Jan Timmermann
· 12.04.2024
Die reinen Fakten zum neuen Ghost Lector HT Worldcup 30 sprechen Bände: 24 Prozent leichter als der Vorgänger, 120 Millimeter Federweg, 510 Millimeter Reach in Rahmengröße L. Lang, leicht und modern soll die 30-Jahre-Jubiläums-Edition des Ghost-Hardtails sein und damit eine neue Ära beim Bike-Hersteller aus dem bayerischen Waldsassen einläuten.
Wir waren also sehr gespannt auf den Test des neuen Racebikes, welches das Ghost Factory Racing Team im besten Falle zu olympischem Gold in Paris führen soll. Trotz der Ehrfurcht haben wir das neu aufgelegte XC-Bike keinesfalls geschont, im Gegenteil. Wir konnten das Ghost Lector HT 2024 bereits im BIKE-Prüflabor aufs penibelste vermessen und mit den Cape Epic Siegerinnen Anne Terpstra und Nicole Koller über den ehemaligen Worldcup-Kurs in Albstadt scheuchen. Last but not least führten wir das 29er Hardtail auf eine alpine Marathonstrecke aus.
Vorweg: Wir testeten das neue Ghost Lector HT bei 190 Zentimetern Körpergröße in Rahmengröße XL und der 9000 Euro teuren Worldcup 30 Variante. In dieser größten aller erhältlichen Größen brachte es unser Testbike auf gute 10,24 Kilo Gesamtgewicht ohne Pedale. Damit liegt das Ghost gleichauf mit der modernen Hardtail-Konkurrenz der Luxus-Preisklasse.
Im Antritt macht das dezente Gewicht auch ab dem ersten Meter Spaß - definitiv ein Fortschritt zum bisherigen Lector. Die DT Swiss XRC 1501 Carbon-Laufräder mit massiven 30 Millimetern Innenweite beschleunigen trotz 2,4 Zoll breiter Maxxis Aspen Reifen und Tire-Inserts ordentlich, auch wenn es auf dem High-End-Markt noch leichtere Laufradsätze gäbe.
Am XL-Bike ist der Reach-Wert extrem: Mit 540 Millimetern bei über 700 Millimeter Oberrohrlänge baut das XC-Hardtail länger, als die meisten Enduro-Fullys. Tatsächlich sind das die größten Werte, die wir im BIKE-Testlabor jemals an einem Racebike gemessen haben. Der Blick in die Geometrietabelle offenbart, dass auch die anderen Rahmengrößen mit mächtigen Reach-Werten klotzen.
Für die Sitzposition auf dem Ghost Lector HT bedeutet das eine starke Streckung. Zusammen mit dem 70 Millimeter langen Vorbau und dem weit ausladenden Lenker wird die Masse des Fahrers weit und flächig über dem Bike verteilt. An unserem Test-Modell misst die Steuerzentrale 460 Millimeter Breite. In Serie sollen es sogar 480 Millimeter sein. XC-Racer, die im Startgetümmel um Positionen kämpfen, werden den Carbon-Bügel definitiv einkürzen wollen.
Trotz des mit 142 Millimetern eher langen Steuerrohrs fällt die Sitzposition tief und sportlich aus. Zum Kilometerschrubben taugt das Setup: Man sitzt aerodynamisch vorteilhaft und verspürt stets einen ordentlichen Vorwärtsdrang. Gleichzeitig erfordert vorausschauendes Fahren ein gewisses Recken des Kopfes aus der tiefen Fahrposition nach oben. Auf langen Distanzen kann das zu einem steifen Nacken und einschlafenden Händen führen. Wer zwischen zwei Rahmengrößen liegt, sollte definitiv erwägen, die kleinere Option zu wählen. Für enge Kurven bergauf muss man auf dem neuen Ghost Lector HT so oder so weit ausholen.
Abgesehen davon machen die tiefergelegte Fahrposition und der lange Radstand von 1256 Millimetern aus dem Ghost Lector HT einen geschickten Kletterer. Mit einem 76,3 Grad steilen Sitzwinkel sorgt das leichte Hardtail jederzeit für eine gute Treteffizienz und windet sich stoisch viele Höhenmeter am Stück hinauf. Trotz sehr kompakter Kettenstreben von nur 429 Millimetern hatten wir auch in technischen Uphills mit keinem steigenden Vorderrad zu kämpfen.
Im Wiegetritt macht sich die Dysbalance in der Länge von Hinterbau und Hauptrahmen aber doch bemerkbar. Im Stehen hängt der Fahrer so weit vorne über dem Lenker, dass auf Hinterreifen kaum noch Gewicht liegt. Das Ergebnis ist ein immer wieder durchrutschendes Heck. Entgegenwirken lässt sich dem nur durch eine Anpassung der Körperposition im Wiegetritt. Das erfordert jedoch etwas Eingewöhnung und kann zusätzliche Körner kosten.
Leicht und unkompliziert - das ist der Anspruch des neuen Ghost Lector HT. Nachdem ich das Hardtail zwei Tage nach Erstkontakt direkt auf eine ausgedehnte alpine Runde zwischen Tegern- und Spitzingsee entführte, kann ich diese Eigenschaften nur bestätigen. Auf der 105 Kilometer und 3100 Höhenmeter umfassenden Marathon-Strecke fühlte ich mich trotz der extremen Länge auf dem Bike schnell zu Hause. Das Konzept ‘lang und leicht’ geht auf. Einzige Ausnahme: Schotter-Sprints im Wiegetritt. - Jan Timmermann, BIKE-Testredakteur
Noch eine Besonderheit gibt es an unserem Ghost Lector HT Testbike: Während das Hardtail in Serie bei Rahmengröße L und XL mit 120 Millimetern Federweg ausgeliefert werden soll, verfügt unser Modell über nur 110 Millimeter Hub. Federwegs-Reserven vermissten wir während des Testzeitraums aber keine, vielmehr überzeugte die Rockshox SID Ultimate Gabel mit einer gewohnt guten Performance. Die dreistufige Druckstufenverstellung via Drehgriff war auf der Marathon-Distanz mit vielen verschiedenen Untergrundarten hilfreich. Biker, die auf die Langstrecke oder den Renneinsatz verzichten, wären aber auch mit einem zweistufigen System gut bedient.
