Ich bin gerne für mich, introvertiert und Fremden gegenüber sparsam mit Worten. Smalltalk? Nur unfreiwillig. Und doch rolle ich an diesem sonnigen Sonntagmittag mit dem Nicolai G1 GPI im Gepäck auf den Parkplatz des Bikeparks in Oberammergau. Rückblickend muss ich sagen: Ich hätte kein unpassenderes Bike für einen entspannten Tagestrip wählen können. Denn kaum plumpst das Hinterrad von der Ladekante auf den Schotter, geht es los: „Boah, geiles Bike!“, „Ey, das ist doch das mit dem Getriebe, oder?“, „Gehört das dir?“ Die Kommentare prasseln schneller auf mich ein, als ich die Knieschoner hochziehen kann.
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Dass dieses Bike die Blicke anzieht wie die Motten das Licht, war zu erwarten. Das pinke Eloxal und die Geometrie mit offensichtlich superflachem Lenkwinkel sind kaum zu übersehen und das Pinion-Getriebe mit Gates-Riemenantrieb hat im Einheitsbrei des Mountainbike-Massenmarkts noch immer Seltenheitswert. Vom exklusiven Antrieb stammt übrigens auch der Name GPI: G für Gates, PI für Pinion. Doch die wahren Highlights des pinken Alu-Kolosses können die Parkbesucher im Vorbeigehen nicht so leicht erspähen. Ein Glück, denn bei der Fülle an Details hätte ich sonst vermutlich bis Liftschluss ein Gespräch nach dem anderen an der Backe.
Das G1 bildet die Enduro-Plattform im Nicolai-Portfolio. Perfekt ausgetüftelte Schweißnaht-folgen, die den Verzug durch Hitze minimieren sollen, verbinden Rohre aus 7020-T6-Aluminium und CNC-Frästeile zu einem Rahmen komplett Made in Germany. Der Viergelenk-Hinterbau mit Horst-Link bietet je nach Flipchip-Position 162 oder 175 Millimeter Federweg. An der Front kommen Federgabeln mit 170 oder 180 Millimetern Federweg zum Einsatz.
Alle 10000 Kilometer ein frisches Ölbad – mehr Wartung braucht das Pinion-Getriebe nicht, um zuverlässig zu laufen. Ohne exponiertes Schaltwerk fällt zudem eines der defekt-anfälligsten Bauteile am Bike weg. Doch neben den praktischen Vorteilen in Sachen Haltbarkeit und Wartung zahlt das GPI-System auch auf die Abfahrts-Performance ein, weil das Fehlen von Schaltwerk und Kassette das Gewicht am Hinterrad reduziert – ein Boost für die Fahrwerksfunktion. Denn je geringer die ungefederte Masse, desto geschmeidiger folgt das Rad dem Untergrund.
Ein weiteres Highlight: Smart Shift. Die Getriebestufen werden elektronisch angesteuert, die Hebelbelegung lässt sich individuell per App anpassen, und der Startgang kann automatisch auch im Stillstand eingelegt werden.
Trends sind uns egal – mit dieser Attitüde hat sich das Boutique-Label einen Namen gemacht. Das Team rund um Firmengründer Kalle Nicolai überzeugt lieber mit innovativen und teils radikalen Geometrie-Ansätzen. Das G1 macht da keine Ausnahme: 485 Millimeter Reach in Größe M, 63 Grad Lenkwinkel und ein Radstand von 1284 Millimetern – mit kleinem 27,5er-Hinterrad wohlgemerkt. Damit baut unser Testbike länger und flacher als das komplette Enduro-Testfeld aus BIKE 04/25.
So weit, so beeindruckend – doch das ist nur der Anfang. Mit seinen Adaptern in Ketten-und Druckstreben – sogenannten Mutatoren – lässt sich das G1 flexibel auf verschiedene Laufradgrößen trimmen: 27,5 Zoll, Mullet oder einheitlich 29 Zoll. Sobald die Grundkonfiguration steht, beginnt der eigentliche Tuning-Spaß. Die drei unterschiedlich langen Kettenstreben-Mutatoren sowie sechs Druckstreben-Varianten eröffnen bis zu sieben weitere Mutationsmöglichkeiten pro Rahmengröße, womit sich Kettenstrebenlänge, Tretlagerabsenkung und Lenkwinkel verändern lassen.
