Jan Timmermann
· 09.04.2024
Als die Firma Ghost Bikes 1993 gegründet wurde, prangte auf dem ersten jemals verkauften Hardtail der Schriftzug “Lector”. Seitdem hat sich beim Bike-Hersteller aus dem bayerischen Waldsassen jede Menge getan. Das Ghost Factory Racing Team mischt seit 2011 im Cross-Country-Worldcup mit und konnte jüngst sogar das prestigeträchtige Etappenrennen Cape Epic mit perfekten acht von acht Etappensiegen für sich entscheiden. An der Startlinie der Weltserie stehen Anne Terpstra, Nicole Koller, Isla Short, Finja Lipp und Caroline Bohé meist auf dem Fully Ghost Lector FS. Doch auch im Worldcup gibt es nach Meinung der Expertinnen immer noch Kurse, auf denen ein Hardtail im Vorteil ist. Die Racerinnen wünschten sich deshalb ein konkurrenzfähiges, leichtes und vor allem schnelles Hardtail mit 110 bis 120 Millimeter Federweg. Voilà, das neue Ghost Lector HT, Jahrgang 2024.
Ghost poliert mit dem Geburtstag gleich das eigene Marken-Image und vertreibt seine Mountainbikes nun unter dem Claim “Built for the rough”. Auch das neue Ghost Lector HT profiliert sich mit einer neuen Formsprache als klarer, unkomplizierter Racer. Dazu greift das Carbon-Hardtail die Farben des Ur-Lectors wieder auf, verzichtet allerdings auf die Starrgabel und Onza-Barends von damals, sondern hebt sich in die moderne Gegenwart. BIKE hatte bereits 2008 das erste Ghost Lector im Test. Seit der letzte Vorgänger durch unser Testsystem rollte, sind allerdings knapp drei Jahre vergangen. Umso gespannter waren wir auf unseren ersten Fahreindruck, welchen wir uns zusammen mit den Profi-Frauen vom Ghost Factory Racing Team am ehemaligen Worldcup-Stopp in Albstadt verschaffen konnten.
Bei der Neuentwicklung des Ghost Lector HT war von Anfang an klar, dass der neue Carbon-Rahmen signifikant leichter sein sollte als der des Vorgängers. Dazu verabschieden sich die Bayern von den markanten eckigen Rahmenprofilen und wählen nun ein deutlich runderes Design. Auch die stark geschwungenen Sitzstreben sind 2024 Geschichte. Trotzdem schafft der steil abfallende Übergang zum Sitzrohr einen weiterhin hohen Wiedererkennungswert. Insgesamt konnte durch die neue Formgebung gleichzeitig die Steifigkeit erhöht und durch Materialeinsparung das Gewicht deutlich gesenkt werden.
Ghost gibt am Lector HT 2024 eine im Vergleich zum Vorgänger 15 Prozent höhere Steifigkeit am Steuerrohr und eine um fünf Prozent gestiegene Tretlagersteifigkeit an. Volle 24 Prozent leichter will das neue Ghost Hardtail sein und dürfte so das einstige Handicap des alten Lector HT eliminiert haben. Unser Testbike in Größe XL bringt es ohne Pedale auf respektable 10,24 Kilo exklusive Pedale und inklusive Tire-Inserts. Ghost bietet das Lector HT in zwei Rahmenvarianten an. Die LC (Light Carbon) Rahmen sollen es laut Hersteller auf 930 Gramm in Größe S bringen. Die ULC (Ultra Light Carbon) Rahmen der zwei teuersten Modelle gibt Ghost mit 885 Gramm an.
Zustande kommt der Gewichtsunterschied zwischen den LC- und den ULC-Vollcarbon-Rahmen unter anderem durch unterschiedliche Leitungsführungen. Während die Leitungen an den LC-Rahmen klassisch hinter dem Steuerrohr ins Rahmeninnere verschwinden, laufen diese beim ULC-Rahmen durch den Steuersatz, beziehungsweise beim Topmodell sogar direkt durch die Cockpit-Einheit nach innen. Durch diese optisch-minimalistische Lösung soll auch der Luftwiderstand bei Tempo-Ritten reduziert werden. Mit dem nun leichteren Hardtail will Ghost nicht nur professionelle Racer, sondern auch Leichtbau-Fans und Puristen abholen.
