“Gravel-Road-Bikes sind eine Art Zwitter aus Crosser und Straßenrennrad und in Nordamerika angeblich der letzte Schrei”, meldete die Tour vor nicht einmal zehn Jahren. Schuld an der Entstehung, oder doch zumindest für die weitere Evolution des Fahrrads in Richtung “schnelles Rad für alle Untergründe”, war, so ein Narrativ, unter anderem das amerikanische Straßensystem: Rennradtauglichen Asphalt gibt es in vielen Staaten der USA nur auf Highways. Auf kleinen Verbindungsstraßen zelebriert der Schotter seine ruppige Herrschaft – und der heißt auf Englisch: Gravel.
Dieses echte All-Road-Bike ist eine Art Hybrid zwischen Rennrad, Cyclocross-Bike und Mountainbike. Aber es gab auch einen realen, eigentlichen Vorläufer – wenn man den denn als solchen zählen lässt: das Monster-Cross-Bike, wie es einige Schmieden Ende der Nullerjahre auf Mountainbikereifen stellten. Eine Mischung aus Rennrad-Performance und Geländegängigkeit – auf Pneus, die deutlich breiter als Crossreifen waren. Da etwa zur selben Zeit das Mountainbike einen Trend zum 29-Zöller erlebte, konnten die Macher von Monster-Crossern auf entsprechende Gummis zurückgreifen. Viel Reifenfreiheit im Rahmen war Voraussetzung für das Rad, das damals seltsam unproportioniert wirken musste.
Der amerikanische Pionier Salsa Cycles brachte 2008 sein Fargo heraus, einen konkreten Vorläufer des Gravelbikes. Damals nannte sich das noch Abenteuer-Bike. Mit sehr breiten 29-Zoll-Reifen sollte das Rad sowohl für Langstreckenrennen wie auch für Offroad geeignet sein. Als echtes Abenteuerrad hatte es bereits viele Befestigungsösen für Träger, Flaschenhalter oder auch die ersten anschraubbaren Taschen. Apropos: Heute wirkt es manchmal, als wäre die Zahl der Anschraubösen an Gravelern ein Zeichen für die Abenteuertauglichkeit des Rads und die Abenteuerlust des Besitzers. Ein Bike mit derart gepunktetem Rahmen und Gabel löst einen Drang nach Freiheit und Abenteuer aus wie eine Cargohose die Lust am Wandern. Und natürlich ist da auch im sprichwörtlichen Sinne etwas dran...
Auch wenn viele Crossfans schon früh mit ihren Rennern auch auf der Straße unterwegs waren – schließlich boten sie stabilere Komponenten und mit den 33-Millimeter-Reifen aus dem Crosssport auch schon deutlich mehr Komfort als die klassischen damaligen 20 Millimeter breiten Straßenreifen –, fehlte eine entscheidende Entwicklung, die es brauchte, damit der Crosser zum Gravelbike, wie wir es kennen, werden konnte: die Disc Brake, mit der beispielsweise das Salsa schon zu haben war. Denn es war vielleicht das größte Manko der Crosser, dass die Canti-Bremsen an den schmalen Felgen, gelinde gesagt, etwas für Profis waren.
Schwer einzustellen, gewöhnungsbedürftig in der Dosierung, anspruchsvoll in der Wartung, bei Nässe und Schmutz sehr unzuverlässig. Mit dem Scheibenbremsentransfer vom MTB und Trekkingrad zum Schotterrad wurde dieses Bike erst richtig gesellschaftsfähig. Tolle Dosierbarkeit und hohe Bremsleistung waren jetzt möglich und damit der Weg des Gravelbikes frei zu einem breiten Nutzerkreis. Vielleicht war das Rad damals auch schon das Echo auf den “Ruf nach Freiheit und Abenteuer”, der in den letzten Jahren immer stärker aufploppte und vom Cross-Country-MTB vielleicht nicht entsprechend gehört wurde.
