Jan Timmermann
· 19.08.2025
Viele Jahre lang waren Hardtails die unerschütterliche Basis des Mountainbike-Marktes. Wer abseits asphaltierter Wege schnell und günstig Radfahren wollte, kam am Hardtail nicht vorbei. Spätestens Anfang des neuen Jahrtausends aber verbreiteten sich Federgabeln und Fullys. Technischer Fortschritt machte Fahrwerke immer besser. Die Abkehr vom Motto “steif und leicht gleich schnell” dauerte aber noch lange. Auch BIKE betrieb jahrzehntelang Grundlagenforschung und heute wissen wir, dass im Mountainbike-Terrain in fast allen Fällen Fullys schneller sind als Hardtails. Aus dem Crosscountry-Worldcup sind Bikes mit starrem Heck fast vollständig verschwunden und auch erste Hersteller, wie etwa Canyon und Scott, labeln ihre Hardtail-Modelle nicht länger als Race-Bikes, sondern als Allrounder für Alltag und Abenteuer. Ist es nicht genau das, was Gravelbikes eigentlich können sollen? Alles nur Marketing? Alles schon dagewesen? Wir wollten herausfinden, mit welchem Ansatz Biker 2025 besser beraten sind und baten Hardtail und Gravelbike zum Konzeptvergleich.
“Schlechte Bikes mit schmalen Lenkern und rutschigen Reifen gab es früher schon” titelten wir 2020 noch mit großer Skepsis, als der Gravel-Trend gerade so richtig Fahrt aufnahm. Und trotzdem konnte sich parallel zum schwindenden Stellenwert des Hardtails eine komplett neue Bike-Gattung entwickeln, die heute in voller Blüte steht. Unter sportlichen Fahrrädern ohne E-Motor verkauft sich aktuell keine Sparte besser als die der Gravelbikes. In fünf Jahren hat sich aber auch technisch viel getan. Manche Gravelbikes tragen heute breite Reifen, Federgabeln und sogar Dropper-Posts. Laut Herstellern liegt der Einsatzbereich auf Straße, Schotter und einfachen Trails - ein Spektrum, das sehr viele Radfahrer anspricht und das auch MTB-Hardtails abdecken können. In Richtung Geländeeinsatz geht die Vielseitigkeit von Mountainbikes fast immer über die der Gravelbikes hinaus. Am Ende entscheiden der Einsatzzweck des Sportgeräts und persönliche Vorlieben über die Bedürfnisse bei Sitz-, beziehungsweise Griffposition, und Handling sowie den Stellenwert der Aerodynamik. Als wäre der Relativierung noch nicht genug, gibt es am Markt inzwischen auch Mountainbikes mit Dropbar und Gravelbikes mit Flatbar. Um dennoch etwas Licht ins Dunkle zu bringen, hilft ein Blick auf Zahlen und Fakten.
Legt man die Geometriezeichnungen von Hardtail und Gravelbike nebeneinander, lassen sich eindeutige Unterschiede ausmachen. An unseren Beispielbikes Propain Terrel CF Trail (Gravelbike) und Bike Ahead The Frame liegen in Größe L stattliche 75 Millimeter Sitzrohrlänge. Während Gravelbikes die kürzere Gabel mit einem längeren Steuerrohr kompensieren und so beim Stack-Wert oftmals nicht weit vom Hardtail entfernt landen, beträgt die Reach-Differenz unserer Kandidaten beachtliche 43 Millimeter. Auch hier liegt der Teufel aber im Detail: Durch einen längeren Vorbau und einen nach vorne ausladenden Rennlenker holt das Gravelbike viel Länge raus. Für die Sitzposition ist wiederum die Griffposition mitentscheidend. Ob Hoods, Unter- oder Oberlenker streckt, staucht, hebt oder senkt die Körperposition auf dem Rad. Pauschal zu sagen man säße auf einem Gravelbike komfortabler oder sportlicher als auf einem Hardtail ist deshalb nicht möglich. Festhalten lässt sich lediglich: Ein Dropbar bietet mehr Griffoptionen. Gerade auf langen Strecken kann die Varianz Rumpf, Schultern und Arme entlasten.
