Marc Strucken
· 18.09.2025
Dann und wann weichen Fahrradhersteller, meist Kleinstschmieden, dramatisch ab vom Mainstream und versuchen, einen eigenen Weg zu gehen. Das hat im Fall von Joe Breeze, Gary Fisher, Tom Ritchey und Charlie Kelly ziemlich gut funktioniert - wohl niemand würde das MTB heute noch als Nischenprodukt bezeichnen. Bei Charles Mochet und seinem Sohn Georges schon weniger - Liegeräder sind nie wirklich cool und sexy geworden, oder?!
Wir haben uns nun zum Test das Sayle Cycle № geholt, dass mit seiner Bauart doch ziemlich anders ist. Erfinder und Produzent, Marcel Sayle aus München, siedelt es selbst im weiten Feld zwischen Cargobike, ATB, Urban-, Commuter- sowie Bikepacking-Bike an. Rein optisch sieht es wie ein MTB aus, das ein findiger Schweißer für den Campingurlaub oder den Großeinkauf modifiziert hat. Vorne ein 27,5-Zoll-Rad, hinten dagegen kleine 20 Zoll. Die Ladefläche dehnt das hintere Rahmendreieck extrem aus, das am Ende sehr spitz zuläuft. Kurioses Aussehen - aber wie ist das Fahrverhalten dieses gut 20 Kilo schweren Alleskönner-Rads?
Die wirklich tief angeordnete Ladefläche im Windschatten des Fahrers soll für ein gewohntes, stabiles und zugleich agiles Fahrverhalten sorgen, so beschreibt es Marcel Sayle. Tatsächlich fährt sich das № mit der klassischen Lenkung und dem tiefen Schwerpunkt stabil und wenig gewöhnungsbedürftig, auch bei niedrigen Geschwindigkeiten. Kein Vergleich zum eigenartigen Handling mancher Cargobikes, die ein stark vorgelagertes Vorderrad haben oder gar zwei.
Auch das verhältnismäßig geringe Gewicht von 21,77 kg (inkl. Pedale, leere Packtasche, Expander) fühlt sich beim Treten gut an. Mit Zuladung merkt man dann natürlich das Gewicht schon. Das Sayle № ist unmotorisiert! Dafür hat es eine 3X3-Nabenschaltung. Dieses schwäbische Qualitätsprodukt hatten wir bereits im Test und finden es sehr gelungen. Die Übersetzung der Schaltung ist breit und bietet fürs Anfahren oder den Berg einen sehr leichten ersten und zweiten Gang. Die Sitzposition ist leicht sportlich-gestreckt, das Sayle will kein gemütlicher Cruiser sein.
Flotte Kurvenfahrten in der City fühlen sich sicher und natürlich beim Sayle an, die größere Länge des Bikes von gut 2,20 Metern macht sich kaum bemerkbar, außer vielleicht, wenn man sehr scharf um die Ecke will oder muss. Mich erinnerte das Setup zunächst an einen Anhänger im Test. Zum Glück verhält sich das Sayle Cargobike aber komplett anders: keine Instabilität bei höheren Geschwindigkeiten, kein Schlingern bei Schritttempo.
Durch den vorgelagerten Schwerpunkt und den kurzen Vorbau bleibt die Lenkung des Rades aber immer sehr aktiv. Fast etwas zu sehr. Die Bremsanlage von Magura mit ihren 160 mm großen Bremsscheiben macht auch bei Beladung eine gute Figur und bringt das Gespann bissig zum Stehen. Allerdings scheint laut Spec-List von Sayle serienmäßig eine Shimano Alfine Bremsanlage verbaut zu sein, die wir nicht testen konnten.
Die Ladefläche ist zudem sehr vielseitig und passt ziemlich genau für die Größe eines Bierkastens. Ist ein Gegenstand größer, kann er auf den Rahmenrohren der Ladefläche mit Expandern befestigt werden. Auch das stabile hintere Schutzblech kann als Ablagefläche und Befestigungsmöglichkeit genutzt werden. Für das Fahrgefühl, für das Parken in der Stadt und auch das Beladen empfanden wir die Ladefläche, die in Fahrtrichtung ihre längere Seite hat als sehr praktisch. Wo der 710er-Lenker durchgeht, passt auch die nur 520 mm breite Ladefläche durch oder rein. Durch den tiefen Schwerpunkt entsteht auch kein übermäßiger Drang des Bikes, zur Seite zu kippen.
