Jan Timmermann
· 21.08.2025
Keine andere Bike-Gattung hat sich über die letzten Jahre so rasant weiterentwickelt, wie die Sparte der Gravelbikes. Die Räder mit Rennlenker und verhältnismäßig breiten Reifen gelten als echte Alleskönner. Hardtail-Fahrer können da nur schmunzeln: Ein Mountainbike ist noch immer das überlegene Konzept, oder? In diesem Teil unserer Kaufberatungs-Serie checken wir die Ausstattungsunterschiede zwischen Gravelbike und Hardtail. Außerdem werfen wir einen Blick auf Bikes mit geradem Lenker und Starrgabel. Welche Interpretation eines schnellen Fahrrads für abwechslungsreiches Gelände kann am Ende mehr überzeugen? Vorhang auf für das Finale unseres Konzeptvergleichs Gravelbike versus MTB-Hardtail.
Ein breiterer Lenker verteilt auf einem Hardtail-Mountainbike die Masse des Fahrers flächiger über dem Rad und bieten durch eine breite Abstützung mit großem Hebel in der Abfahrt mehr Souveränität. Gleichzeitig sorgen kürzere Vorbauten für ein direktes Lenkverhalten und mehr Kontrolle. Ohne (Inner-)Barends bleibt nur eine einzige echte Griffposition. Der Dropbar eines Gravelbikes besitzt nicht nur aerodynamische, sondern auch ergonomische Vorteile. Viele Griffoptionen entlasten auf langen Strecken Rumpf, Schultern und Arme. Allerdings sind nur in Unterlenker- und Hood-Position die Bremsen erreichbar. In der Abfahrt bleiben also nur zwei Optionen, die den Fahrer entweder weit nach vorne oder weit nach unten bringen. Lange Vorbauten und Griffe weit vorn schaffen ein indirektes Handling. In Abfahrten, die das Sicherheitsempfinden auf einem Hardtail noch lange nicht vor Herausforderung stellen, kommen an Bord eines Gravelbikes wegen der frontlastigen Griffposition früher Überschlagsgefühle auf.
Am Hardtail haben sich zwölffach-Antriebe mit mindestens 510 Prozent Übersetzungsbandbreite etabliert. Ein klassischer Berggang von beispielsweise 32 Zähnen vorne zu 52 hinten ist auch für steile Rampen gemacht. Mit zehn Zähnen im schwersten Gang lässt sich noch bis circa 45 Kilometer pro Stunde effizient mittreten. Bei den meisten Einfach-Antrieben von Gravelbikes, welche übrigens teilweise 13 Gänge an der Kassette realisieren, fällt die Übersetzungsbandbreite geringer aus. Die Abstufung der Gänge ist dafür feiner - auf der Straße und vor allem bei Fahrten in der Gruppe ein Vorteil. Manche Gravelbikes setzen auch auf MTB-Schaltwerke und -Kassetten, erreichen dank größerem Kettenblatt höhere Geschwindigkeiten aber auch härtere Berggänge. Andere sind auch mit Zweifach-Kurbeln ausgestattet. Je nach Kassette muss die Bandbreite aber nicht höher ausfallen.
Dropper-Posts mit bis zu 150 Millimetern Verstellbereich haben sich bei vielen Hardtail-Herstellern etabliert. Im Trail ist die zusätzliche Bewegungsfreiheit ein Gamechanger. Aber selbst auf Abfahrten über Schotter und in Kurven bringt ein abgesenkter Sattel ein riesiges Sicherheits-Plus. Auch einige Gravelbikes sind mit Teleskopstützen um 75 Millimeter Hub ausgestattet. Die meisten Modelle sparen sich jedoch Mehrgewicht, Komplexität und Aufpreis. Bei flachen Wegen und sanften Hügeln eine gute, bei steilen Abfahrten und technischen Passagen eine schlechte Entscheidung. Einzelne Variostützen, wie etwa die Rockshox Reverb AXS XPLR, bieten zugunsten des Sitzkomforts eine eingebaute Nachgiebigkeit. Fast immer geht das mit Kompromissen bei der Sitzhöhe einher. Wer auf eine vom Lenker aus versenkbare Sattelstütze verzichten kann, ist mit dem Flex eines starren Carbon-Modells mit geringem Durchmesser nach unserer Test-Erfahrung besser beraten.
