifen: Der komplett neu konstruierte Rahmen holt 125 Millimeter Hub aus einem Hinterbau ohne zusätzliches Drehgelenk am Ausfallende. Der Carbonrahmen ist hier so designt, dass die Streben kontrolliert flexen. Diese Technik des Flex-Pivot kommt aus dem Crosscountry-Rennsport und findet mittlerweile bei vielen sehr leichten E-Bikes Verwendung. Eine einteilige Vorbau-Lenker-Einheit aus Carbon gehört immer häufiger zum guten Ton der Superleicht-Fraktion und auch das Vam² bekommt so eine schicke Lenkzentrale. Das Cockpit spart ordentlich Gewicht, allerdings ist es nicht individuell anpassbar - entweder es passt oder eben nicht. Die Kinematik mit Miniwippe am Sitzrohr ist ebenfalls minimalistisch und trägt zum geringen Gesamtgewicht von 2170 Gramm (Herstellerangabe) des Carbonrahmen bei.
Den Highend-Rahmen bekommen die drei 9er-Modelle des Vam² SL; das Einstiegsmodell 8.7 muss mit einem einfacheren Carbon-Layup leben. Laut Focus ist der Rahmen dadurch knapp 400 Gramm schwerer. Ein absolutes Leichtgewicht ist das günstigste Vam² damit nicht mehr, laut Hersteller soll es 19,1 Kilo wiegen. Mit 5700 Euro ist es dafür eines der allergünstigsten Light-Fullys mit Fazua-Motor.
Der Fazua Ride 60 ist ein Top-Motor im Bereich der Light-E-Bikes (zum Test des Fazua Ride 60). Er arbeitet sehr leise, dennoch kraftvoll und dynamisch. Im Boost-Modus, der kurzzeitig auf Knopfdruck aktiviert werden kann, schiebt er für 30 Sekunden richtig stark an. Satte 450 Watt liegen dann an. Das ist deutlich mehr als die übliche Konkurrenz im Light-Segment. Nur ein Bosch Performance SX kann diese Werte noch überflügeln. Das System arbeitet effizient und erreicht mit dem fest verbauten 430-Wh-Akku erstaunlich gute Reichweitenwerte.
Das Focus Vam² ist ausgewogen sportlich ausgelegt. Die Front ist wegen der durchs Steuerrohr verlegten Züge aufrechter, als es die Zahlen vermuten lassen und eher typisch für ein Trailbike, als für einen supersportlichen Marathon-Flitzer. Radstand und Hinterbau sind recht kurz, gut für schnelle Richtungswechsel und ein agiles Handling. Der Lenkwinkel kann über drehbare Lagerschalen um ein Grad abgeflacht werden. Vier Größen von S bis XL stehen zur Wahl.
Das Topmodell Focus Vam² 9.0 SL kann und will sich nicht jeder leisten. Zum Glück startet das Vam² schon bei 5700 Euro. Das 8.7er hat allerdings als einziges Modell der Reihe einen um 400 Gramm schwereren Rahmen, da hier ein anderes Carbon-Layup verwendet wird.
Unser Testbike, das Topmodell Vam² SL 9.0, ist die teuerste Variante des neuen Focus-Flitzers. Ausstattungstechnisch bleiben keine Wünsche offen. Der Preis von 11.000 Euro ist gesalzen, im Vergleich zur Konkurrenz von Scott, Rotwild oder auch Specialized aber durchaus fair. Denn deren Topmodelle sind nochmal eine empfindliche Ecke teurer.
Für einen ganzen Batzen weniger Geld bekommt man das Focus Vam² mit kompletter XT-Gruppe, funktionell identischen Fox-Performance-Elite-Federung, DT-HX-1700-Laufädern (Alu) und Carbonlenkereinheit. Gewicht 17,5 Kilo (Herstellerangabe, Größe M).
Das zweitgünstigste Modell kombiniert die XT-Schaltung mit Magura-MT-Trail-Bremsen und einfacheren Rhythm-Federelementen. Dazu Novatec-Naben und ein normaler Lenker und Vorbau. Das Bike wiegt laut Focus 18,4 Kilo (Größe M).