Als XC-Hardtail verfügt das Topmodell Lector HT Worldcup 30 natürlich insgesamt über ein entsprechendes Ausstattungspaket. Während die Sram Level Ultimate Bremsen mit zwei Kolben auf der Cross-Country-Strecke noch ausreichend waren, kamen sie trotz dicker HS2-Bremsscheiben in 180 Millimeter Durchmesser vorne und hinten auf den langen Abfahrten der Marathon-Runde früh an ihre Grenzen. Hier wünschten wir uns die stärkere Vierkolben-Version, die übrigens auch Cape-Epic-Siegerin Anne Terpstra an ihrem Lector HT fährt.
Ein ähnliches Bild bei den Reifen: Dank Tire-Inserts und Tubeless-Setup lässt sich der Luftdruck in den Maxxis Aspen Reifen zwar weit absenken, abseits der Rennstrecke und bei matschigen Verhältnissen kommen die schnellen Gummis aber immer wieder ans Limit. Eine solide Fahrtechnik ist da obligatorisch.
Mit etwas lustlosen Bremsen und zickigen Reifen ist der Grenzbereich des Ghost Lector HTs also schnell erreicht. Gut, dass das Geometrie-Konzept genau hier brilliert. Das lange und leichte Chassis ist auch bei ausbrechenden Rädern hervorragend zu kontrollieren. Der Pilot steht so flächig im Bike, dass jederzeit das Gefühl besteht, Herr der Lage zu sein. Mit Freude wirft man sich auf dem Ghost Hardtail in Kurven, erwartet ein leichtes Rutschen, fängt sich aber zuverlässig. Durch das kurze Sitzrohr und die schnelle Rockshock Reverb AXS Variostütze bleibt viel Bewegungsfreiraum über dem Oberrohr.
Insgesamt belohnen diese Eigenschaften des neu aufgelegten Ghost Lector HT World Cup 30 einen sicheren, aggressiven Fahrstil, wie ihn viele XC-Racer besitzen. Aus der Rennstrecke holt das Bike dann das Maximum heraus, wenn sich sein Fahrer voll und ganz zu einer Linie bekennt und sich mit Schwung durch Schlüsselstellen schießt. Anfänger kann das jedoch schnell überfordern. Sie werden sich ein Handling wünschen, das auch bei diffuser Linie gutmütiger funktioniert.
Zurückzuführen ist das spezielle Handling des Ghost Lector HT zweifelsohne auf den extrem langen Hauptrahmen und Radstand. Enge Kurven verlangen nach einer geschulten Hand am Lenker, um den Radius zu maximieren oder im Falle von Spitzkehren gar das Hinterrad zu versetzen. Auch die kurzen Kettenstreben helfen da nur noch wenig. Hohe Bunnyhops oder lange Manuals sind auf dem lang-flachen Bike fast unmöglich, werden im Falle eines XC-Racers aber ohnehin kaum gefragt sein. Gerade bei niedrigen Geschwindigkeiten braucht das Ghost über Sprünge und Drops einen großen Impuls, um sich vom Boden zu lösen.
In den meisten anderen Situationen lässt sich das Bike aber noch gut managen. Dank des nicht zu flachen Lenkwinkels von 68,6 Grad ist es ein Leichtes das Vorderrad über Ablaufrinnen zu lupfen und die Lastverteilung auf dem Vorderrad zu steuern. Obacht: Die zehn Millimeter weniger Federweg an unserem Testbike äußern sich in einem rund 0,5 Grad steileren Lenkwinkel. In Serie dürfte der Wert also ziemlich genau der Herstellerangabe von 68 Grad entsprechen. Über Stufen hilft der lange Radstand. Während das Vorderrad bereits unten angekommen ist, ist das Hinterrad noch oben. Mit der richtigen Fahrtechnik ist die Kontrolle in diesen Situationen auf einem hohen Niveau. Bei schnellem Geradeauslauf ist die Länge des Chassis ohnehin eine Wucht. “Länge läuft” gilt natürlich auch am Hardtail.
Die Preispolitik des neuen Ghost Lector HT ist ungewöhnlich. Zwischen 2299 und 3699 Euro finden drei Ausstattungsvarianten Platz. Das Topmodell gibt’s aber erst für 9000 Euro. Dieses kommt nur für Käufer in Frage, die ein High-End-Race-Hardtail mit Spitzenausstattung wollen. Für alle anderen dürften die günstigeren Modelle eine gute Tuning-Plattform darstellen. - Jan Timmermann, BIKE-Testredakteur
In Größe XL (XS / S / M / L / XL)
Lang und leicht - an einem Race-Hardtail, wie dem neuen Ghost Lector HT 2024, ist das ein echter Gewinner-Ansatz. Erst recht, wenn dieser mit Federwegreserven, Breitreifen und einer langhubigen Variostütze kombiniert wird. Mit Ausnahme der ungünstigen Lastenverteilung im Wiegetritt werden bekennende XC-Racer und Marathonisti den progressiven Charakter des teuren Modells Lector HT World Cup 30 lieben. Weniger mit entsprechender Fahrtechnik Erfahrene kann das Konzept aber überfordern. Obacht bei der Größenwahl.