Beim Nicolai Nucleon 16 Supre hat Normalität Hausverbot. Das sehen auch Nicht-Biker bereits auf den ersten Blick. Besonders auffällig: der umgelenkte Antriebsstrang. Alternative Schaltungskonzepte gehören so selbstverständlich zu Nicolai wie die Butter aufs Brot. Dabei spielten immer wieder Getriebe als Ersatz für die exponierte Kettenschaltung eine zentrale Rolle an den maschinenbaulich vollendeten Rahmen aus Aluminium. Auch das vollgefederte Nucleon reiht sich in diese Tradition ein und setzte bereits in früheren Versionen – etwa beim Nucleon DH oder dem Nucleon Evo – auf eine modifizierte 14-Gang-Nabe von Rohloff, die auf Höhe des Schwingendrehpunkts lag. Hohes Gewicht und eine schlechtere Schaltbarkeit unter Last waren jedoch Kritikpunkte, die letztlich das Aus dieser Getriebelösung besiegelten. Nun ist das Nicolai Nucleon zurück und hat erneut eine außergewöhnliche Antriebs- und Fahrwerkslösung im Gepäck.
Geht es nach Nicolai, muss es jedoch nicht immer die Getriebebox sein, wenn es gilt die klassische Kettenschaltung zu optimieren. Mit dem bereits 2022 auf der Eurobike präsentierten Nucleon 16 hält Nicolai zwar an der Kettenschaltung fest, verabschiedet sich aber dennoch vom traditionellen Schaltwerk. Der sogenannte “Supre-Antrieb” des Nicolai Nucleon 16 Supre basiert auf einer Kettenschaltung mit zwölf Gängen und kommt ohne exponierten Schaltwerkskäfig aus. Das Alu-Fully will also anders sein, als seine Enduro-Artgenossen. Auch bei den Hard-Facts geht das Nicolai in die Vollen. Es bietet 178 Millimeter Federweg am Heck und bringt 18,37 Kilogramm auf die Waage.
Doch warum überhaupt der ganze Aufwand in der Entwicklung des Nicolai Nucleon 16 Supre? Diese Frage drängt sich einem beim Anblick des futuristischen Supre-Antriebsstrangs mit seinen überdimensionierten Umlenkrollen und Spannhebeln geradezu auf. Nun, alle abstehenden Teile am MTB sind erst einmal potenziell gefährdet: Steine, Äste und auch Stürze gehören zum MTB-Alltag einfach dazu und können exponierte, filigrane Bauteile schnell zerstören. An Bikes mit Kettenschaltung befindet sich das Schaltwerk in direkter Schusslinie und ist im Falle einer Kollision der Leidtragende.
Ein weiterer Grund für den vom Kanadier Cedric Eveleigh entwickelten Supre-Antrieb ist das am Nucleon 16 gewählte Hinterbausystem. Das Enduro mit 165 bis 178 Millimeter Federweg basiert auf einem Eingelenker mit hohem Drehpunkt, was eine optimierte Raderhebungskurve mit sich bringt. Anstatt am Stein hängen zu bleiben, kann das Hinterrad dank der High-Pivot-Anlenkung nach hinten oben ausweichen. So weit, so gut, wäre da nicht die Sache mit der Kettenstrebenlängung. Um den Pedalrückschlag beim Einfedern zu eliminieren, wird die Kette in Nähe des Hauptdrehpunktes umgelenkt. Antriebseinflüsse sind somit Geschichte. Doch auch im unteren Teil des Antriebsstranges findet zwischen Kettenblatt und Hinterradachse eine Längung statt, sobald der Hinterbau einfedert.
Diese auszugleichen wäre bei der traditionellen Kettenschaltung der Job des Schaltwerks. Dabei bewegt sich der Schaltwerkskäfig jedoch gegen die Kraft des Reibungsdämpfers, der ein Schlagen der Kette verhindern soll. Das verschlechtert wiederum das Ansprechverhalten des Hinterbaus. Mit der Supre-Kettenschaltung umgeht Nicolai diesen Effekt, da der Kettenspanner nicht Teil des Schaltwerks ist, sondern am Hauptrahmen integriert wurde.
Durch die auf den Drehpunkt ausgerichtete Lage des unteren Kettenstranges findet nahezu keine Kettenlängung beim Einfedern statt. Der Kettenspanner mit Reibungsdämpfer sitzt über dem Kettenblatt und arbeitet ölgedämpft und damit geschwindigkeitsabhängig. Bei langsamen Bewegungen, wie beim Schalten auf größere Ritzel, ist die zu überwindende Kraft gering, bei schnellen Schlägen wird hingegen effektiv Kettenschlagen verhindert.
Der Rahmen des Nucleon 16, den Nicolai förmlich um die Schaltung herumgebaut hat, kann im Mullet-Setup oder mit 29-Zoll-Laufrädern gefahren werden. Bislang ist das Nucleon 16 das einzige Bike, das mit der Supre-Schaltung kompatibel ist. Für massive Abfahrtsfreude können Gabeln von 160 bis 180 Millimetern gefahren werden. Bei der Geometrie vertraut Nicolai auch beim neuen Nucleon 16 auf das Geolution-Konzept mit einem langem Reach (473 mm in Gr. M) und supersteilem Sitzwinkel von 77,7 Grad. Mit 63 Grad fällt der Lenkwinkel – typisch für Nicolai-Bikes – ebenfalls sehr flach aus. Dank der fünf Rahmengrößen werden Fahrer von 1,64 bis 2,10 Metern mit dem Enduro glücklich.
