Raues Industriepark-Ambiente, stahlgrauer Himmel und verblasste Graffiti an den Mauern – besser hätte ich mir das Setting für eine ostdeutsche Bike-Manufaktur nicht ausmalen können. Während ich mich im Hof umsehe und mir die herbstliche Kälte bereits die Hosenbeine hinaufkriecht, fliegt neben mir eine schwere Brandschutztüre auf. ,,Hi, bist du der Max?“ Simon Metzner – sportliche Statur, lässiges Jeans-Outfit, Dreitagebart – streckt mir die Hand entgegen. Er ist der Gründer der Marke Actofive, das Mastermind hinter den CNC-gefrästen Mountainbikes aus Dresden. Dass der Maschinenbauingenieur ein geschicktes Händchen für Mountainbikes hat, machte erstmals 2020 die Runde. Damals brachte er das erste Trailbike mit einem High-Pivot-Hinterbau auf den Markt. Actofive war damit Vorreiter eines Trends, der vor allem das Enduro-Segment erfassen sollte.
Metzner hat mich mittlerweile in sein Hallenabteil geführt. Nackte Rahmen hängen über einer meterlangen Werkbank. Aus den Euro-Boxen neben mir auf dem Boden quellen Frästeile, die an Sitzstreben erinnern. Und unter einer Metalltreppe, die zu einer kleinen Empore mit Büro führt, stapeln sich massive Aluminiumblöcke. Die 130 Quadratmeter wirken wie der feuchte Traum jedes Maschinenbaustudenten. Und inmitten dieser Technik-Oase steht das I-Train – Metzners neueste Kreation. Den Namen hat der Diplomingenieur übrigens von einem Shuttle-Bus auf dem Flughafen von Helsinki übernommen: ,,Ich habe eine persönliche Bindung zu Helsinki, und die Stadt hat mich während der Entwicklung inspiriert.“ Die Eckdaten des Bikes: 140 Millimeter Federweg, ein Viergelenk-Hinterbau und 29er-Laufräder. Klingt nach einem gewöhnlichen Trailbike – zumindest was die Fakten angeht.
Aber: Eyecatcher gibt es an diesem Bike reichlich. Los geht’s beim Rahmen. Die metallisch glänzenden Oberflächen zeigen die charakteristischen Fräsrillen von Metzners Portatec Basic. Für den Hauptrahmen frisst sich die 3-Achs-Portalfräsmaschine zwölf Stunden lang durch einen 94,5 Kilo schweren Alu-Rohling (7075-T6). Die daraus entstehenden Halbschalen werden anschließend miteinander verklebt. Die Ketten- und Sitzstreben stammen vom selben Frästisch, werden jedoch aus einem Stück hohlgenagt. Inklusive der zweiteilig gefrästen Umlenkwippe und den Lagern bringt das Fräskunstwerk 3300 Gramm auf die Waage. Das ist kein Spitzenwert, stellt aber sicher, dass der Rahmen auch Worst-Case-Szenarien standhält.
Und trotzdem hält sich der Innovationsgrad des CNC-Chassis in Grenzen. Mitbewerber wie Pole setzen schon seit Jahren auf dieses Fertigungsverfahren. Die wahre Stärke des I-Train liegt im Detail. ,,Es sollte kein weiteres Trailbike für alles und nichts sein“, sagt Metzner. Vielmehr wäre die Devise für die Entwicklung gewesen, eine optimale Anpassbarkeit für ein maximal breites Einsatzspektrum zu schaffen. So ist das 11 500 Euro teure Bike nicht nur mit 140er-Gabeln kompatibel, sondern deckt den gesamten Federwegbereich von 120 bis 150 Millimetern ab. Dank modularer Ausfallenden kann man das I-Train wahlweise auch mit einem kleinen 27,5-Zoll-Hinterrad fahren! Und ein Winkelsteuersatz ist freilich auch mit an Bord. Zudem steckt in der unteren Dämpferaufnahme ein Flipchip zum Feintunen der Tretlagerhöhe.
Doch damit immer noch nicht genug. In Sachen Kinematik zimmert das Dresdner Mastermind eine Weltneuheit: den ersten variablen Hauptdrehpunkt. Dessen Höhe lässt sich via Flipchip in vier Stufen verstellen, was das Anti-Squat-Verhalten des Hinterbaus verändert. Dabei gilt: Je höher der Drehpunkt, desto ruhiger bleibt das Heck unter Kettenzug. Der Nachteil: Je höher der Drehpunkt, desto mehr längt sich der Hinterbau beim Einfedern, was zu verstärktem Pedalrückschlag führt. Deshalb empfiehlt Actofive die höchste Einstellung ausschließlich in Kombination mit Systemen à la O-Chain, um das Fahrwerk von den Antriebseinflüssen zu entkoppeln. In der Praxis ermöglicht das Konzept Vortrieb auf XC-Niveau, eine optimale Raderhebungskurve und minimalen Pedalrückschlag zugleich – wenn das mal nicht den Alleskönner-Gedanken von einem Trailbike auf den Punkt trifft.
Wir konnten Metzners Sample-Bike bei unserem Besuch in Dresden Probefahren. Unser Setup: Rahmengröße M, 29er-Laufräder, eine 140er-Gabel und 130 Millimeter Federweg am Heck. Der Flipchip für die Tretlagerhöhe und der Winkelsteuersatz (65 Grad) stehen beide auf Neutral. Der Adjustable-Pivot steht in der zweithöchsten Stellung. In der Theorie bedeutet das gute Anti-Squat-Werte bei mittlerem Pedalrückschlag. Die Testrunde auf Metzners Hometrails bestätigt das. Tritt man in die Pedale, bleibt der Hinterbau recht ruhig. Ein Aha-Erlebnis bleibt in der zweitniedrigsten Stellung allerdings aus.
Umso stärker macht sich der Pedalrückschlag bemerkbar. Die Sitzposition ist durch den sehr steilen Sitzwinkel superkompakt – nichts für lange Touren im Flachland, denn hier lastet viel Druck auf den Händen. Ideal ist diese Position allerdings in steilen Uphills. Gepaart mit mittellangen Kettenstreben besticht das I-Train mit exzellenter Kontrolle in kniffligen Anstiegen. Gleiches gilt für flotte Abfahrten. Flacher Lenkwinkel, üppiger Reach – hier hat das I-Train auch bei Highspeed die Ruhe weg. Bei schnellen Kurvenfahrten verdient sich das I-Train ebenfalls ein dickes Like.
Beim ersten Blickkontakt riss mich das I-Train noch nicht vom Hocker – CNC-gefräste Rahmen hatte ich auch zuvor schon gesehen. Doch je genauer man hinsieht, desto mehr entpuppt sich Metzners jüngste Kreation als faszinierendes Stück Ingenieurskunst. Die technischen Details machen das I-Train zu einem Unikat, das die Herzen von Tech-Nerds höherschlagen lässt. Im Gelände überzeugt es obendrein.