Adrian Kaether
· 26.03.2024
Nur wenige Bikes können so viele Rennsiege vorweisen wie das Cannondale Scalpel. Seit den frühen 2000ern mischt das schnelle Race-Fully die Worldcups dieser Welt auf. Größen wie Manuel Fumic, Henrique Avancini und zuletzt Junior-Weltmeister Charlie Aldridge steuerten das Cross-Country-Bike ganz oben aufs Treppchen. Nach dem letzten Update vor vier Jahren rollt Cannondale nun ein komplett neu entwickeltes Bike an den Start. Mit 120 Millimetern Federweg für alle Modelle und satter Trail-Kompetenz.
120 Millimeter - für Cross-Country-MTB klingt das nach viel, dürfte Fans aber kaum überraschen. Angefangen mit dem Scott Spark bohrten in den letzten Jahren immer mehr Hersteller ihre Race-Bikes mit mehr Federweg auf, von Arc8 über Giant und Orbea bis Trek oder Willier. Zusammen mit einer verlängerten Geometrie und einer absenkbaren Tele-Stütze in allen Modellen soll das den Bikes mehr Sicherheit bergab auf den anspruchsvollen Rennstrecken dieser Welt bringen. Nachdem Cannondale schon dem Race-Hardtail Scalpel HT eine intensive Länger-flacher-Kur der Geometrie verordnet hat, ist es nur konsequent, das beim Fully jetzt auch so umzusetzen.
Downcountry ist das moderne Cross Country. - Scott Vogelmann, Cannondale
Trotz mehr Hub bleibt sich das Scalpel aber weiter treu. Die Seitenlinie ist noch immer unverkennbar, bis heute kultiviert das Scalpel mit der Lefty sein Image des besonderen Racebikes. Und als radikaler Racer legt das Cannondale nach wie vor viel Wert auf Effizienz im Uphill. Das Fahrwerk wurde deswegen für die neueste Ausgabe nochmal überarbeitet und natürlich kann man per Drehgriff vom Lenker aus den Lockout einlegen. Schnelle, wenn auch breite Reifen und eine gewichtsoptimierte Ausstattung sollen Höhenmeter im Zeitraffer und die Gegner im Staub zurücklassen.
Das erklärte Ziel: Rahmen und Steifigkeit mindestens gleichauf mit dem Vorgänger, trotz der deutlich verlängerten Geometrie und dem größeren Federweg. Dafür setzen die Entwickler auf schlankere Rohre, die dem neuen Bike eine filigranere Erscheinung geben. Aus Gewichtsgründen laufen die Züge durch den Steuersatz in den Rahmen, außerdem muss das Staufach für das minimalistische Tool unter dem Flaschenhalter weichen. Racer werden sich zwar weniger daran stören, für Alltagsnutzer geht damit aber etwas Mehrwert verloren. Dafür bietet der Rahmen jetzt mehr Platz für die zwei Trinkflaschen.
Das Scalpel-Chassis gibt’s in zwei Ausführungen. Nur das Topmodell Lab71 kommt mit den teuersten Carbon-Fasern (Series 0), der Rahmen soll laut Cannondale dann nur 1775 Gramm ohne Dämpfer wiegen. Das wäre ein starker Wert, auch wenn es mancher Konkurrent heutzutage noch leichter schafft. Alle anderen Modelle kommen mit den etwas günstigeren Fasern (Series 1) und dürften dann laut Herstellerangabe nur 100 Gramm mehr wiegen. Ganz bestätigen konnten wir diesen Wert (zumindest bei Rahmengröße L) in unserem eigenen Prüflabor leider nicht. Der Rahmen unseres Testbikes Cannondale Scalpel Carbon 1, dem zweit-teuersten Modell im Lineup, wiegt ohne Dämpfer immerhin 2058 Gramm. Damit platziert sich das neue Scalpel in der reinen Labor-Wertung unter der extrem starken Konkurrenz “nur” im Mittelfeld.