Wir haben die fünf spannendsten Details des Nicolai Nucleon 16 mit alternativem Supre-Antrieb nochmals zusammengefasst:
Wir haben das Nicolai Nucleon 16 Supre bereits über die anspruchsvollen Trails in Finale Ligure sowie im Bikepark Geißkopf gejagt und konnten uns einen Fahreindruck vom Enduro “made im Germany” verschaffen. Zudem haben wir das Nucleon ausgiebig im BIKE-Testlabor vermessen.
Das Nicolai Nucleon 16 Supre ist ein Geschoss. Nicht nur die technisch-martialische Optik, auch das stolze Gesamtgewicht von rund 18,5 Kilo grenzt das Nucleon 16 messerscharf von gewöhnlichen Enduros ab. Zusätzlich zieht der Supre-Antrieb, das Herzstück des Rahmens, wie ein Magnet alle Blicke auf sich. Per XT-Daumenschalter lässt sich das geschützt im Rahmendreieck integrierte Schaltwerk zuverlässig bedienen. Bis auf die etwas hohe Handkraft wechselt die Kette präzise und zuverlässig die Ritzel. Das Schaltgefühl ähnelt einer konventionellen Shimano-XT-Schaltung. Bergauf kann das Nicolai seine zahlreichen Pfunde nicht verbergen. Es geht nur gemütlich voran. Der steile Sitzwinkel positioniert den Fahrer weit vorne, während die langen Kettenstreben eine gute Steigfähigkeit garantieren. Auch unter Kettenzug arbeitet der Hinterbau sehr aktiv und sorgt für Traktion. Im Wiegetritt pumpt der Dämpfer auf verträglichem Niveau.
Sehnsüchtig giert das Nucleon 16 nach der Abfahrt und fiebert echten Steilstücken entgegen. Auf flachen Passagen überwiegt die hohe Trägheit. Sobald es richtig steil und rumpelig wird, kann das Nicolai durch Laufruhe und Souveränität überzeugen. Der High-Pivot-Hinterbau glättet jede Felspassage zum Flowtrail und bietet trotz Stahlfeder definierten Gegenhalt. Lediglich kleine, schnelle Schläge dringen stärker als erwartet zum Fahrer durch. Etwas nervig: Bereits nach kurzer Zeit löste sich die Kartusche des Kettenspanners im Rahmen und klappert. Ein Problem, für das es laut Nicolai bereits eine Lösung gibt.
Das Nucleon 16 mit Supre-Antrieb will zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen und die Effizienz und den Schaltkomfort der Kettenschaltung mit der Robustheit eines Getriebes verquicken. Während die Funktion bereits überzeugen konnte, muss sich die Haltbarkeit des Systems noch beweisen. Fast bedauerlich, dass das aufwendige Supre-Projekt nicht weitergeführt und zur Eurobike 2024 eingestellt wird.
BIKE: Rahmen mit Getriebelösung standen oft wegen ihres hohen Gewichts in der Kritik. Trotz Supre-Kettenschaltung ist aber auch das Nucleon 16 keineswegs ein Leichtgewicht.
VINCENT STOYHE: Um ein Getriebe in ein Bike zu integrieren, muss man einige Hürden überwinden. Auch das Supre-System hat durch seine drei wesentlichen Eigenschaften – Schaltwerk im Ausfallende integriert, Spannarm um das Tretlagergehäuse gelagert und die Dämpfungskartusche im Unterrohr – einige Speziallösungen erfordert, welche an einem Bike mit regulärem UDH-Schaltwerk nicht nötig wären. Die Vorteile liegen dennoch auf der Hand: Das geringere Gewicht am Hinterbau verringert die ungefederte Masse und macht das Fahrwerk sensibler und performanter. Dazu kommt die im Unterrohr integrierte Dämpfungskartusche, welche die Kette geschwindigkeitsabhängig auf Spannung hält und nicht wie bei einem Schaltwerk eine konstante Spannung durch einen Reibungsdämpfer erzeugt.
BIKE: Die Gefahr eines Schaltwerksdefekts lässt sich nicht wegdiskutieren, zählt aber dennoch nicht zu einem häufigen Schadensbild. Parallel bietet ihr vom Nucleon 16 auch eine Version (UDH) mit anderem Hinterbau und herkömmlicher Kettenschaltung an. Wem empfehlt ihr welche Variante?
VINCENT STOYHE: Das Verhindern eines Schaltwerkdefekts steht hier auch nicht im Vordergrund und ist eher als ein erfreulicher Nebeneffekt zu sehen. Der Fokus liegt ganz klar auf der Hinterbau-Performance. Menschen, welche das Maximum aus dem Fahrwerk herausholen wollen und den technischen Vorsprung aus einer individuellen Schaltwerkslösung nicht scheuen, greifen zu Supre. Die neuen, superpräzisen und robusten UDH-AXS-Schaltwerke sind die perfekte Wahl für alle, die ein aufgeräumtes Cockpit und exakte Schaltvorgänge wünschen. Der klassische Hinterbau bietet eine Kompatibilität mit allen gängigen 1x12-Kettenantrieben, sodass eine Ersatzteilverfügbarkeit in jeder Werkstatt gegeben ist. Das ist auch der Grund, warum wir das Nucleon 16 Supre künftig aus dem Portfolio nehmen.