Jan Timmermann
· 06.12.2024
Bei leichten Mountainbikes hat sich Carbon längst zum Top-Werkstoff etabliert. Gerade unter den sportiven Race-Hardtails geht es heute um ausgeklügelte Layup-Designs, belastungsspezifischen Materialeinsatz und die richtige Portion Elastizität, sprich Flex, um Komfort, Belastbarkeit und geringstes Gewicht bestmöglich unter einen Hut zu bekommen.
Die Entwicklung eines MTB-Hardtails mag im Vergleich zu seinen vollgefederten Artgenossen auf den ersten Blick wie eine simple Aufgabe erscheinen. In Wahrheit aber ist die Konstruktion eines leichten, stabilen, komfortablen und haltbaren Hardtail-Chassis aus Carbon eine regelrechte Ingenieurs-Meisterleistung - erst recht, wenn man bedenkt, wie alles anfing.
Als die Mountainbike-Szene in den Neunzigern ihren ersten großen Boom erlebte, waren Bikes aus Kohlefaser noch regelrecht exotisch. Carbon kannte die Öffentlichkeit höchstens aus der Formel-Eins oder der Raumfahrt. Gleichzeitig klangen die Versprechungen des Werkstoffs, wie Musik in den Ohren der Bike-Hersteller: Freiheit bei der Umsetzung realistischer Designs, minimales Gewicht bei maximaler Steifigkeit.
Begleitet wurde die Euphorie für Mountainbikes aus Carbon vor 30 Jahren aber auch von Skepsis. Bilder von gebrochenen Lenkern, zerstörten Rahmen und geborstenen Sattelstützen verfehlten ihre Wirkung nicht. Schließlich stürzten sich Biker schon damals auf ihren Sportgeräten waghalsige Abhänge hinunter und betrieben Wettkämpfe auf extrem hohem Niveau. Die Angst vor gefährlichen Bastel-Bikes war real. Auch in den Neunzigern war das Grundmaterial bereits alles andere als schlecht. Was für den Bau von MTB-Komponenten fehlte, war die Erfahrung dieses auch optimal einzusetzen. Die frühen Zeiten der Carbon-Mountainbikes waren geprägt von abenteuerlichen Experimenten und ernüchterndem Murks. Aber es gab auch einzelne Projekte, die herausstachen und sich als die wahren Vorreiter heutiger Carbon-Bikes beweisen konnten. Das aufregendste unter ihnen hörte auf den Namen Magma M1 aus dem Jahrgang 1994.
Einer, der sich vom radikalen Magma M1 inspirieren ließ, war Christian Gemperlein. Noch heute hängt das originale Bike in seinem Büro. Fasziniert von den Möglichkeiten, die Carbon in der Entwicklung von Fahrrädern bot, studierte der Franke zunächst Kunststofftechnik und gründete 2010 die Firma Bike Ahead Composites. Heute hat sich Gemperlein als Experte für Carbon-Bikes etabliert und stellt mit seinem Team zahlreiche leichte MTB-Parts in Deutschland, genauer gesagt Veitshöchheim nahe Würzburg, her. Auf sein Know-How vertrauen seit Jahren Hersteller hochwertiger Carbon-Rahmen, wie etwa Stoll oder Last. In der Manufaktur entstehen unter eigener Marke Laufräder, Sättel, Sattelstützen, Lenker-Vorbau-Einheiten und seit neuestem auch ein Hardtail-Rahmen. 30 Jahre nachdem Gemperlein vom Magma M1 verzaubert wurde, bringt er ein erstes eigenes Mountainbike auf dem Markt: Das Bike Ahead The Frame, Jahrgang 2024.
Natürlich unterscheidet sich das Magma M1 aus den Neunzigern optisch sehr eindeutig von den aktuellsten Race-Hardtails aus Carbon. Trotzdem finden sich bereits am Bike von damals gewisse Details, die heute Standard sind. Das Magma M1 war seiner zeit voraus. Der Vergleich mit dem brandaktuellen Bike Ahead The Frame zeigt, was sich in 30 Jahren Carbon-Technik an Mountainbikes alles getan hat:
Ein Mountainbike-Chassis, wie am Magma M1, hatte die Welt 1994 noch nicht gesehen. Pechschwarz, voluminös und futuristisch unterschied es sich eindeutig von allem bisher Dagewesenen. Als das Magma M1 vorgestellt wurde, war im MTB-Rahmenbau Aluminium noch das Maß der Dinge. Carbon wirkte fremd, wie das Zauber-Material von Außerirdischen. Mit seinem durchgezogenen Mittelrohr lehnt sich das Magma M1 nahe an das erste jemals gebaute Mountainbike aus den Siebzigern an: das Breezer 1 von Joe Breeze. Die Konstruktion versprach Steifigkeit und Stabilität.
