Das Canyon Spectral verkauft sich, wie Klopapier zu Corona-Zeiten. Vor allem die Ausstattungsvariante CF7 steht hoch im Kurs. In unserer Test-Serie zu aktuellen Topseller-Bikes nehmen wir die Erfolgsstrategie von auffallend stark nachgefragten Modellen auseinander. Auf die neuste Ausbaustufe des All Mountain Klassikers Spectral waren wir besonders gespannt. Viel kann man mit einem so bewährten Rad, wie dem Spectral mit Shimano-SLX-Ausstattung, eigentlich nicht verkehrt machen. Das denken sich scheinbar viele All-Mountain-Biker und drücken dutzendfach auf den Kauf-Button.
>> Einen Überblick über die 4 Topseller-MTB im Test bekommt ihr hier: Cube, Canyon, Santa Cruz & Scott: Topseller-MTBs im Test
Dank Direktversender-Konzept prangt zudem ein attraktives Preisschild von 3399 Euro unter dem Canyon Spectral CF7 - und das trotz zahlreicher Features. Carbonrahmen, Unterrohr-Staufach und längenverstellbare Dropper-Post sind erst der Anfang. Ein Flip-Chip passt die Geometrie an, ein zweiter lässt die Wahl zwischen Mullet-Bereifung oder Full-Twentynine. Dazu gibt's das exklusive K.I.S.-System zur Stabilisierung der Lenkung. Zwei in den Rahmen integrierte Federn zentrieren die Steuerzentrale nach jeder Lenkbewegung. Die Stärke ist einstellbar. Beim Verhältnis von Technologie zu Preis macht dem Spectral so schnell Niemand etwas vor. Ob sich das auch positiv auf die Fahreigenschaften auswirkt?
Durch den langen Hauptrahmen spannt das Canyon Spectral seinen Piloten in eine sportliche Sitzposition. Etwas entschärft wird die Länge durch die kurze, hohe Front. In sehr steilen Kletterpassagen gibt es souveränere Bikes als das Spectral mit seinem kompakten Heck. Hier zeigen sich dann auch die Schattenseiten des K.I.S.-Systems. Bei ohnehin geringem Druck auf dem Vorderrad widersetzt sich der Stabilisator den intuitiven Micro-Adjustments am Lenker und sorgt für ein ungewohntes Handling, mit dem sich nicht alle Tester anfreunden konnten. Auch, wenn der Spectral-Hinterbau sich mit hoher Antriebsneutralität und Traktion keine Blöße gibt: Wer größere Touren-Ambitionen hat, sollte sich das weniger extreme Canyon Neuron anschauen.
Im Talschuss wird der Fahrer sehr gut ins Chassis des Canyon Spectral CF7 integriert, steht souverän hinter der erhöhten Kommandozentrale und profitiert von den hohen Sicherheitsreserven des radikalen Geo-Konzeptes. Dank langem Vario-Hub bleibt auch in Steilpassagen viel Bewegungsfreiheit über dem Bike. K.I.S. unterstützt vor allem in offenen Kurven bei mittleren bis hohen Geschwindigkeiten unauffällig die Linientreue. In der mittleren Einstellung bleibt der spürbare Effekt aber im Hintergrund.
Deutlich präsenter ist da der ausladende Reach-Wert. Das Canyon verträgt eine Menge Speed, wirkt dank kurzer Kettenstreben in Engstellen trotzdem nicht träge und glänzt insgesamt mit einem sehr stimmigen Handling. Dazu verwöhnt das Heck mit Grip und Gegenhalt. Gefällig lässt sich der Hinterbau an Sprüngen abdrücken und durch Kurven pushen ohne wegzusacken. Gegenüber dazu fällt die einfache Fox Rhythm deutlich ab. Ihr undefiniertes Ansprechverhalten können die rudimentären Einstelloptionen nicht kompensieren. Bei der Gabel liegt das gewichtigste Argument eine Modellvariante höher zu shoppen.
Das neue BIKE-Spinnendiagramm gibt einen Überblick über die Stärken und Schwächen des Canyon Spectral CF7. Uphill, Spieltrieb, Downhill bezieht sich auf das Fahrverhalten: Je größer der Ausschlag, desto besser die Eignung. Ausstattung: setzt sich aus unterschiedlichen Punkten, wie Qualität/Verarbeitung, Usability, Flaschenhaltervolumen, Sattelversenkbarkeit, zusammen. Vortrieb: Einfluss vom Gesamtgewicht und Laufradträgheit.
BIKE betreibt einen beispiellosen Aufwand zur Vermessung von Mountainbikes. Im Testlabor nehmen wir nicht nur unsere eigene Geometrie-Vermessung vor, sondern ermitteln auch die Seitensteifigkeit des Rahmens getrennt für das vordere Rahmendreieck inklusive der verbauten Gabel (vorne) und dem Hinterbau (hinten). Das Gesamtgewicht versteht sich ohne Pedale, das Laufradgewicht pro Satz mit Reifen, Kassette und Bremsscheiben. Für den Messwert der Laufradträgheit gilt: je niedriger, desto leichter zu beschleunigen.
In dieser Variante präsentiert sich das Canyon Spectral eher als spaßiges Mini-Enduro statt als Alleskönner-All-Mountain. K.I.S. ist ein zweischneidiges Schwert. Von Handling und Hinterbau können sich auch teurere Bikes eine Scheibe abschneiden. Einziger echter Dealbreaker: die sumpfige Federgabel.- Jan Timmermann, BIKE-Testredakteur