Einfache Antwort: Ein Rad mit Drop-Bar und 35 bis etwa 55 Zentimeter breiten Schlappen, deren Profilierung von “nur am Rand Stöllchen” bis hin zu MTB, mittelgrob, gehen. Die Geometrie liegt meist irgendwo zwischen Rennrad und sportlichem Trekkingrad, die Sitzhaltung dito. Was den Drop Bar oder Rennlenker betrifft, hat das Gravelbike entscheidend zu seiner Diversifizierung beigetragen, die man sich vor zehn Jahren kaum hätte vorstellen können. So sind die Lenkerenden von “gar nicht” bis so weit nach außen gebogen, sprich: ausgestellt, dass die Handgelenke sich beim Greifen an das Hollandrad erinnert fühlen dürfen.
Der Höhenunterschied der zwei Griffpositionen am Lenker variiert dabei von wenigen Zentimetern zwischen Ober- und Unterlenker bis hin zu zwölf oder mehr Zentimetern – also typische Rennlenkermaße. Gebremst wird grundsätzlich mit Disc-Bremsen, meist mit 160er-Disc-Durchmesser. Dabei herrscht fast überall die Hydraulik, nur manche Einsteigermodelle verzögern rein mechanisch oder mit der Kombi aus beiden Systemen.
Natürlich haben auch die Rahmen Veränderungen erfahren: Jahrelang wenig veränderte Cross-Rahmen waren nicht lange die Designvorlage für die neuen Graveler. Bald machte man sich an eigenständige Entwicklungen und sorgte neben Robustheit für noch mehr Druchlauf am Hinterbau und mehr Komfort durch speziell geformte Sattelrohre und Hinterbaustreben. Natürlich folgt aus den sich schnell vermehrenden Anbauösen an am Bikepacking orientierten Rädern auch deren verstärkte Nutzung und damit die Tendenz zu höherer Robustheit des Rahmens und der Gabel insgesamt.
Ich mag’s aber gern etwas tiefer in der Natur. Es ist viel ruhiger, kann aber genauso intensiv sein – und ich arbeite dabei an meiner Fahrtechnik. - Steffi (44) macht ziemlich viel Sport: Kraftsport, Laufen, Schwimmen. Ihre Gravel-Saison: Herbst/Winter.
Schon 2016 brachte Rondo einen Allroader mit verstellbarer Geometrie auf den Markt. Das heute noch erhältliche Ruut war nicht nur ein Kompromiss zwischen Straße und Gelände, sondern auch noch zusätzlich an das unterschiedliche Terrain anpassbar: Durch die Möglichkeit, die Stellung der Vorderachse zu verändern, kann man ruhigeres oder lebendigeres Handling erreichen, außerdem eine Erhöhung des Tretlagers. Zwitterwesen wie gefederte und sogar vollgefederte Graveler entstehen und machen den MTBs auf manchen Pfaden Konkurrenz. Übrigens auch uphill: Schon bald wurden die Crosser-Übersetzungen zum Alt-Alu gelegt und immer kürzere Übersetzungen aus dem MTB-Bereich adaptiert.
So ist ein Rettungsring von 50 Zähnen am Hinterrad heute häufig zu sehen. Und eine Untersetzung, von der man spricht, wenn das Kettenblatt kleiner ist als das größte Ritzel – beispielsweise also 42 zu 44 Zähnen – ist Standard. Gerade am Gravelbike-Allrounder und am klassischen Abenteuerrad setzen sich übrigens immer mehr Einfachschaltungen durch; der Umwerfer und das zweite Kettenblatt entfallen. Das muss aber nicht heißen, dass es bei zwölf (von Shimano und Sram) oder 13 Gängen (Campagnolo) bleibt: Im hochpreisigen Bereich ist zunehmend die Powershift-Nabe von Classified zu finden. Eine gekapselte Zweigang-Schaltung in der Hinterradnabe, die also das kleine Kettenblatt vorne ersetzt. Ihre Vorteile am Graveler bei etwa gleichem Systemgewicht: Wartungsfreiheit, einfache Schaltvorgänge und Schalten unter Belastung.