Jenseits von Teer und feinem Schotter kann selbst bei bester Fahrtechnik kein Gravelbike dem Hardtail das Wasser reichen. Während auf dem Gravelbike bei einer Griffposition auf den Hoods die Hände deutlich vor der Vorderradachse platziert sind, liegt das gedachte Lot an einem geraden MTB-Lenker hinter der Achse. Auf Trails, die Mountainbikern Spaß machen, kommen Gravelbikes nicht nur wegen rutschiger Reifen früh an ihre Grenzen. Vor allem wenn das Gefälle steiler wird, hängt der Pilot auf einem Gravelbike so weit vorne, dass sich schnell Überschlagsgefühle einstellen. Hinzu kommen an den meisten Modelle eine starre Sattelstütze, ein hohes Oberrohr und ein bedeutend steilerer Lenkwinkel. Flache Waldwege mögen noch zum Habitat des Gravelbikes gehören. Auf Trails müssen Gravelbiker leider aber sogar mit breiten Reifen, Federgabel und Dropper-Post deutlich öfters schieben. Je größer Steigung und Gefälle, desto wahrscheinlicher der Abstieg vom Sattel.
Zusätzlich fällt der Radstand bei vergleichbarer Kettenstrebenlänge am Hardtail in Größe L gute 70 Millimeter länger aus. In der Theorie beschert das dem Mountainbike mehr Laufruhe. In gerader Fahrt liegt ein Hardtail stoischer auf der Strecke und lässt sich weniger schnell durch Hindernisse aus der Bahn werfen. Dagegen verspricht die Rahmengeometrie eines Gravelbikes ein agileres Handling und mehr Drehfreude in engen Kurven. Allerdings beschneiden lange Vorbauten und frontlastige Griffpositionen am Cockpit ein direkteres Lenkverhalten erheblich. Im Gelände lässt sich ein Hardtail deshalb einfacher unter Kontrolle halten als ein Gravelbike. Auch innerhalb der Gravelbike-Gattung gibt es jedoch gravierende Unterschiede. Bikepacking-Modelle, welche mit hohem Systemgewicht lange Distanzen zurücklegen sollen, liegen typischerweise näher an der laufruhigen Geometrie eines Mountainbikes als sportliche Race-Gravelbikes.
Die aerodynamischen Unterschiede zwischen Gravel- und Mountainbike sind messbar. Für etwa 75 Prozent des Luftwiderstands ist der Fahrer verantwortlich, nur rund 25 Prozent entfallen aufs Bike. Auch auf einem Mountainbike lässt sich durch eine effiziente Sitzposition mit Innerbarends der Löwenanteil des Luftwiderstands wegsparen. Trotzdem kann sich der Gravelbiker in der Unterlenkerposition noch tiefer in den Wind ducken. Bei 45 Kilometern pro Stunde zeigen sich in Windkanalmessungen Unterschiede von etwa 90 Watt zwischen Aero-Rennrad und Mountainbike. Gravelbikes rangieren je nach Geometrie und Ausstattung zwischen den beiden Extremen. Übrigens entfallen circa acht Prozent des gesamten Luftwiderstandes auf die Laufräder. Zwischen einem 30 Millimeter breiten Rennradreifen und einem 42 Millimeter breiten Gravelreifen liegt der Aerodynamik-Vorteil bei etwa 20 Watt zugunsten der Straßen-Bereifung. In Sachen Aerodynamik hat das Gravelbike einen Vorsprung zum Hardtail.
Auf Asphalt und feinem Schotter haben Gravelbikes vor allem aufgrund aerodynamischer und ergonomischer Argumente ihre Vorteile. Schnelle Feierabendrunde über die Felder? Perfekt fürs Gravelbike! Je mehr der Einsatzbereich von großenteils ebenen Fahrten mit hohen Durchschnittsgeschwindigkeiten auf festen Untergründen abweicht, desto mehr Sinn macht ein MTB-Hardtail. Wird das Gelände nur minimal technischer und das Gefälle nur etwas größer, so können Bikes mit Dropbar nicht mehr mithalten. Selbst bei Offroad-tauglicher Ausstattung ist die Fahrposition zu frontlastig, das Handling zu indirekt. Mehr Sicherheitsgefühl beschert in allen Lebenslagen das Hardtail mit klassischem Flatbar. Bei Tourenplanung durch unbekanntes Gelände kommt es immer wieder vor, dass sich plötzlich eine steile Abfahrt oder ein kurzer Trail vor dem Bike auftut. Dann stehen mit einem vielseitigen Hardtail weniger böse Überraschungen ins Haus.