Als Slopestyle-Fully ist das Canyon Stitched 720 ein seltener Anblick. Im Bikepark schanzen die meisten Besucher auf ihren Enduro- und Freeride-Fullys über die Sprünge. Im Skatepark, auf Dirt-Lines und auf dem Pumptrack dominieren Dirtbikes mit starrem Heck. Es scheint, als sei die große Zeit der Slopestyle-Spezialisten vorbei.
Damit das vollgefederte Stitched unter dieser harten Konkurrenz noch eine Daseinsberechtigung hat, muss es schon einen eindeutigen Mehrwert bringen. Wir haben das Slopestyle-Fully vom Koblenzer Versender durch Anlieger, über Sprünge und von Drops gejagt. Dabei wollten wir herausfinden, ob das Arbeitsgerät von Tomas Lemoine auch für Normalsterbliche interessant ist. Wo kann das Canyon Stitched 720 überzeugen?
Die Silhouette des Canyon Stitched 720 gleicht einem Dirtbike mit ungefedertem Heck auffallend stark - und das aus gutem Grund: Slopestyler brauchen kompakte Rahmenformen, um für Tricks möglichst viel Bewegungsfreiheit auf dem Bike zu haben. Auch die Geometriedaten sind auf Augenhöhe mit den Kandidaten aus unserem Dirtbike-Vergleichstest hier: >> Im Test: 7 Dirtbikes & ein Touren-Hardtail auf dem Pumptrack <<
Dass das Stitched 720 trotz Hinterbaufederung keinen Kettenspanner benötigt, liegt an der Positionierung des Drehpunktes auf Höhe des Tretlagers. So gerät während des Einfederns kein Zug auf die Kette, und es genügt, von Zeit zu Zeit den Kettenverschleiß zu korrigieren. Dazu kann die Kette in den horizontalen Ausfallenden mithilfe einer Distanzschraube auf Spannung gebracht werden.
Schön auch, dass Canyon auf eine echte Singlespeed-Nabe mit Schraubachse setzt. Das schafft im Gegensatz zu weit verbreiteten Speziallösungen mit Singlespeed-Konvertern Vertrauen in die Haltbarkeit der Konstruktion.
Apropos Konstruktion: Da der Dämpfer quer durch das geteilte Sitzrohr läuft, ist der Verstellbereich der Sattelstütze begrenzt. Ab Werk lässt sich die Stütze nicht voll versenken. Wer den Platz über dem Bike maximieren möchte, muss zur Säge greifen.
Der Sattel ist weder zu dünn noch zu dick und besitzt eine ordentliche Klemmfläche für Profi-Tricks, wie Suicide-Nohanders oder Barspins. Im Auslieferungszustand ergänzt Canyon die hydraulische Hinterradbremse mit einer mechanischen Vorderradbremse. Die meisten Slopestyler werden diese umgehend entfernen. Je nach Fahr-Erfahrung und Strecke ist dieses Detail aber “nice to have”.
Der erste Praxiseindruck des Canyon Stitched 720 auf dem Pumptrack: erstaunlich gut! Sofort merkt man, dass es der Versender trotz Hinterradfederung geschafft hat, die Geometriedaten eines Dirtbikes zu erhalten. Dabei zeigt sich das Slopestyle-Fully schön ausgewogen, geht flink durch enge Kurven und lässt auch bei hohen Geschwindigkeiten keine Laufruhe vermissen.
Und noch etwas fällt direkt auf: Das gedämpfte Heck ist zwar deutlich zu spüren, die Kinematik ist jedoch hochprogressiv. So verpufft beim Pushen über Wellen kaum Energie im Fahrwerk. Auch die Performance der Rockshox Pike DJ passt gut zum progressiven Verhalten des Hinterbaus. Auf dem Pumptrack liefert sie jederzeit eine ordentliche Portion Gegenhalt ohne Feedback vom Untergrund vermissen zu lassen.
In Sachen Energieverlust deutlicher zu spüren als das Fahrwerk ist das hohe Gewicht des Canyon Stitched 720. Mit über 13 Kilo liegt dieses auf Augenhöhe mit dem von uns ebenfalls auf einem Pumptrack getesteten 29-Zoll-Hardtail Cube Reaction - wobei das Allround-Hardtail wohlgemerkt mit Schaltung und 600 Euro günstiger daherkommt.
Insgesamt geht Pumptrack-Bikern mit dem Stitched 720 schneller die Puste aus, als mit einem Dirtbike. Die breiten Maxxis DTH Reifen bieten eine angenehme Dämpfung und rollen extrem schnell. Gerade bei feuchten Bedingungen auf einem Dirt-Pumptrack kommen sie jedoch früh an ihre Grenzen.
Auch auf der Dirtline beweist das Canyon Stitched 720, wie viel Spaß-Potenzial in Slopestyle-Fullys stecken kann. Zum einen besitzt der gefederte Hinterbau bei Landungen von Sprüngen und Drops mehr Reserven als ein Hardtail, zum anderen liefert dieser auch auf dem Absprung ein hohes Kontrollgefühl.
Weder zu lang noch zu kurz liegt das vollgefederte Bike gut in der Luft. Wem ein Dirtbike über Sprünge zu direkt, zu filigran, ist, der kann von der höheren Fehlertoleranz des Canyon Stitched 720 profitieren. Beim Handling über Sprünge trifft das Slopestyle-Fully des Versenders genau den Sweetspot aus Kontrolle und Dämpfung.
Die Koblenzer wählen eine recht harte Singlespeed-Übersetzung von 30 zu elf Zähnen, die zwar den Anlauf für große Sprünge erleichtert, Dirtjump-Anfänger aber etwas überfordern kann. Obacht bei Tricks: Der lange 780-Millimeter-Lenker stößt nach 90-Grad-Drehung an den ab Werk nicht voll absenkbaren Sattel. Unsere Empfehlung: Stütze und Lenker kürzen! Die dicken Griffe im Stile der legendären Odi Longneck liegen am Canyon Stitched 720 gut in der Hand.
