Dimitri Lehner
· 16.10.2023
Tatort: Bikepark Serfaus-Fiss-Ladis. Wir haben schon fleißig getestet. Trailbikes, Enduros, Bigbikes. Jetzt kommen die dicken “Steckdosen” dran: die E-Freerider. Och nö! Nur widerwillig zerren wir die Schwergewichte aus unserem Transporter, nur widerwillig rollen wir zum Lift. Aber hey, Job ist Job, wer sagt, dass einem die Arbeit immer Spaß machen muss?
Canyon hat sein Gravity-E-Bike Torque:On komplett neu konstruiert. Man spürt, dass Superracer Fabien Barel seine Finger im Spiel hatte. Aus Alu wurde Carbon, aus kleinem Vorderrad ein 29er, aus Mini-Batterie ein XXL-Akku, und am Rahmen wurde auch gezogen – an beiden Seiten. So kräftig, dass der Reach auf 491 Millimeter (!) anwuchs bei Rahmengröße L und die Kettenstreben jetzt 446 Millimeter messen.
Canyon gelang ein Coup: Durch Kohlenfaser und Hirnschmalz sparten die Koblenzer so viel Rahmengewicht ein, dass sie dem Torque einen 900er-Akku (!) verpassen konnten. 900 Wh – das ist ein Bikepark auf Rädern. Dennoch bleibt das Gewicht akzeptabel und mit 25 Kilo fahrfertig auf Propain-Niveau.
Die Canyon-Kinematik hat sich im Vergleich zum Vorgänger komplett verändert, der Dämpfer schmiegt sich jetzt ans Unterrohr, und die Heckanlenkung errinnert an das Bigbike Tues von Versender-Konkurrent YT. Trotzdem bleibt der Blick zuerst am Wassercontainer im Oberrohr kleben. Sinnvoll? Vielleicht. Schön? Mmmh … das muss jeder selbst entscheiden.
Ähnlich gut gefedert wie das Canyon ist der Duell-Gegner, das Propain Ekano – es ist die zweite Auflage. Die Ingenieure vom Bodensee veränderten ebenfalls eine Menge, doch weit weniger radikal als die Koblenzer. Der Ekano-Dämpfer wanderte nach unten. Statt unterm Oberrohr zu liegen, steht er jetzt tief vorm Sitzrohr stramm und quetscht 170 Millimeter aus dem Heck; im Steuerrohr steckt die Testsiegergabel Zeb Ultimate mit wahlweise 180 oder 190 Millimetern Federweg. Und über dem Tretlager liegt Shimanos neuer Motor EP-801. Optisch ist der identisch zum EP8 im Canyon, dank neuer Elektronik im Inneren bietet der EP-801 aber eine etwas höhere Motorleistung und mehr Funktionen und wird im Propain von einem wesentlich kleineren Akku gespeist: 626 Wh.
Zurück zur Liftschlange und der widerwilligen Testfahrt! Denn schon auf den ersten 50 Metern verpufften unsere Vorbehalte gegenüber den schweren E-Böcken. Sprung und Landung überflogen, im Flachen eingekellert – bämm – und dennoch Spaß gehabt! Wie kann das sein?
Ganz einfach: viel Federweg + sattes Gewicht + tiefer Schwerpunkt = Fahrspaß! Beide Bikes springen, shredden, droppen, pflügen durchs Gelände, dass selbst Gruselabfahrten ihren Schrecken verlieren. Sind das Mini-Downhiller? Nein, das Mini bitte streichen, denn diese zwei E-Freerider stehen Worldcup-Bigbikes in nichts nach. Das Gewicht stabilisiert die Fahrt, dass sich der Pilot oftmals nur gut am Lenker festhalten muss und draufhalten kann, auf all die Turbulenzen der Topographie.
Im Straightlinen und Vollgasheizen ist das lange Canyon Torque:On nicht zu schlagen, die Geometrie (Radstand 1310 mm) und das tadellose Fahrwerk (vor allem das satte Heck!) machen’s möglich. Wenn die Schwerkraft am Canyon zerrt, wird es erstaunlich handlich. Kurvt der Trail dagegen flacher durchs Gelände, dreht sich der Charakter um, und das Canyon zeigt sich eher gelangweilt. Dann braucht es Nachdruck, will man’s einigermaßen dynamisch durch den Trail carven.
Das Propain ist ebenfalls schnell, wirkt sehr potent, als fände der Federweg kein Ende, doch hat auf schnellen, ruppigen Downhill-Tracks etwas das Nachsehen; Konkurrent Canyon ist schneller. Dafür bezirzt das Propain den Piloten mit seinem verspielteren Wesen und viel Druck auf dem Vorderrad für präzises Steuern. Ursache: die gemäßigte Geo mit „nur“ 464er-Reach. Selbst auf kurvigen Singletrail-Abfahrten wie der Supernatural in Serfaus macht der Bodensee-Brummer eine gute Figur und zirkelt so wendig durch die Turns, als hätte er eine Blitzdiät gemacht.
Trotz ähnlich langem Heck wie Canyon lässt sich das Propain auch noch aufs Hinterrad ziehen, ohne dass die Bizepssehnen reißen – beim Canyon steigt das Risiko für die Arme. Super: Beide E-Freerider sind überraschend leise – eine Wohltat beim Biken! Am Ende des Duells spekulierten wir, denn ganz fair war der Schlagabtausch nicht. Es wäre besser gewesen, das Canyon in M in den Ring zu schicken, denn da hat es noch immer einen üppigeren Reach (475 mm) als das Propain in L (464 mm).
Eine blutige Nase gab’s für keins der Bikes in diesem Duell. Beide begeisterten mit einer schier grenzenlosen Downhill-Performance. Das gestrecktere Canyon vertrug dabei noch mehr Speed und verblüffte uns mit seiner XXL-Reichweite dank Monster-Akku. Dennoch gefiel uns das Propain besser, weil wendiger, agiler, breiter aufgestellt – der ideale Gravity-Allrounder.
Erstaunlich wie satt das neue Carbon-Torque auf dem Trail liegt. Das von uns so gelobte Alu-Torque gibt es weiterhin. Für Freerider die bessere Wahl, weil verspielter.
Freeride inside! Das Propain gefiel mir mit seinem agilen Handling. Das vergrößert den Einsatzbereich ohne spürbare DH-Einbußen.
FREERIDE-Ranking: 10 - Testsieger | 9 - Sehr gut. Kaufempfehlung | 8 - Solide Leistung | 7 - Unter Durchschnitt | 1 bis 6 - Davor können wir nur warnen!