Das Starterpaket beinhaltet eine Suntour-Raidon-/Rockshox-Deluxe-Federung, Deore-Schaltung, Magura-MT-Trail-Bremsen und Shimano Naben. Gewicht mit dem schwereren Carbonrahmen (+400 Gramm) laut Hersteller 19,1 Kilo in Größe M.
Zum Fahrtest hatten wir das leichte Focus Vam² SL 9.0 am Start und konnten dem Konzept auf winterlichen, flowigen Isartrails und am frühlingshaften, geländetechnisch deutlich ruppigeren Gardasee auf den Zahn fühlen.
Das Focus Vam² besitzt eine ausgewogene Sitzposition. Extreme Geometrie-Experimente in Form von negativen Vorbauten finden sich nicht. Man sitzt im Vergleich zu anderen Downcountry-Vertretern sogar eher etwas aufrecht. Im Anstieg arbeitet das Focus dennoch sehr effektiv und fährt sich sportlich. Der effiziente Fazua Ride 60 ist sehr leise, dabei aber kraftvoll und dynamisch. In Kombination mit dem straff abgestimmten Heck, das kaum wippt, und dem geringen Gesamtgewicht geht es flink vorwärts. Die Carbonlaufräder mit leicht rollenden Speed-Grip-Schwalbereifen tragen ebenfalls ihren Teil zum sehr guten Bergauf-Fahrerlebnis bei. Allerdings nur, solange der Untergrund griffig und nicht zu ausgesetzt ist. Denn auf feuchtem Boden dreht der Wicked Will schnell durch, und mit dem recht kurzen Hinterbau und der eher hohen Front steigt das Bike etwas früher als erwartet.
In flowigem, eher ebenen Terrain zeigt das Focus Vam² dafür seine ganze Klasse. Ist Grip da und der Trail flowig, kommt mit dem Bike viel Fahrspaß auf. Das Heck liefert neben dem guten Vortrieb auch exzellenten Popp. Mit der traillastigen Sitzposition macht das Spiel mit dem Gelände richtig Laune. Über Wurzeln abziehen, das Heck in Anliegern an die Kante rutschen lassen, Zwischensprints mit Fazua-Extrapower am kurzen Stich bergauf – so muss sich ein Light-Bike anfühlen! Wird das Gelände zornig, kommen Federweg und Reifen an ihre Grenzen. Das Vam² macht zwar auch hier dank der aufrechteren Sitzposition eine gute Figur, aber das doch eher straffe Fahrwerk in Kombi mit den gering profilierten Reifen bremsen ein. Dabei war an unserem Testbike der Vorderreifen sogar noch mit softer Mischung verbaut. Laut Datenblatt ist es in der Serie auch vorne ein harter SpeedGrip-Reifen, was den Kurvenhalt und die Bremstraktion nochmals schwächen dürfte.
Versierte Piloten spielen trotzdem auch in anspruchsvollen Passagen gerne mit dem leichten Vam², aber der Grat zwischen Spaß und Sturz ist dann recht schmal. Focus gibt den Rahmen für Gabeln mit bis zu 140 Millimetern Hub frei (Serie 130 Millimeter). Mit mehr Hub an der Front und anderen Reifen kann man sich so aus dem Vam² ein agiles und immer noch sehr leichtes Trailbike zaubern. Dafür kann auch die Anpassung des Lenkwinkels um minus ein Grad über die drehbaren Lagerschalen Sinn machen. In der ausgelieferten Ausstattung ist Downcountry aber klar Einsatzbereich und Stärke des Focus Vam² SL.
Die Kategorie der Downcountry-E-Bikes ist um einen heißen Kandidaten reicher! Das Focus Vam² ist schön agil, direkt und macht auf flowigen Trails und Touren richtig Laune. Der effiziente, leise und kraftvolle Fazua ist dabei ideal gewählt. Noch nie war ein E-Fully mit diesem Motor bei uns im Test so leicht! Reifen und Fahrwerk sagen aber klar: lieber flach und flowig, als ruppig und steil. - Christian Schleker, Testautor EMTB Magazin