So vereint eine Plattform gleich eine ganze Bandbreite an Charakteren – vom ultraprogressiven Spaß-Boliden bis hin zum ausgewogenen Race-Enduro. Ein Bike, unzählige Möglichkeiten. Einziger Haken: Wer abseits der Standard-Mutationen experimentieren möchte, sollte genau wissen, was er tut. Denn die Länge des Riemens ist meist nur mit einer Mutation kompatibel.
Schaut man sich die Geometriedaten der Größen S bis XXL genauer an, fällt außerdem auf: Nicolai setzt beim G1 GPI auf eine proportional wachsende Geometrie. Neben den üblichen Werten wie Oberrohr- und Kettenstrebenlänge verändern sich je nach Rahmengröße auch Lenkwinkel und Sitzwinkel deutlich. Gleichzeitig hält Nicolai das Verhältnis von Reach zu Stack konstant – alles Kniffe, die sicherstellen, dass die Hauptkontaktpunkte, sprich die Hände am Lenker und die Füße auf den Pedalen, über alle Größen hinweg gleichmäßig belastet werden. Das Resultat: dieselbe Lastverteilung zwischen Vorder- und Hinterrad – egal ob auf einem kompakten S- oder einem ausgewachsenen XXL-Bike. So genau nimmt es in dieser Hinsicht kein anderer Hersteller.
Für unseren Test hat uns Nicolai das G1 in Größe M mit Standardmutation und Mullet-Bereifung zur Verfügung gestellt. Als ich das Bike vorbei an der Liftschlange Richtung Kolbensattel schiebe, kleben wieder Blicke an mir und dem G1. Schnell die Goggle ins Gesicht, Blick nach unten – hoffentlich kommt niemand auf die Idee, mich anzusprechen. Auf der Forststraße angekommen, sitze ich trotz des langen Reach sehr kompakt, mit ausreichend Druck auf der Front – dem steilen Sitzwinkel sei Dank. Der Hinterbau bleibt angenehm stabil. Effizient klettern? Check. Zumindest, was das Fahrwerk anbelangt. Besonders in der leichtesten Getriebestufe spürt man den höheren Tretwiderstand des Pinion-Getriebes. Eine Kettenschaltung wandelt die Watt aus den Beinen zweifelsohne effizienter in Vortrieb um. Umso rasanter geht es dann auf dem G1 GPI bergab. Teststrecke ist der Fichtenschreck, eine ruppige, wurzeldurchsetzte Downhill-Strecke und Referenz für Enduro-Bikes. Nach der ersten Hälfte bin ich mir sicher: So schnell und gleichzeitig souverän bin ich hier noch nie runtergefahren. Nicolai demonstriert eindrucksvoll: Länge läuft. Dass die ungefederte Masse am Hinterrad geringer ist als bei einem herkömmlichen Antrieb, spürt man sofort. Der Hinterbau reagiert vor allem auf feine Unebenheiten ultrasensibel und generiert hervorragende Traktion. Dank des zentralen und tiefen Schwerpunkts des Getriebes fährt sich das G1 GPI auch auf engen Trails handlicher, als man es von einem 19-Kilo-Boliden erwarten würde. Auch angenehm: Der Riemenantrieb gibt keinen Mucks von sich, lediglich das Poltern der Reifen ist zu hören. Auf kurvigen Strecken ist jedoch Körpereinsatz gefragt, denn das Bike will mit seiner langen und flachen Front aktiv um enge Kehren gezirkelt werden und neigt bei langsamer Fahrt leicht zum Abkippen.
Geringere ungefederte Masse, weniger verschleißanfällige Teile, tieferer Schwerpunkt – rein auf die Downhill-Performance bezogen, bringt das Pinion-Getriebe nur Vorteile. Kombiniert mit den schier endlosen Möglichkeiten, das Nicolai-Chassis auf persönliche Vorlieben abzustimmen, wird das G1 GPI mit dem Qualitätssiegel „Made in Germany“ zum Objekt der Begierde für abfahrtsverliebte Individualisten.