„Die Trails unserer Heimat sind unsere größte Inspiration.“ So steht es auf der Norco-Website. Das erklärt so einiges, denn unser Testbike stammt aus British Columbia, und dort geht es richtig zur Sache. Die Trails sind grob und fordernd. Sprünge? Fett! Und die irre steilen Felsabfahrten gehören zu den spektakulärsten der Welt. Um in diesem Gelände auf Betriebstemperatur zu kommen, muss ein Bike einstecken können. Soweit man das optisch beurteilen kann, scheint das die Paradedisziplin des brachial wirkenden Range zu sein.
Das Enduro baut auf einen Vollcarbonrahmen. Der Federweg an Heck und Front misst 170 Millimeter. Laufradgröße: 29 Zoll. Auf eine verspieltere Mullet-Option verzichtet Norco. Auch eine Aluvariante sucht man vergebens. Warum? Die Kanadier entwickelten das Range für maximalen Speed auf den härtesten Endurotracks dieser Welt. Diese Mission erlaubt keine Kompromisse. Weder bei der Laufradgröße noch beim Rahmenmaterial. Gleiches gilt für die Ausstattung. Das Top-Modell C1 kommt mit einem Fox-Fahrwerk aus der Factory-Baureihe mit Stahlfederdämpfer am Heck, Carbonlaufrädern und Maxxis-Reifen mit robuster Double-Down-Karkasse. Mit diesen Spezifikationen darf das Range quasi ab Werk auf die Rennstrecke. Der Preis ist dafür aber gesalzen: 9999 Euro. Und dafür klemmt nicht einmal ein elektronisch gesteuertes Schaltwerk, geschweige denn Srams neue Transmission-Technologie am Bike. Aber halb so wild.
Umso mehr Budget floss stattdessen in das Hinterbaudesign. Dass es sich hierbei um einen High-Pivot-Hinterbau handelt, ist offensichtlich und mittlerweile auch nicht mehr außergewöhnlich. Fullys mit hohem Drehpunkt und Kettenumlenkung gehören zum Endurosegment wie Stollen an die Reifen.
Trotzdem hat das Range ein Ass im Ärmel. Denn während die meisten High-Pivot-Bikes das Konzept über einen Eingelenker mit fixem Drehpunkt realisieren, besitzt der Norco-Hinterbau einen virtuellen Drehpunkt. Der Hintergrund: Ein Merkmal von High-Pivot-Systemen sind die hohen Anti-Rise-Werte. Besonders eingelenkige Designs ziehen sich beim Anbremsen oft so weit in den Federweg, dass sie verhärten und die Traktion verlieren. Der virtuelle Drehpunkt des Range ermöglicht es den Ingenieuren die Anti-Rise-Werte zu reduzieren. So bleibt das Fahrwerk auch unter Bremseinflüssen aktiv.
Rollt sich der Trail vor einem aus, fühlt man sich auf dem Norco wie der schwarze Ritter vor dem Gefecht. Das 130 Millimeter lange Steuerrohr und der Riser-Lenker betten den Fahrer selbstbewusst und aufrecht hinter der Steuerzentrale ein. So stürzt man sich auf dem Range fast schon hemmungslos zu Tal – ganz egal, wie tief der Drop, wie steil die Abfahrt oder wie grob das Steinfeld auch sein mag. Das Fahrwerk leistet dabei ganze Arbeit. Feine Unebenheiten filtert das Stahlfederheck tadellos. So hält man das Bike auch in ruppigem Geläuf leicht auf Tempo. Bei Bodenwellen, Sprüngen oder schnellem Kurvenwechsel wird der Körpereinsatz mit solidem Gegenhalt im mittleren Federweg belohnt. Und auch gegen Ende des Hubs pariert das Fahrwerk selbst harte Einschläge gekonnt. Perfekt! Das kurze Sitzrohr gewährt massig Bewegungsfreiheit. Verlagert man den eigenen Schwerpunkt nach unten, lässt sich das Bike trotz des langen Radstands überraschend gut durch enge Kurven führen.
Dennoch: Wer ein verspieltes und sehr reaktives Enduro sucht, landet beim Range keinen Treffer. Gleiches gilt für Enduristen, die ein Bike mit Allroundcharakter erwarten. Lange Touren stehen nicht im Lastenheft des Norco. Zu zäh rollen die Reifen, zu hoch ist das Gewicht und zu viel Energie verpufft im Fahrwerk. Abschließendes Lob gibt’s für die größenspezifische Geometrie: Neben den Kettenstreben optimiert Norco auch den Lenkwinkel und den Sitzwinkel je nach Rahmengröße. So kommen Biker jeder Körpergröße in den Genuss eines perfekt ausbalancierten Bikes.
Das Range gibt einem so viel Selbstvertrauen, dass es einem fast schon Angst einjagt. Die Nehmerqualitäten und das Fahrwerk begeistern. Um das Potenzial des Enduros auszuschöpfen, ist maximale Risikobereitschaft gefragt. Einsteiger dürfte das wuchtige Highend-Bike überfordern.