Bereits der Vorgänger des Ghost Lector HT hatte durch seine progressiven Geometriedaten das ein oder andere Alleinstellungsmerkmal und war mit einem relativ flachen Lenkwinkel sowie einem langen Reach seiner Zeit eindeutig voraus. Bei der Weiterentwicklung der Geometrie orientierten sich die Ingenieure deshalb an den bewährten Kompetenzen und ließen das Feedback der Teamfahrerinnen mit einfließen. Diese wünschten sich ein etwas höheres Tretlager, um in technischen Sektionen ohne Kurbelaufsetzer pedalieren zu können. Beim neuen Lector HT steigt die Tretlagerhöhe deshalb um fünf Millimeter. Der Fakt, dass die Athletinnen auf dem Vorgänger regelmäßig mit einem ganz nach vorne geschobenen Sattel vom Bikefitting-Experten zurück kamen, gab den Anstoß den Sitzwinkel um 2 Grad steiler zu zeichnen. Der Lenkwinkel steht auch 2024 weiterhin bei 68 Grad.
Für ein XC-Hardtail waren die 497 Millimeter Reach des Vorgängers in Rahmengröße L bereits auffällig ausladend. Für 2024 steigt der Wert gar auf 510 Millimeter an. An unserem Testbike in Größe XL misst der Reach gigantische 535 Millimeter und übertrumpft damit sogar die meisten Enduro-Fullys. Weiterhin bietet Ghost das Lector HT in fünf Rahmengrößen von XS bis XL an, um möglichst viele Körpergrößen abzudecken.
Während alle Größen mit Laufrädern in 29 Zoll kommen, gibt es beim Federweg einen Size-Split. In den Größen XS bis M stellt die Federgabel 110 Millimeter Hub zur Verfügung. In den Größen L und XL sind es 120 Millimeter. Die Kettenstrebenlänge misst in allen Rahmengrößen kompakte 430 Millimeter. Ebenfalls über alle Größen gleich sind die Maße des Cockpits. Die Vorbauten messen 65 Millimeter Länge und die Lenker satte 780 Millimeter Breite.
Als Weltklasse-Rennteam wollte die Crew vom Ghost Factory Racing natürlich Nichts dem Zufall überlassen und studierte das Race-Verhalten des neuen Hardtails bei einem extra Trainingscamp in der Toskana. Auf einer mit entsprechenden Worldcup-Strecken vergleichbaren Runde ermittelte das Team im Abgleich mit dem Ghost Lector FS Fully einen Vorteil von sechs bis zehn Sekunden in den Uphills bei konstant identischen Zeiten im Downhill. Das vermittelte den Fahrerinnen das nötige Selbstvertrauen, um auch im Ernstfall häufiger zum Hardtail zu greifen. Selbst bei den diesjährigen Olympischen Spielen in Paris dürften wir die Racerinnen mit hoher Wahrscheinlichkeit ohne Hinterbaufederung um Gold kämpfen sehen.
Auch am Sitzrohr des Ghost Lector HT gibt es eine große Neuerung. Das Hardtail trennt sich von den integrierten Eightpins-Variostützen und kommt nun mit einem auf 31,6 Millimeter reduzierten Durchmesser. Nur das Topmodell wird ab Werk mit einer Dropper-Post ausgestattet. Natürlich verfügt auch das neue Ghost Hardtail über zwei Flaschenhalteraufnahmen. Auch beim Tretlagerstandard bleiben sich die Bayern treu und setzen weiterhin auf DUB-Pressfit. Ein Wechsel zum geschraubten BSA-Standard stand im Entwicklungsprozess aufgrund der Baubreite und Steifigkeit im Tretlagerbereich nicht zur Diskussion. Wie es sich für ein modernes Racebike gehört, ist das Ghost Lector HT 2024 dank UDH Schaltauge kompatibel mit den Funk-Schaltungen aus dem Sram Transmission Lineup.
