Jan Timmermann
· 29.11.2024
Das Cannondale Scalpel HT war schon immer ein auffälliges Cross-Country-Hardtail. Allerspätestens als die markante Lefty-Federgabel an der Front einzog, hatte das Racebike der Amis ein unübersehbares Wiedererkennungsmerkmal. Perfekt wurde der Rebellenstatus des Scalpel HT vor rund zwei Jahren. Als Cannondale den Vorhang lüftete und ein Hardtail mit 110 Millimetern Federweg und einem Lenkwinkel von rund 67 Grad präsentierte. Während die XC-Fullys immer weiter aufgebohrt wurden, gab es bis dato eine Art ungeschriebenes Gesetzt, dass für schnelle Hardtails 100 Millimeter Federweg und selten einen flacheren Lenkwinkel als 69 Grad vorsah. Gut zwei Jahre sind in der schnelllebigen Welt der MTB-Produkte eine lange Zeit. In der Zwischenzeit haben zumindest beim Lenkwinkel die meisten großen Hersteller nachgezogen und ihre Hardtails flacher gelegt. Umso mehr waren wir gespannt, wie gut der Trendsetter Cannondale Scalpel HT in der Premium-Ausführung Lab71 für 10.500 Euro unter den neuen High-End-Artgenossen mithalten kann.
Als wir die neuste Ausbaustufe des Scalpel Hardtails 2022 zum ersten mal auf den Trail ausführten, staunten wir nicht schlecht. Cannondale bewies, dass ein Race-Hardtail mit Federwegsplus und flachem Lenkwinkel beides kann: Rennen gewinnen und Spaß machen. Zu diesem Zeitpunkt war das Scalpel HT auf anspruchsvollen Kursen mit hohem Trailanteil die Referenz unter den Cross-Country-Rennern mit starrem Heck. Auch in unserem aktuellen Vergleichstest der neusten High-End Hardtails liegt das Cannondale auf der flachen Seite, wirkt im Verhältnis zum nochmals 0,4 Grad flacheren Pinarello Dogma aber längst nicht mehr so extrem - doch dazu später mehr. Noch dazu kann das Scalpel HT nicht verleugnen, dass die letzte Frischzellenkur für sein Gesamtkonzept inzwischen eine ganze Weile zurückliegt. Neben den Carbon-Einteilern der Mitbewerber und angesichts des stolzen Preises, den Cannondale für das Bike aufruft, wirkt das klassische Cockpit fast schon altbacken. Auch 25 Millimeter Felgeninnenweite sind schmaler als der heutige Mountainbike-Standard und die 27,2 Millimeter dünne, starre Sattelstütze dürfte wohl nur noch Puristen abholen - wobei diese zugegebenermaßen auch bei der Konkurrenz noch zu finden ist.
Anstatt sich in dieser Art Details zu verlieren haben sich die Cannondale-Ingenieure das zentrale Bauteil nochmals vorgenommen: den Rahmen. Stand zum Launch der neusten Scalpel-HT-Generation noch kein wirklich konkurrenzfähig leichtes Chassis bereit, haben die Amerikaner nun nachgezogen. Mit gerade einmal 1035 Gramm stellt Cannondale den zweit leichtesten Rahmen in unserem Testfeld. Für das Lab71-Chassis werden nur die hochwertigsten Carbonfasern in einem belastungsspezifischen und gewichtsoptimierten Layup verwendet. Tief angesetzte Sitzstreben und ein optimierter Materialeinsatz an den Kettenstreben soll für einen hohen Heck-Komfort sorgen und den Piloten langsamer ermüden lassen.
Die Kettenstrebenlänge des Scalpel Hardtails wächst mit der Rahmengröße mit. Cannondale verspricht sich davon eine zentrale Sitzposition und ein ausgewogenes Handling, unabhängig von der Körpergröße. Wer bei einer mechanischen Schaltung bleibt und das letzte Quäntchen Leichtbau und Performance herausholen will, kann dank variabler Cable-Stops auch unterbrochene anstatt durchgehende Außenhüllen verbauen. Veredelt wird das Lab71-Fahrgestell mit einer schicken Spezial-Lackierung.