“Gutes Rad ist teuer” - an diesem abgewandelten Sprichwort ist ein Fünkchen Wahrheit dran. Hochwertige und gut funktionierende Teile gibt es leider nicht geschenkt. Grundsätzlich ist ein gutes Hardtail nicht zwingend teurer als ein gutes Gravelbike. Wer sein Fahrrad als Sportgerät nutzen möchte, profitiert von einem niedrigen Gewicht. Mountainbikes bringen mit Federgabeln und geländetauglicher Ausstattung prinzipiell mehr auf die Waage. Zwischen 600 und 1200 Gramm Mehrgewicht muss man im Vergleich zu einem Gravelbike einrechnen. Doch auch günstige Gravelbikes sind nicht leicht. Je nach Vertriebsmodell und Konzept variieren die Komplettbike-Gewichte stark. Einen echten Performance-Boost in Sachen Gewicht gibt es bei den meisten Rädern mit Dropbar erst ab 5000 Euro. Bei Hardtails ist der Sprung in die Top-Liga noch etwas teurer. Aus unseren Testgruppen können wir folgende grobe Matrix ziehen:
um 2000 Euro | um 3000 Euro | um 5000 Euro | um 7000 Euro | |
MTB-Hardtail | ca. 11,6 kg | ca. 10,8 kg | ca. 9,9 kg | ca. 9,4 kg |
Gravelbike | ca. 10,7 kg | ca. 10,1 kg | ca. 8,7 kg | ca. 8,5 kg |
Scott verkauft sein Scale Hardtail auch mit Starrgabel und Flatbar. “Der Namenszusatz Gravel ist schon frech. Da ist ja kein einziges Gravelbike-Teil dran” moniert ein Testredakteurs-Kollege mit Straßen-Vorliebe. Fakt ist, dass Mountainbike-Hardtails in der Ultracycling-Szene auf dem Vormarsch sind. Je länger die Tour und je mehr Höhenmeter und unberechenbare Streckenabschnitte zu erwarten sind, desto eher vertrauen Rennfahrer auf angepasste Hardtails. So stellte Robin Gemperle auf der legendären Tour Divide Route kürzlich einen neuen Rekord auf. Für die über 4400 Kilometer und rund 60.000 Höhenmeter brauchte der Schweizer weniger als 12 Tage und wählte das Starrgabel-Hardtail Scott Scale Gravel. Allerdings schmiss Gemperle die Starrgabel raus und ersetzte sie durch eine 110-Millimeter-Mountainbike-Federgabel. Zusätzlich montierte er einen Gravel-Dropbar. Verrücktes Zwitterwesen oder das beste aus beiden Welten?
Wir konnten nicht nur das Scott Scale Gravel, sondern auch andere Hardtails mit Starrgabeln bereits testen. Unser Fazit: Leichte Carbon-Modelle, wie das Scott oder das VPace C4M sind leichter und preiswerter als die meisten Gravelbikes. Gleichzeitig bieten Reifen und Cockpit deutlich mehr Kontrolle im Gelände. Die Spezialisten kommen mit großer Übersetzungsbandbreite und einem noch größeren Einsatzgebiet. Wer dann auch noch Inner-Barends montiert (beim Scott Scale Gravel serienmäßig), bekommt auch die Aerodynamik gut in den Griff. In Kombination mit leichten Laufrädern sind Starrgabel-Hardtails eine echte Waffe für Trainings- und Spaßrunden. Schade, dass es davon bislang nur sehr wenige am Markt gibt, denn sie haben das Zeug zum Gravelbike der Zukunft. Auch bereits von BIKE getestet und ein Tipp für preisbewusste Bikepacking-Abenteurer: Das Kona Unit X mit Starrgabel, breiten Reifen, geradem Lenker und vielen Anschraubpunkten am Stahlrahmen.
Ich bin selbst mit dem Gravelbike bereits kreuz und quer durch Europa gefahren. Mein Bike mit Dropbar hole ich jedoch nur wenige Male im Jahr aus dem Keller, um damit unter Volllast zur Arbeit zu sprinten oder gleich mehrere hundert Kilometer am Stück zu fahren. Es ist das teuerste Bike in meinem Besitz und zeichnet sich durch 50 Millimeter breite Reifen auf leichten MTB-Laufrädern, einen 69 Grad flachen Lenkwinkel, ein niedriges Gewicht dank Starrgabel, eine hoher Übersetzungsbandbreite mit Mountainbike-Kassette und einen komfortablem Titanrahmen mit flexender Carbon-Stütze aus. In diesem Aufbau hat es im Endurance- und Bikepacking-Bereich einen festen Platz in meinem Fuhrpark.
Für alles andere nehme ich das MTB. Ob beim Bikepacking durch Skandinavien oder bei der spaßigen Feierabendrunde: Ich persönlich will mich nicht auf Asphalt und festgestampften Schotter beschränken. Leichte Hardtails haben in jeder Situation das souveränere Handling und glänzen auch dank ihrer Ausstattung mit Vielseitigkeit. Selbst bei der Preis-Leistung müssen sie sich nicht verstecken. Gerade Modelle mit Starrgabel sind in meinen Augen für viele Radfahrer ein super Konzept, welches in meiner Wahrnehmung das Gravelbike übertrumpft. Ich finde es schade, dass das scheinbar der Großteil des Marktes vergessen hat.