Waren zu Beginn der Bikepacking-Ära die Taschen grundsätzlich per Klett- oder Gurtbänder zu befestigen, gibt es bei Taschen für viele Stellen mittlerweile auch Lösungen mit Ösen am Rahmen und Schrauben zur Halterung der Taschen. Vor allem am Ober- und Unterrohr sowie an den Gabelholmen sind Ösen bei vielen Herstellern mittlerweile vorhanden. Vorteil: Die Taschen sind einfach und (Diebstahl-)sicher zu befestigen. Nachteil: Oft sind es eher hochpreisige Speziallösungen. Grundsätzlich gilt aber: Erlaubt ist, was gefällt. Ein Gravelbike mit vielen Taschen sorgt beim Betrachter schon für echte Abenteuer-Atmosphäre.
Aber jetzt auch noch das Schotterrad motorisieren und ein “E-” davorsetzen? Natürlich! Die Elektrifizierung des Gravelbikes ist für viele stimmig: Dank meist kleiner, leichter Motorsysteme ergibt sich relativ wenig Mehrgewicht, das E-Gravelbike behält also weitgehend das leichte Handling des Rads ohne Motor. Die Unterstützung ist aber zur Stelle, wenn es zu steil oder zu lang bergauf geht. Im Gegensatz zum klassischen E-Bike wird der Motor meist also nur eingesetzt, wenn es nötig wird. Gerade für Bikepacking-Touren mit zusätzlichen Gepäckkilos eine starke Option. Viele Hersteller bieten für längere Touren zusätzlich Battery-Packs für den Flaschenhalter.
Der Einsatzbereich ist, wie die aktuelle Modellbreite, riesig. Pendlerrenner, sportliches Alltagsbike, Langstreckenbolide, Abenteuerreiserad… selbst Race-Graveler für die Rennen, die seit zwei, drei Jahren verstärkt aus dem Schotter schießen, gibt es mittlerweile. Aber der Einstieg ist so easy wie kaum in eine andere Radgattung: einfach losgraveln und bei Bedarf am Stil feilen.
Zum Graveln bin ich übers Pendeln gekommen. Das hat mit dem Rennrad in Sachen Gepäck und schlechten Straßen keinen Spaß gemacht. Ich wollte etwas flexibleres, auch für schlechte Straßen. - Fabian Desalvo (40) war früher reiner Rennradfahrer. Tatsächlich fährt er jetzt 23 Kilometer als Training mit dem Graveler ins Büro.
Der Hauch von Draufgängertum, ohne gleich ein Rowdy mit MTB-dicken Grobian-Pneus sein zu müssen, das ist für Neueinsteiger oft das Entscheidende. Der Traum von der Freiheit, fast überall fahren zu können, vieles zu sehen, was man sonst nicht sieht, und sein Lager dort aufzuschlagen, wo andere gar nicht erst per Velo hinkommen, ist verlockend. Dabei auch noch jede Menge Fahrspaß zu erwarten und die Natur intensiv zu erleben kommt noch hinzu.
Dabei macht es ein klassisches Allrounder-Gravelbike dem Newbie einfach: Es ist weniger quirlig im Handling als ein Rennrad und lässt sich fast so einfach beherrschen wie Omis Tiefeinsteiger. Eine Herausforderung aber bleibt für viele: der Drop Bar, meist einfach Rennlenker genannt. Er verlangt nach einer nach vorn geneigten Sitzposition, auch wenn die Sitzhaltung auf dem Renner davon noch deutlich entfernt sein kann. Diese Sitzhaltung ist für geübte Rennradler nicht nur einfach einzunehmen, sie ist, vor allem in der gemäßigten Form des Gravelers, für sie sehr bequem. Auch viele Newbies finden den Rennlenker toll.
Großes Aber: Wer die Haltung nicht gewohnt ist, muss sich herantasten. Das betrifft ergonomisch das Abstützen des Oberkörpers über die Arme, aber vor allem auch die Überstreckung des Nackens. Das bedeutet: erst mit kurzen Strecke eingewöhnen, bevor man auf richtige Tour gehen kann. Zweiter Punkt: Lenken und Schalten am Drop Bar. Diese Vorgänge sind kaum komplizierter als am Trekkingbike-Lenker, aber die Bewegungsabläufe wollen gelernt werden. Gleichzeitig muss man Vertrauen aufbauen – zur Sitzhaltung auf einer unbekannten Geometrie. Das geht am besten mit Herantasten – auch an die Grenzbereiche in puncto Bremsen und Kurven. Wer gravelbiken will, muss sich die Besonderheiten aneignen. Etwa auf freiem Terrain mit dem Untergrund der Wahl bremsen üben, um anzutesten, wann das Vorder- oder Hinterrad blockiert beziehungsweise das Hinterrad den Bodenkontakt verliert.
