Florentin Vesenbeckh
· 09.10.2023
E-Bike? Ja, bitte! Das Moterra Neo LT Carbon 1 von Cannondale will seine Wurzeln nicht verleugnen. Und die stecken ganz klar im Segment der Power-E-Mountainbikes. Mit seiner bulligen Optik ist dieses E-Enduro ein klarer Kontrapunkt zu einem schmächtigen Light-Enduro mit schlanker Silhouette, dezentem Motorschub und mäßiger Reichweite. Traditionell setzt Cannondale auf die Power von Bosch-Motoren. Der Bosch Performance Line CX sorgt im langhubigen Moterra Neo LT für Schub. Der große Powertube-Akku von Boschs Smartsystem sitzt tief im Rahmen des Bikes, so passen die 750 Wattstunden sogar in kleine S-Rahmen. Neben dem massiven Motorbereich sorgen auch die serienmäßigen Fender, die breiten 2,6er-Walzen und der Stahlfederdämpfer für das wuchtige Auftreten des E-Enduros. Das zeigt sich auch an der Wage: Mit 25,9 Kilo ist es für ein Bike dieser Preisklasse überdurchschnittlich schwer. Dafür glänzt es mit einer hohen Gewichtsfreigabe bis 150 Kilo Systemgewicht - das liefern wiederum nur wenige E-MTBs.
Das neue Moterra gibt es neben der hier getesteten LT-Variante auch mit etwas weniger Federweg. Die 150er-Variante (ohne LT im Namen) setzt auf 29er-Laufräder vorne wie hinten - zeigt aber ansonsten die gleichen Features. Hier geht´s zum Test des kleinen All Mountain Bruders Cannondale Moterra Neo Carbon 1.
Wie schon das allererste Moterra setzt auch die aktuellste Ausbaustufe des E-MTBs von Cannondale auf einen Antrieb von Bosch. Der Performance CX gehört zu den kräftigsten Motoren am Markt. Seine spritzige und dynamische Kraftentfaltung und der super E-MTB-Modus machen den Motor zum echten Uphill-König. In schwierigen Anstiegen bleibt man damit entspannt Herr der Lage.
Im Unterrohr des Cannondale Moterra sitzt der lange (und leider schwere) Powertube 750. Diese Kombi treibt das Moterra zu einer besonders starken Reichweite. In unseren standardisierten Reichhöhentests schneidet dieses System überdurchschnittlich gut ab und erklettert unter den standardisierten Idealbedingungen rund 2000 Höhenmeter am Stück. Die Batterie lässt sich bei Cannondale klassisch nach vorne herausklappen. Das geht schnell und verhältnismäßig komfortabel. Wer die Batterie häufig entnimmt, profitiert davon.
Bei den Bedienelementen geht Cannondale den üppigen Weg. Über dem Vorbau prangt ein Kiox 300, das viele Ansichtsseiten und Informationen samt Navigationsansicht bereit hält. Dazu gibt´s am Lenker die LED Remote zur Steuerung, die über kleine Leuchten nochmal Akku-Stand und Unterstützungsstufe anzeigt. Minimalisten können die Remote auch alleine nutzen, ohne Display. Die Option auf den Systemcontroller im Oberrohr gibt´s beim Moterra nicht.
Mit einem Radstand von 1280 mm in Größe L gehört das Moterra LT definitiv zu den geräumigeren E-MTBs. Dafür sind ein gemäßigt langer Reach von 470 mm und überdurchschnittlich lange Kettenstreben von 455 mm verantwortlich. Die in unserem hauseigenen EMTB-Labor gemessenen Werte unterstreichen unseren Eindruck aus den Praxistests: Laufruhe steht hier vor Wendigkeit. Der Lenkwinkel fällt mit 64 Grad flach, aber für Enduro-Verhältnisse nicht extrem aus. Das Sitzrohr ist recht lang, was die Wahlfreiheit bei der Rahmengröße ebenso einschränkt, wie die mögliche Länge der Teleskopstütze. So stecken in unserem Testbike in Größe L lediglich 150 mm Verstellweg.