Für das neue Bike hat Cannondale auch das Fahrwerk noch einmal grundlegend überarbeitet. Front und Heck bieten jetzt beide 120 Millimeter Federweg. Das kannte man bislang nur vom Downcountry Modell Scalpel SE, dass es in Zukunft nicht mehr geben wird. Der Dämpfer steht außerdem nun etwas steiler im Rahmen, das soll dem Hinterbau mehr natürliche Progression geben. Mit mehr Anti-Squat in den Klettergängen wurde im Vergleich zum Vorgänger die Treteffizienz erhöht, in den kleinen Gängen gibt’s jetzt weniger Anti-Squat für eine bessere Sensibilität des Hinterbaus bergab.
Nach wie vor setzt Cannondale auf ein Flexpivot-Design im Hinterbau. Statt dem vierten Lager im Bereich der Kettenstreben (Horst-Link) flext die Kettenstrebe selbst. Das spart Gewicht und soll mehr Seitensteifigkeit und weniger Stress bei der Wartung mit sich bringen. Dieses System kennen wir schon vom bisherigen Scalpel und von vielen anderen Bikes dieser Federwegsklasse.
Zusätzlich zum Rahmen selbst drückt Cannondale das Gewicht der Bikes erstmals auch mit einem eigens entwickelten, einteiligen Carbon-Cockpit (235 Gramm, Herstellerangabe). Den System-Bar gibt’s mit 60 oder 75 Millimetern Vorbaulänge, je nach Rahmengröße. Die Breite liegt immer bei modernen 760 Millimetern. Ein leichter Upsweep (5°) und Backsweep (8°) sollen für eine ergonomische Haltung und Komfort auf der Langstrecke sorgen, der Vorbauwinkel fällt mit -6° nicht zu aggressiv aus. Durch das Carbon-Cockpit laufen auch die Züge in den Rahmen. Speziell angepasste Lager sollen insbesondere im Steuersatz für lange Haltbarkeit sorgen.
Schon 2022 setzte Cannondale mit dem neuen Race-Hardtail Scalpel HT ein Ausrufezeichen. Denn der flache Lenkwinkel und der Hinterbau-Flex brachten Racern einen nie gekannten Komfort in der Abfahrt. Da ist es nur konsequent, dass Cannondale diese Philosophie jetzt auch auf das Fully Scalpel überträgt. Der Lenkwinkel liegt jetzt bei 66,6 Grad (Herstellerangabe, BIKE-Messung: 67 Grad), der Reach bei langen 475 Millimetern in Größe L (Herstellerangabe, BIKE-Messung: 473 Millimeter). Ein superkurzes Steuerrohr soll bergauf trotzdem viel Druck auf die Front bringen, etwas verlängerte Kettenstreben beugen einem steigenden Vorderrad vor und bringen mehr Souveränität bergab. Die Geometrie ist damit absolut auf der Höhe der Zeit.
Klar ist aber auch: Ganz so agil wie der Vorgänger mit seinem einen Grad steileren Lenkwinkel, kürzeren Reach und 30 Millimeter weniger Radstand ist das neue Scalpel nicht mehr. Wie beim Federweg geht die Entwicklung auch bei der Geometrie klar in Richtung Trailbike. Ebenfalls voll im Trend: Neben dem Hauptrahmen selbst lässt Cannondale auch den Hinterbau mit den Größen wachsen beziehungsweise schrumpfen. Das Bike in Größe S hat dadurch wesentlich kürzere, das XL deutlich längere Kettenstreben als ein M. So sollen auch sehr kleine und sehr große Fahrer in den Genuss einer ausbalancierten Geometrie kommen.
Auf dem Launch des Bikes konnten wir uns schon einen ersten Eindruck vom neuen Cannondale-Racer verschaffen. Wie erwartet hinterlässt das Bike einen sehr “trailigen” und potenten Eindruck für ein Cross-Country-Fully. Der Antritt bergauf ist effizient, so radikal wie Racebikes der Unter-Zehn-Kilo-Generation geht das Scalpel 1 mit 11,5-Kilo-Bike aber nicht mehr vorwärts.