Bei der hinteren Bremsaufnahme geht das Ghost Lector HT 2024 neue Wege und verabschiedet sich von Flatmount-Bremssätteln. Stattdessen sitzt auf dem Ausfallende und einem in die Carbon-Sitzstrebe eingelassenen Alu-Insert eine Postmount-Aufnahme. Durch den Wechsel des Adapters und dem Umdrehen des Inserts lassen sich am Heck wahlweise 160 oder 180 Millimeter große Bremsscheiben fahren.
Eine minimalistische Kettenführung hält neuerdings den Antriebsstrang auf Linie. Obwohl das Hardtail in Sachen Gewicht deutlich abgespeckt hat, ist das neue Lector HT weiterhin bis 120 Kilo Gesamtgewicht zugelassen. Weiteres interessantes Detail: Das Topmodell kommt in Serie mit Tire-Inserts. Die Factory-Rennfahrerinnen würden nach eigener Aussage nie ohne Inserts an den Start gehen. Weshalb also das Produkt für den Endkunden anders ausliefern?
Ghost bietet vier Ausstattungsvarianten des Ghost Lector HT 2024 an. Bereits ab einem erfreulich erschwinglichen Preis von 2299 Euro gibt es das Hardtail mit LC-Carbonrahmen. Die Bikes für 3699 und 9000 Euro kommen mit dem optimierten ULC-Rahmen. Zwischen dem zweit-teuersten Modell Lector HT Pro und der 30 Jahre Limited Worldcup Version klafft ein großer Preisunterschied. Ghost begründet diesen im maximal exklusiven Ausstattungspaket des Topmodells mit dem elektronischen Top-Antrieb Sram XX SL Eagle AXS Transmission und den DT-Swiss-Laufrädern aus Carbon. Alle anderen Bikes kommen dagegen mit Laufrädern aus Aluminium, mechanischen Schaltungen und ohne Variostütze. Allen Komplettbikes gemein ist die zahm profilierte Maxxis Aspen Bereifung in 2,4 Zoll Breite.
Dass im Ghost Lector HT ein astreiner Sportler steckt, wird ab dem ersten Meter an klar. Vom Fleck weg macht sich das reduzierte Gesamtgewicht positiv bemerkbar. Die schnellen Maxxis Aspen Reifen beschleunigen trotz 2,4 Zoll Breite mehr als anständig und das luxuriöse Ausstattungspaket des 9000 Euro teuren 30-Jahre-Topmodells ist über jeden Zweifel erhaben. Durch die Länge des Hauptrahmens war bereits die Sitzposition auf dem Vorgänger sportlich gestreckt. Dass dies trotz zusätzlicher Reach-Millimeter nicht ins Extreme kippt, ist dem nun steileren Sitzwinkel zu verdanken.
Bergauf wie bergab macht sich die Länge des Chassis jedoch bemerkbar. Durch die engen Spitzkehren der XC-Runde in Albstadt war definitiv eine solide Fahrtechnik und aktiver Körpereinsatz gefragt, um das Hardtail zum Richtungswechsel zu animieren. Gleichzeitig vermitteln der ausladende Reach und die 12o Millimeter Federweg ein hohes Maß an Reserven im Grenzbereich. So lässt sich das Ghost Lector HT auch mit rutschenden Reifen und in ruppigen Steilabfahrten über seine Länge gut kontrollieren.
Dass Ghost seinem Hardtail mit Federwegs-Reserven, fetten Reifen und zusätzlicher Länge ein Upsizing im wahrsten Sinne des Wortes verschafft, ist ein interessanter Ansatz. Für Cross-Country-Kurse, auf denen das Bike zum Einsatz kommen soll, entscheiden sich Konkurrenten wie Specialized oder Trek eher zum Downsizing ihrer Fully-Plattform. Auch Hardtails mit 120 Millimetern Federweg, wie das Focus Raven oder das Rose PDQ liegen im Trend, sind bislang jedoch nicht im XC-Worldcup anzutreffen. Das Ghost Lector HT hinterlässt jedenfalls einen gelungen Ersteindruck. Den ausführlichen Test inklusive aller Daten aus dem BIKE-Testlabor lesen Sie demnächst hier bei BIKE.