Erhältlich ist das Cannondale Scalpel HT Lab71 nur in einer limitierten Stückzahl bei ausgewählten Händlern zum amtlichen Preis von 10.500 Euro. So will der Hersteller dem Topmodell ein gewisses Maß an Exklusivität erhalten. Leider bietet Cannondale kein Rahmenset zum Einzelverkauf an. Wer ein Lab71 sein Eigen nennen will, muss das teure Komplettbike mit Sram XX1 SL Eagle AXS Transmission kaufen. Aus dem eigenen Haus stammt nicht nur die Cannondale Lefty Ocho Carbon, sondern auch der Hollowgram 25 Superlight Carbon-Laufradsatz mit dem Naben-Innenleben der bewährten Dt Swiss 240S. Sowohl auf die Laufräder, als auch auf den Rahmen gewährt der Hersteller lebenslange Garantie. Zur besseren Einordnung des Preises hier die Komplettbike-Gewichte sowie UVPs der Vergleichsgruppe:
Beim ersten Kontakt mit dem Cannondale Scalpel HT Lab71 kämpfen widersprüchliche Emotionen im Betrachter. Auf der einen Seite steht der wunderschöne, superleichte Rahmen mit dem prestigeträchtigen Lab71-Schriftzug und die Traum-Gabel Cannondale Lefty Ocho Carbon. Das versprüht Emotionen und macht Lust auf ein rassig-schönes Race-Hardtail. Auf der anderen Seite stechen der 80 Millimeter lange, konservative Alu-Vorbau und die kantigen Silikon-Griffe ins Auge. Fetischisten finden also auch im sündhaft teuren Cannondale noch Tuning-Potential. Die Gabel lässt sich via Lenker-Remote sperren. Genau, wie am nochmals teureren Pinarello mag sich dabei der ein oder andere an der Billig-Haptik des Plastikhebels stören. Einen Lenkanschlagsbegrenzer hat das Bike nicht. Dafür aber eine minimalistische Kettenführung und einen Sensor auf der Vorderradnabe. Dieser soll datenhungrigen Racern nochmals genauere Infos liefern, als ein rein GPS-basiertes Endgerät.
Anders, als der lange Vorbau vermuten lässt, sitzt es sich auf dem Cannondale Scalpel HT erfreulich ausgewogen. Der Rahmen besitzt die mit Abstand kürzeste Oberrohrlänge der Testkandidaten. Gleichzeitig steht der Sitzwinkel mit 74,8 Grad schön steil und bringt den Fahrer an anspruchsvollen Kletterpassagen in eine effiziente Tretposition. Für Marathons mit vielen Höhenmetern bringt das Cannondale die stimmigste Sitzposition mit. Der Sitzkomfort fällt trotz Flex-Stütze nur durchschnittlich aus. Ins Scalpel HT integriert lassen sich auch wunderbar extralange Fahrtage aushalten. Leider knackt der Sattel unseres Testbikes laut und die Carbonstütze arbeitet hörbar im Rahmen - ärgerlich bei so einem teuren Fahrrad!
Bei Kaufpreisen im Gegenwert eines kleinen Neuwagens muss jedes Details stimmen. Da sind knarzende Rahmen und Sattelstützen besonders ärgerlich! - Hans-Peter Ettenberger, BIKE-Testlabor
Speist der Cannondale-Pilot hohe Wattwerte ins Scalpel HT, so zieht das Fahrer-Bike-Gespann äußerst zügig vom Fleck. Das Lab71 besitzt die leichteste Laufrad-Kombi und die besten Beschleunigungswerte im Test. Die bewährten Schwalbe-Reifen rollen ausgesprochen gut, besitzen im Vergleich zu den breiteren Gummis am Bike Ahead aber deutlich weniger Traktion. Um auf steilen Rampen mit losem Untergrund eine optimale Kraftübertragung zu erreichen, braucht es einen sensiblen Fahrer.
Auch bergab bringt die Kombination aus schmalen Reifen und dünnen Felgen wenig Reserven mit. 25 Millimeter Innenweite sind heute eher Gravelbike-Terrain. Zum Glück kann das Cannondale auf die hervorragende Führungsarbeit der hauseigenen Gabel zählen. Die sensible, souveräne Lefty ist die beste Federgabel im Test. Dank etwas längerem Federweg und flachem Lenkwinkel bleibt das Scalpel HT auch dann auf Linie, wenn auf einem ruppigen Trail höhere Geschwindigkeiten erreicht werden. Auch die Sram Level Bremsen aus einer älteren Baureihe machen einen erstaunlich guten Job. Trotz langer Steuerzentrale und dem im Vergleich kürzesten Reach ist die Fahrsicherheit auf hohem Niveau. Mit einer stärkeren Laufrad-Reifen-Kombi würde sich das Cannondale die Abfahrtskrone im Test sichern. So aber muss sich der Amerikaner die Spitzenplatzierung mit dem deutschen Bike Ahead teilen.
Das Gewicht des Komplettbikes ohne Pedale ermitteln wir im BIKE-Testlabor. Das Laufradgewicht versteht sich pro Satz mit Reifen, Kassette und Bremsscheiben. Bei der Laufradträgheit gilt: Je niedriger der Messwert, desto leichter zu beschleunigen.
Note Fahrverhalten (45 %): 1,61
Note Labor (30 %): 1,80
Note Ausstattung: 2,36
Gesamtnote: 1,86
Nach wie vor ist das leichte Cannondale Scalpel HT mit der bärenstarken Lefty-Gabel ein formidables Cross-Country-Hardtail. Auch wenn die Geometrie nicht mehr an allen Stellen so progressiv wirkt, ist sie doch immer noch stimmig. Der edle Lab71 Rahmen ist eine Augenweide, der einige Ausstattungsdetails leider nicht ganz gerecht werden. Gemessen daran schmerzt der hohe Preis doppelt. - Jan Timmermann, BIKE-Testredakteur
Pro
Contra