Mit dem Blick auf die MTB-Cross-Country Wettkämpfe bei Olympia 2024 präsentieren aktuell viele Hersteller ihre neuen Race-Fullys. Darunter zum Beispiel das Liv Pique Advanced für Rennfahrerinnen und das Specialized S-Works Epic mit dem neuen, elektronischen Rockshox Flight Attendant Fahrwerk.
Mit insgesamt sechs Modellen zwischen 4299 und 12.999 Euro ist die Modellpalette des neuen Scalpel breit aufgestellt. Besonders exklusiv ist das Topmodell Lab71 mit den neuen XMC 1200 Laufrädern von DT Swiss, Speziallackierung und dem leichtesten Rahmen aus Cannondales Series 0 Fasern. Dieses Bike soll 10,5 Kilo nach Herstellerangabe in Größe M wiegen. Carbon-Laufräder und Srams Transmisson stecken außerdem in den Modellen Scalpel 1 und 2. Letzteres gibt es wahlweise mit Lefty-Gabel oder einer Rockshox SID Alternative. Die günstigeren Modelle Scalpel 3 und 4 setzen durchgehend auf ein konventionelles Rockshox-Fahrwerk, Zwölffach-Antriebe von Shimano und Laufräder aus Aluminium.
BIKE: 100 Millimeter war lange gesetzt bei Cross Country-Bikes. Warum habt ihr euch jetzt für mehr Federweg entschieden?
SCOTT VOGELMANN: Mit einem modernen Fahrwerk hat mehr Federweg keine Nachteile mehr. So können wir dem Fahrer etwas mehr Komfort und mehr Bergab-Potential geben. Das war für uns eine klare Entscheidung.
Ist das Bike damit immer noch schnell bergauf?
Es ist sogar schneller als bisher. Zum einen helfen die längeren Kettenstreben mit der Balance beim Klettern. Der Fahrer kann in steilem Gelände den Oberkörper mehr entspannen und sich darauf konzentrieren, die maximale Leistung auf die Kette zu bringen. Zum anderen haben wir den Anti-Squat in den Klettergängen im Vergleich zum Vorgänger drastisch erhöht. Das macht das Fahrwerk beim Treten bergauf noch effizienter.
Im Vergleich zum Vorgänger ist die Geometrie wesentlich länger. Geht damit nicht das agil-spritzige Racebike-Handling verloren?
Man muss sich genau anschauen, wo man im Rennen Zeit gewinnt und wo man sie verliert. Bergauf hilft der verlängerte Radstand dabei, sauberer und das heißt schneller über Hindernisse zu kommen. In einer engen Kurve muss man bergauf mit dem längeren Radstand vielleicht mehr arbeiten. Aber wenn du hier eine Sekunde verlierst und im Rest der Runde 15 gewinnst, dann ist das eine klare Rechnung. Zumal der Vorteil der längeren Geometrie bergab sehr eindeutig ist.
Außerdem geht es uns mit der Geometrie und dem zusätzlichen Federweg darum, den Fahrer zu entlasten. Es gibt da ein gutes Sprichwort. Rennen gewinnst du bergauf, aber du verlierst sie bergab. Wer sich bergab besser entspannen kann, geht auch ausgeruhter wieder in den nächsten Anstieg.
Eine Vario-Stütze verbaut ihr jetzt in jedem Modell ab Werk. Warum?
Neben dem Spaß geht es dabei auch darum, dass sich der Fahrer bergab besser erholen kann. Und mit einer Dropper-Post kann man auch leichter mal auf Attacke fahren, um bergab ein bisschen Zeit gut zu machen.
In den High-End-Varianten steckt immer noch die Lefty. Was ist der Vorteil gegenüber einer traditionellen Gabel?
Mit unserer eigenen Gabel können wir Heck und Front ideal aufeinander abstimmen. Gerade wenn sich die Gabel beim Anbremsen verwindet, hat die Lefty mit den Nadellagern auch einen klaren Vorteil beim Ansprechverhalten.
Wird es in Zukunft noch ein Downcountry-Modell Scalpel SE geben?
Faktisch sind alle neuen Scalpels SE-Modelle. Für uns ist das die Zukunft von Cross Country.