Als wir das Radon Tigard aus dem Karton ziehen, staunen wir nicht schlecht. Das Gravelbike, welches uns der Paketzusteller vor die Füße geschoben hat, wirkt wahnsinnig wertig. Radon Bikes sind regelmäßig zu Gast in diversen BIKE-Testfeldern, doch selten hinterließ ein Modell der Bocholter selbst bei den kritischen Redaktionskollegen einen so guten Ersteindruck. Der Titanrahmen des Radon Tigard schimmert matt und hebt sich allein optisch vom Carbon-Einerlei der Testkonkurrenz ab. Trotz Noblesse mag jetzt der ein oder andere Hardliner die Nase rümpfen: Sie hätten vermutlich lieber “Moots” oder “Van Nicholas” auf dem Unterrohr stehen. Schließlich hat sich Radon in erster Linie mit preisattraktiven Bikes für Jedermann einen Namen gemacht. Wie passt da das Radon Tigard mit Titanrahmen ins Konzept? Auf den Test des mit 5999 Euro teuersten Radon-Bikes ohne Motor waren wir besonders gespannt.
Okay, zugegeben: Knapp 6000 Euro sind keinesfalls günstig und inzwischen findet man Komplettbikes mit Titanrahmen bereits für die Hälfte des Preises. Doch vergleicht man das Radon mit anderen Titan-Gravelbikes wird schnell klar, dass das Verhältnis aus Ausstattungsgüte, Gewicht und Anschaffungspreis ziemlich attraktiv daherkommt. Vor allem, wenn man bedenkt, dass Radon eine lebenslange Garantie auf den Rahmen gewährt. Für Kunden, welche sich für ein Chassis aus diesem zeitlosen Werkstoff interessieren, dürfte das ein gewichtiges Kaufargument sein. Ästhetisch lässt der Direktversender aus Bocholt nichts anbrennen und entscheidet sich für eine vollintegrierte Zugverlegung durch einen Cockpit-Einteiler aus Carbon.
Unser Testbike trägt bereits die Serienausstattung für das Modelljahr 2026 bei sich. Dazu gehört nicht nur eine kabelgebundene, elektrische Shimano GRX Di2 Schaltung mit Zweifach-Kettenblatt, sondern auch ein aerodynamischer Allroad-Carbon-Laufradsatz von Mavic. Letzterer besitzt einen markanten Freilauf-Sound, der gut zum Titan-Hingucker passt. Obwohl der Rahmen auf einem breiten Sattelrohr mit 31,6 Millimetern Innendurchmesser aufbaut, ist er nicht für die Verwendung einer Dropper-Post vorbereitet. Auch eine Federgabel darf nicht ins Steuerrohr. Dafür sind sowohl Rahmen als auch Gabel mit Gepäckträger und Schutzblechen kompatibel. Sogar an eine Innenverlegung für das Kabel eines Nabendynamos wurde gedacht.
Radon bietet das Tigard lediglich in zwei Ausstattungsvarianten und in vier verschiedenen Rahmengrößen (S / M / L / XL) an. 4999 oder 5999 Euro müssen für ein Komplettbike von der Stange investiert werden. Individualisten können sich dank des für 2499 Euro ebenfalls angebotenen Rahmensets ihr persönliches Traumbike aufbauen. Unser Testbike trägt die Modellbezeichnung Radon Tigard GRX Di2 825 und zeichnet sich durch folgende Ausstattung aus:
Bei BIKE betreiben wir einen beispiellosen Aufwand, um Fahrräder zu testen. Als einziges Fachmagazin weltweit betreiben wir ein eigenes Testlabor. Die ermittelten Daten stützen die Eindrücke aus dem Praxistest. Auch bei den Geometriedaten verlassen wir uns nicht ausschließlich auf die Herstellerangaben, sondern setzen selbst das Lasermessgerät an.
So stilvoll, wie die Optik, so stilvoll nimmt der Fahrer auf dem Radon Tigard Platz. Auch der 100 Millimeter lange Vorbau kompensiert den kürzesten Reach-Wert im Testfeld nur geringfügig. Wie bereits das massive Steuerrohr vermuten lässt, ist der Stack-Wert wiederum der höchste (gemeinsam mit dem Salsa Cutthroat). Daraus resultiert die aufrechteste Sitzposition unter den zehn getesteten Gravelbikes. Diese Platzierung im Bike passt zur gediegenen Persönlichkeit des Tigard. Der komfortable Ergon-Sattel gleicht die dicke und deshalb steife Carbon-Sattelstütze aus. Insgesamt liebäugelt das Radon eher mit entspannten Touren als mit Vollgas-Fahrten unter Zeitdruck.
Zwar rollen die zahmen Conti-Reifen auf den Allroad-Laufrädern flott aber die eher legere als aerodynamische Sitzposition animiert nicht unbedingt zu maximalem Druck auf dem Pedal. Mittels einer Kassette, welche auch einem Rennrad gut zu Gesicht stehen würde, realisiert das Radon fein abgestufte Gangsprünge. Auch das passt hervorragend zum zivilisierten Charakter des Titan-Gravelbikes. Allerdings schafft es das Getriebe trotz Zweifach-Kettenblatt nicht ganz dieselbe Übersetzungsbandbreite zu realisieren wie die Einfach-Antriebe mit großer Kassette der Test-Konkurrenz. Während die Übersetzung in 95 Prozent der Fälle gut passt, wünschten wir uns in alpinen Anstiegen einen zusätzlichen Berggang.
Auch interessant: Radon verbaut die Shimano GRX Di2 mit Kabel und einem in die Sattelstütze eingeschobenen Akku. Mit der neusten GRX Di2 gäbe es auch eine Alternative mit Funkübertragung und entnehmbarem Akku, die in unseren Augen besser zum Sorglos-Anspruch eines Titan-Gravelbikes passen würde. Die Vollintegration der Elektronik ist zwar schön umgesetzt, im Carbon-Lenker rasselt jedoch ein Kleinteil leise vor sich hin und stört die Gesamtästhetik.
Dafür sind die hydraulischen Shimano Scheibenbremsen mit großer 180er Disc am Vorderrad die kräftigsten Stopper im Test. Das hilft auch bei der Kontrolle abseits befestigter Wege. Generell bleibt das Radon mit seiner konservativ angehauchten Geometrie hier aber hinter vielen aktuellen Gravelbikes etwas zurück. Einteiler-Cockpit und Hochprofil-Laufräder besitzen eine hohe Steifigkeit. Die Folge: Im Wurzel-Stakkato wird die Fahrt anstrengend und das Bike neigt zum Verspringen. Auch der mit 72,5 Grad sehr steile Lenkwinkel hilft bei der Laufruhe nicht. Dafür wuselt das Tigard flink um enge Kurven und bietet (anders als zum Beispiel das Alutech Punk) durch die höhere Front eine gute Übersicht über herausfordernde Streckenabschnitte. Vorsicht ist beim scharfen Einlenken geboten. Dann nämlich kommt der vordere Fuß aufgrund der kurz-steilen Geometrie auf Kollisionskurs mit dem Vorderrad.
Das Radon Tigard ist ein sehr schönes Fahrrad mit sehr schöner Ausstattung, das sich dazu auch noch sehr schön fährt. Diese Kombination gibt es bei anderen Marken erst ab 1000 Euro mehr. Mit komfortabler Sitzposition und gefälligem Leichtlauf ist es ein stilvoller Begleiter für Genuss-Touren. Bei Wettkampf-Ambitionen und Geländetauglichkeit bleibt es hinter vielen anderen Gravelbikes zurück. - Jan Timmermann, BIKE-Redakteur