Um das Verklemmen der Kette am Magma M1 zu verhindern, wurde die Kettenstrebe weit hochgezogen. Erstaunlicherweise wurde bereits das M1 in einer echten Monocoque-Bauweise gefertigt. 1600 Gramm bringt der ikonische Rahmen auf die Waage. Was sich für einen Hardtail-Rahmen aus Carbon heute nach viel anhört, war damals ein Rekordwert und stand im Widerspruch zur wuchtigen Optik. Der Bike Ahead The Frame Rahmen aus dem Jahre 2024 setzt dreißig Jahre später immer noch auf eine Monocoque-Konstruktion, wiegt mit Gewichten ab 795 Gramm (BIKE-Messung in Rahmengröße L: 911,7 Gramm) nur rund die Hälfte der Urgroßvater-Generation. Bislang verkaufte Bike Ahead The Frame nur als Rahmenset. Das dürfte sich jedoch bald schon ändern. Beide Rahmen-Generationen setzen auf eine integrierte Kabelführung.
Anfang der Neunziger starteten Federgabeln gerade auf ihren unaufhaltsamen Siegeszug. Im Magma M1 steckte damals eine Pace RC. Die Gabel des britischen Unternehmens war damals State of the Art. Technisch bediente man sich allen Raffinessen: Eine gefräste Gabelkrone traf auf Tauchrohre aus Carbon und eine Bremsbrücke für Felgenbremsen, welche hinten anstatt vorne saß. Nach heutigen Standards erscheinen die 50 Millimeter Federweg irrwitzig wenig. Auch die Funktion der Elastomere würde heutzutage bei den meisten Bikern vermutlich Entsetzen auslösen.
In diesem Vergleich mit dem Magma M1 steht das persönliche Bike von Bike Ahead Chef Christian Gemperlein Pate. Im Steuerrohr seines The Frame steckt eine Cannondale Lefty Ocho Carbon. Zwischen der Fahr-Performance im Gelände trennen beide Federgabeln Welten. Zwar ist die Race RC nach wie vor schön anzusehen, wer sich einen Rodeo-Ritt ersparen möchte, sollte aber lieber auf die 100 Millimeter Federweg im Bike Ahead The Frame vertrauen. Der Rahmen lässt mit maximal 120 Millimetern Hub mehr als das Doppelte der damaligen Knautschzone zu.
Technisch wie optisch spielten die Technoflug-Laufräder des Magma M1 1994 in einer eigenen Liga. Mit drei massiven Speichen wirkte der Laufradsatz, wie aus einem Guss. Tatsächlich aber waren die 26 Zoll kleinen Felgen aus Alu mit dem Hauptteil aus Carbon verklebt und die Speichen direkt einlaminiert. Damals für praktisch erachtet: Direkt ins Carbon war auch ein Speichenmagnet für den Radcomputer integriert. Im Satz brachten die Technoflug circa 2000 Gramm auf die Waage. Mit ihrem radikalen Design lieferten sie Inspiration für die legendären Bike Ahead Biturbo Laufräder, welche die Geburtsstunde der Firma markieren. Im Gegensatz zum Retro-Laufradsatz besitzen die Biturbo sechs Speichen und sind trotz großer 29 Zoll rund 700 Gramm leichter.
Das persönliche Bike Ahead The Frame Hardtail von Christian Gemperlein steht auf klassisch eingespeichten Bike Ahead Three Zero Wheels, welche die Waage mit 1335 Gramm in der leichtesten Version (BIKE-Messung: 1417 Gramm) nur minimal belasten. Mit 30 Millimetern Innenweite ist ihre Carbon-Felge breiter, als die Modelle an den Downhill-Bikes der Neunziger und stützen moderne Breitreifen kompetent ab. Natürlich lassen sich die Three Zero tubeless aufbauen. Damit der Reifen bei einem Durchschlag nicht beschädigt wird und die Luft im System bleibt, ist das Felgenhorn leicht geschwungen und abgerundet. Anders, als bei anderen Produkten, sind die Speichenlöcher nicht gebohrt, sondern werden laminiert. So sollen die Carbon-Fasern zugunsten der Stabilität unbeschädigt bleiben.