Punkten können beim Besuch im Skatepark und bei Street-Trickserein normalerweise besonders direkte, verspielte Bikes - lleine BMX-Bikes mit ihren 20-Zoll-Rädern zum Beispiel. So überrascht es, dass auch das Canyon Stitched 720 als Fully im Skatepark nicht deplatziert wirkt. Im Gegenteil! Durch die kompakten Kettenstreben und die angenehm hohe Front ist das Canyon eine echte Manual-Maschine. Bunnyhops sind ein Kinderspiel und die zusätzlichen Reserven im Heck prädestinieren das Bike für schnelle Runs und harte Einschläge. Lip-Tricks, Fakies und Drehungen im Flat benötigen etwas Eingewöhnungszeit und vor allem aufgrund des Gewichts etwas mehr Kraft, dann klappen aber auch diese mit dem Stitched 720 erstaunlich gut. Für Tricks ist die schwache Vorderradbremse kaum zu gebrauchen.
Das Canyon Stitched 720 beweist, dass das Konzept Slopestyle-Fully nach wie vor eine Daseinsberechtigung hat. Alles läuft mit dem progressiv-vollgefederten Bike etwas geschmeidiger, flowiger, als mit einem klassischen Dirtbike. Von Pumptrack über Dirtjumps bis Skatepark vereint das Canyon Verspieltheit mit Reserven. In fähigen Händen hat das Stitched 720 das Potenzial zum absoluten Überflieger. Einzig das etwas zu hohe Gewicht der Serienausstattung trübt das ansonsten sehr gute Bild. - Jan Timmermann, BIKE-Testredakteur
Es ist erstaunlich, wie wenige Slopestyle-Fullys sich über die Jahre am Markt halten konnten. Viele Hersteller hatten zeitweise ein kleines 26-Zoll-Fully für Dirtjumps und Trick-Feuerwerke im Programm. Inzwischen ist das Angebot deutlich geschrumpft. Für 2021 nahm Specialized sein P.Slope Fully vom europäischen Markt. Auch das Transition Triple ist von der Bildfläche verschwunden. Zwar kann man Freeride-Legende Kyle Strait ab und an noch auf einem Commencal Absolut SX sehen, zum Verkauf wird das Slopestyle-Bike aber nicht mehr angeboten. Das von Cam Zink entwickelte Hyper Slopestyle Fully kam in Deutschland gar nicht erst auf den Markt. Noch aktuell aber ebenfalls hierzulande nicht zu bekommen ist das Polygon Trid ZZ.
Das Corsair König war mit 140 Millimeter Federweg auf besonders harte Slopestyle-Kurse vorbereitet. Ein massiver Rahmen und der Drehpunkt im Tretlager, welcher fürs Singlespeed-Setup keinen Kettenspanner notwendig machte, bescherte dem König viele Fans. Inzwischen baut Corsair keine Bikes mehr. Auch Morpheus ist vom Markt der Slopestyle-Bikes verschwunden. Trick-Maschine Anthony Messere sorgte einst auf dem Morpheus Vimana Slope Fully für Aufsehen. Die Rahmen von Morpheus sind aufgrund ihrer verschiebbaren Achsplatten am Ausfallende und schicken Eloxalfarben auf dem Gebraucht-Markt immer noch heiß begehrt, in Deutschland aber kaum zu bekommen. Ebenfalls seit langem aus dem Verkauf verschwunden sind das Intense Slopestyle SS und das Mongoose Nugget.
Als Merida unter dem Namen “United Merida Freeriders” (UMF) noch eine eigene Sparte für Freeride-Bikes hatte, gab es vom Branchen-Riesen mit dem UMF Freddy Slope ebenfalls ein Slopestyle-Fully. Zur Zeit großer Freeride-Filme, wie New World Disorder, flog Slopestyler Paul Basagoitia noch auf dem Kona Bass durch die Lüfte. Kona hat die Produktion von Slopestyle-Fullys inzwischen eingestellt. Das GT Distortion, auf dem einst Amir Kabbani unterwegs war, wird nicht mehr zum Verkauf angeboten. Gleiches gilt für das Nukeproof Rook. Auch in Deutschland ist die Welle der vollgefederten Trick-Bikes abgeebbt. Onooka Industries ist vom Markt verschwunden, YT hat das Play eingestampft, Nicolai baut das Ufo DS nicht mehr und Bergamont hat sich längst vom Kiez Slope verabschiedet. Sowohl das Rose Jester als auch das Bulls Wild Ace gab es nur kurz zu kaufen und auch das Solid Flair gehört der Vergangenheit an.
Welche Slopestyle-Fullys gibt es außer dem Canyon Stitched 720 also überhaupt noch? Viele sind es tatsächlich nicht. Trek bietet seinen Slopestyler Ticket S nur als Rahmenset an. Mit 1999 Euro muss man dafür allerdings genauso viel hinblättern, wie bei Canyon fürs komplette Bike. Deutlich günstiger kommt man da mit dem Dartmoor Shine weg. Scheinbar glaubt man in Polen noch an Slopestyle-Fullys, denn auch die Landeskollegen von NS Bikes haben mit dem Soda Slope noch ein entsprechendes Rahmenset im Angebot. Unter dem Label Radio Bike Co. ist ein Modell mit dem Namen Siren erhältlich, dessen Rahmen der alten Form des Dartmoor Shine auffällig ähnelt. Es scheint, als könne man in Amerika auch noch ein Rahmenset des ikonischen Blackmarket Killswitch käuflich erwerben.