Auffällig ist der integrierte Frontscheinwerfer von Lezyne. Wenn die Tour mal länger dauert oder das Bike auch im Alltag genutzt wird, braucht man sich dadurch keine Sorgen um Licht und Akkustand zu machen. Beides ist immer am Bike, denn die Energie zieht die Leuchte aus dem großen Haupt-Akku, der für das Licht eine Reserve bereit hält. Solide sind Shimanos XT-Schaltgruppe und Srams Code RSC Bremsen. Das Rockshox-Fahrwerk mit ZEB-Gabel und Stahlfederdämpfer funktioniert gut - in Anbetracht des Preises von 8500 Euro würde man sich jedoch den Griff zur Top-Reihe “Ultimate” von Rockshox wünschen. Kleine Schwächen bei der Ausstattung: Die Teleskopstütze bietet mit 150 mm nur wenig Hub und damit nicht ultimativ viel Bewegungsfreiheit, die Maxxis-Reifen mit der mäßig robusten Karkasse Exo+ bieten für den Speed-Willen des Bikes etwas wenig Pannenschutz. Top: hohe Gewichtsfreigabe, komfortabler Akku-Wechsel.
Die Sitzposition ist zentral und angenehm ausgewogen. Doch schon in der Ebene spürt man, dass man eine Menge Bike unter sich hat. Das gibt Sicherheit und Vertrauen und vermittelt Big-Bike-Gefühle. Der spritzige Performance CX lässt im Uphill aber keine Langeweile aufkommen. Steile Anstiege können das Bike nicht schrecken, denn dank langer Kettenstreben, stabiler und zugleich traktionsstarker Heckfederung sowie guter Position klettert das Cannondale Moterra sehr unkompliziert. Nur in engen Passagen und Kehren wirkt das lange Bike etwas sperrig und unhandlich.
Bergab setzt sich der Bomb-Proof- Charakter fort. Selbst wenn es noch so ruppig wird, bleibt das Moterra LT souverän, die Laufruhe ist enorm. Auch das Heck mit Stahlfederdämpfer ist in jeder Situation Herr der Lage. Dabei agiert es allerdings eher betont definiert und nicht übermäßig plüschig. Wer am Setup seiner Hinterbaufederung herumspielen möchte, sollte im Kopf behalten, dass das mit dem Stahlfederdämpfer nicht so leicht möglich ist, wie mit einem Luft-Setup.
Der direkte Charakter gefällt besonders sportlichen Vollgaspiloten. Genau diese Klientel vermisst beim Moterra LT allerdings Wendigkeit und Kurvengier. Auf langsameren Trails, in engen Kehren und technischen Passagen wirkt das lange Bike behäbig und schwerfällig. Hier machen sich neben dem langen Hinterbau auch das etwas höhere Tretlager und Gewicht bemerkbar. So lässt sich das Moterra LT auch nur widerwillig aufs Hinterrad ziehen. An Sprüngen und Kanten steigt der Brummer über sein definiertes Heck aber exzellent in die Luft und segelt stabil auch über große Drops. Die versierten EMTB-Testfahrer hätten sich etwas schmalere Reifen gewünscht, denn die 2,6er-Maxxis-Pneus vermitteln ein wenig definiertes Fahrgefühl und machen das Handling etwas unpräzise. Fährt man das Vollgas-Potenzial des Bikes auf ruppigen Kursen aus, können auch die dünnen Karkassen (Maxxis EXO+) nicht mithalten. Ein Enduro dieses Kalibers braucht zumindest am Heck stabilere Reifen.
Wer Fahrsicherheit im harten Gelände sucht, ist beim Moterra LT richtig. Das Bike gibt bergauf wie bergab viel Vertrauen und schreckt vor keiner Herausforderung im Gelände zurück. Leider ist es in Summe etwas schwer und behäbig. Dafür besteht das Bike mit starker Reichweite und top Kletter-Geo auch auf fiesen und langen Uphill-Missionen, sowie auf ausgedehnten Enduro-Touren. – Florentin Vesenbeckh, Testleiter EMTB Magazin.
¹Ermittelt auf den Prüfständen im EMTB-Testlabor, Gewicht ohne Pedale. Akku-Gewicht ggf. inkl. verschraubtem Cover.
²Herstellerangabe
³Stufentest, gemessen mit 36 Zentimeter erhöhtem Hinterrad
⁴Das Urteil gibt den subjektiven Eindruck der Tester und die Ergebnisse der Reichhöhenmessung und der Labortests wieder. Das EMTB-Urteil ist preisunabhängig. EMTB-Urteile: super (ab 9,0), sehr gut (ab 8,0), gut (ab 7,0), befriedigend (ab 6,0), mit Schwächen (ab 5,0), darunter ungenügend.