Bereits in den Neunzigern kamen Kurbeln aus Carbon zum Einsatz - so auch am Magma M1. Die FSA-Kurbeln von damals entstanden allerdings in einer heute überholten Bauweise. Um einen Kern aus Styropor wurden die Carbon-Lagen herumgewickelt, der Kurbelstern bestand aus Aluminium. Dass sich im Bereich der Kurbel eine rasante Evolution abspielte, scheint heute fast vergessen. Änderungen gab es nicht nur beim Lochkreisdurchmesser der Kettenblattaufnahme. Auf den Compact-Standard folgte der Klassik-Standard. Über die Jahre wurde die Anzahl der Kettenblätter von drei über zwei bis auf ein einziges reduziert. Auch die Grip-Shift-Schaltung des Magma M1 wirkt heute exotisch. Die 3x8-Schaltung sollte Shimano Marktanteile abjagen, erntete aber nur wenig Erfolg. Später wurde die US-Firma zum heute weltbekannten Unternehmen Sram. Am Schaltwerk befanden sich damals Kunststoff-Spritzgussteile mit Carbon-Aufdruck.
Am modernen Mountainbike haben sich weitestgehend Kurbeln aus Aluminium oder leichterem Carbon durchgesetzt. Christian Gemperlein gönnt seinem Bike Ahead The Frame Hardtail allerdings Cane Creek eeWings aus Titan. Heute hat Sram bereits große Teile des Marktes für Mountainbike-Antriebe übernommen. 1x12-Schaltungen gehören längst zum Standard. An der aktuellen Auslegung des Carbon-Hardtails wechselt eine Sram XX1 Eagle AXS Schaltung die Gänge kabellos via Funksignal. Um das originale Schaltwerk aus Kunststoff, Alu und Titan zu tunen und das Gewicht zu senken, verbaut Gemperlein Carbon-Teile von Hopp Carbon Parts.
Auch am Cockpit zeigt sich, wie weit das Magma M1 seiner Zeit voraus war. In den frühen Neunzigern traute sich kaum ein Hersteller MTB-Lenker aus Carbon zu konstruieren - geschweige denn eine Lenker-Vorbau-Einheit. Heute erscheinen die Dimensionen natürlich retro: 140 Millimeter Vorbaulänge und 560 Millimeter Lenkerbreite sind nach heutigen Standards extrem lang und schmal. Mit 300 Gramm kann sich heute immerhin das Gewicht des Cockpit-Einteilers sehen lassen. Fast ausgestorben sind inzwischen die damals obligatorischen Barends.
Auch das neue Bike Ahead The Frame von Christian Gemperlein setzt auf eine Lenker-Vorbau-Einheit aus Carbon. Das Bike Ahead The Unit wurde in der Formgebung von einem Mantarochen inspiriert und spielt technisch in einer völlig anderen Liga, als das Teil am Magma M1. Mit 55 Millimeter Vorbaulänge wiegt The Unit lediglich 205 Gramm und besitzt trotzdem die volle Freigabe für den Enduro-Einsatz nach ASTM-4-Norm (auch für E-MTBs). An eine integrierte Leitungsführung durch das Cockpit war 1994 nicht einmal zu denken.
Leugnen lässt sich die genetische Verwandtschaft des Magma M1 und des neuen Bike Ahead The Frame Hardtails nicht. In vielen Details ist die Nähe der Generationen zu erkennen. Natürlich handelt es sich aber um zwei völlig unterschiedliche Mountainbikes. Das erste eigene Hardtail von Bike Ahead wiegt trotz Dropper-Post, 100-Millimeter-Federgabel und 2,4 Zoll breiten Reifen auf 29 Zoll großen Laufrädern nur 8,3 Kilo und damit knapp zwei Kilo weniger, als das Magma M1 von 1994. Es mag erstaunen, wie fortgeschritten Carbon-Technik bereits vor dreißig Jahren war. Noch erstaunlicher aber ist, wie der Einsatz des Materials beim modernen Bau von Mountainbikes auf die Spitze getrieben wird. Geht es nach Bike Ahead Firmengründer Christian Gemperlein ist die Evolution der Carbon-Bikes auch lange noch nicht abgeschlossen.