Nachteile hat das Sayle natürlich auch, aber die liegen relativ auf der Hand. Ohne E muss man mit Beladung kräftig treten. Für enge Kurven muss man das Vorderrad ungewohnt weit einschlagen. Anfangs gewöhnungsbedürftig, aber immerhin sind auch richtig enge Kurven mit dem Sayle möglich. Für etwas mehr Laufruhe hat Erfinder Marcel bereits die Lenkgeometrie etwas angepasst. Klar ist: Durch das Crossover-Konzept ist das Rad weder echtes Platzwunder noch leichtes Sportrad. Die kompakte Ladefläche ist vor allem für den Transport kompakter Lasten geeignet. Sperriges Gepäck muss mit etwas mehr Kreativität verstaut werden, als beim klassischen Lastenrad. Als Kindertaxi eignet sich das Sayle zumindest Stand jetzt eher weniger.
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Der Name dieses Urban-Cargo-Abenteuer-Bikes leitet sich aus der Kombination des Numerus-Zeichen und der Rahmennummer: unser Testbike No_003. Das Dritte seiner Art, was auf die (noch) sehr exklusive Produktion hindeutet. Die in Deutschland gefertigten Stahl-Rohre werden in Marcel Sayles Werkstatt bei München verschweißt und im Nachbarort pulverbeschichtet, um dann hohlraumversiegelt zu werden. Nach eigenen Aussagen legt Sayle großen Wert auf eine regionale Fertigung, um eine hohe Qualität zu gewährleisten und um flexibel auf Kundenwünsche eingehen zu können.
Hintergrund sei aber zugleich ein ökologischer Anspruch, die Umwelt durch die Produktion so wenig wie möglich negativ zu beeinflussen. Vor allem die in den Hinterbau integrierte Ladefläche ermöglicht es, einen leichten aber dennoch steifen Rahmen zu bauen. Stahl ist und bleibt dabei wohl das sinnvollste Material für den Fahrradrahmen: Es ist komfortabel beim Fahren, langlebig, beinahe unendlich recyclefähig und somit umweltschonend.
Der verwendete Chrom-Molybdän-Stahl bietet laut Sayle ein hervorragenden Verhältnis zwischen Dauerhaltbarkeit, Vibrationsdämpfung und Gewicht. Der Einsatz von Fahrrad-Normteilen und außengeführten Zügen bzw. Leitungen machen die Wartung oder Reparatur einfach. Der geteilte und gemischte Antrieb aus Kette und Gates-Riemen ist ebenfalls außergewöhnlich, aber für den Industriedesigner Sayle der beste Kompromiss aus Haltbarkeit, Kosten und Nutzen: Vorne ein sauberen Antrieb und hinten gut zugänglich zum Spannen der Kette.
Unser Testbike № 003 ist sogar noch ein Vorserien-Rad, das heißt nicht alles daran entsprach schon dem, was später Kund/innen der Serien-Modelle ausgeliefert wird. Hier eine Übersicht des Herstellers, die wir nicht überprüfen können.
Abweichung der Ausstattung zur Serie des № URBAN CLASSIC
Am schwierigsten bleibt die Einordnung dieses coolen Urban-Cargo-ATB-Bikepacking-Bikes und folglich die vornehmliche Nutzung. Als sportliches MTB ist es zu sperrig, als elegantes Citybike zu rustikal, als Schwerlast-Cargobike hat es zu wenig Stauraum... Es ist wohl im besten Sinne ein Abenteuer-Bike. Gravelbike plus sozusagen. Noch geländegängiger, viel mehr Platz für Bikepacking-Equipment und es fährt sich dennoch zügig und sicher auch auf Schotter.
Durch die geringe Breite des Laderaums passt das Bike auch auf schmale (Rad-)Wege und lässt sich problemlos durch den (Großstadt-)Dschungel manövrieren. Bei einem Preis ab 3600 Euro - unsere Variante Urban Classic inklusive 3X3-Nabenschaltung kommt auf 4550 Euro - ist das Bike sicher eine Überlegung wert für alle, die es komfortabler angehen wollen und neben Zelt, Schlafsack und Isomatte auch noch Grill und Strandmuschel mitnehmen.
Sayle (sprich: “Seile”, nicht englisch) Cycle ist eine neue, kleine Münchner Bike-Marke, mit Schwerpunkt in den Bereichen Urban, Cargo und Bikepacking. Durch einen vielseitigen und flexiblen Rahmen ist es möglich, verschiedenste Arten von Räder zu bauen. Auch einen E-Antrieb soll es in Zukunft geben. Durch die eigene Produktion sowie die Zusammenarbeit mit dem EFBE-Prüflabor kann Sayle einen hochwertigen, ausgereiften Rahmen, geprüft nach der Cargobike Norm EN 17860-2 regional produzieren.
Marcel Sayle ist der Entwickler und Designer hinter Sayle Cycle. Er ist Zweiradmechaniker-Geselle, Gesundheitstrainer des Olympischen Sportbunds, Maschinenbautechniker, Industriedesigner. Das Sayle № ist das Resultat seiner Bachelor-Arbeit als Industriedesigner.