Das ist vor allem zur Entspannung total klasse und ein Riesenunterschied zum Rennradfahren. Da ist keine Hektik, man ist geschützter als im Verkehr und trotzdem sportlich unterwegs. - Michael (43) und Claudia (39) finden es klasse, durch die Wälder zu fahren.
Die Fahrtechnik ist weitgehend gleich – erfahrene Mountainbiker sind meist nach einer kleinen Umgewöhnung auch gelassene Graveler. Doch auch dabei gilt: An den Rennlenker und seine Haltung, die veränderte Bedienung für Schaltung und Bremse muss man sich gewöhnen. Gravelbikes sind außerdem oft mit weniger effizienten Bremsanlagen ausgestattet als MTBs – hier kommen meist Vierkolbenbremsen zum Einsatz, am Schotterrad meist Zweikolben mit kleineren Scheiben, die oft nicht dieselbe Effizienz bringen. Und noch eine deutliche Umstellung geht mit dem Terrain einher:
Der klassische Graveler ist ungefedert – der MTBler ist aber zumindest eine Federgabel und oft ein vollgefedertes System gewohnt. Zur grundsätzlich veränderten Terrainwahl kommt also auch noch die andere Fahrroutine: Werden etwa kleine Geländestufen beim MTB mit Vertrauen auf die Federung einfach überfahren, nimmt der Graveler Tempo raus und entlastet Vorderrad und Hinterrad nacheinander. Was ist der Impuls für MTBler, zum Schotterrad zu greifen? Weniger Adrenalin, mehr Wellness dürfte das für viele heißen. Der Flow, das gleichmäßige, flotte Dahinwedeln auf geschwungenen Schotterwegen lockt. Dafür gibt’s weniger Adrenalin, für das beim MTB unter anderem die Sprünge zuständig sind, und jede Menge Naturgenuss.
Hier ist der Wunsch oft einfach: Mehr Möglichkeiten! Nicht umkehren müssen, wenn die Tourenplanung mal wieder ungenau war und die Route an einem groben Feldweg – vermeintlich – endet. Die Tolle Strecke nicht ändern zu müssen, weil zwischendurch kurz der Asphalt zu Schotter und Waldboden wird oder sich ein langer Abschnitt mit grobem Kopfsteinpflaster hineingeschummelt hat, der nicht ohne Stress wieder herauszubekommen ist. Oder – vielleicht die Kür – endlich mal drauflosfahren und sich eine schöne Runde zusammensuchen zu können, die auch durch Wälder und über Felder führt, die man sonst gar nicht erleben hätte können. Mehr Naturerlebnis kommt dazu.
... der erwartet mehr aktives Fahrerlebnis, mehr Speed auf Untergrund, den er vielleicht schon von seinen Touren kennt. Und zwar dann aus der Perspektive Untenlenker, die er oder sie wahrscheinlich weniger kennt, ihn aber neugierig macht. Auch hier gilt, wie für den Newbie: sich eingewöhnen, das Handling und die Reaktion des Rads kennenlernen. Zugleich freut sich der Tourer vielleicht auf die neue Art, mit Gepäck unterwegs zu sein: Bikepacking stellt das Rad in den Vordergrund und passt die Taschen in den Rahmen etc. ein – anders als beim Trekkingrad, wo der Gepäckträger von den mehr oder weniger genormten Taschen definiert wird. Vorteil: Das Handling bleibt weitgehend ausgewogen, da der Schwerpunkt in der Mitte des Rads bleibt.
Vor allem die Reiseplanung ist viel einfacher – man muss sich keine Gedanken über den Zustand der Straßen machen. Und außerdem ist es perfekt, wenn Partner unterschiedlich kräftig sind. - Tobias (45) hat erst 2019 wieder mit dem Radfahren angefangen - zuerst mit dem Trekkingrad, mittlerweile auch mit dem E-Gravelbike. Er ist viel mit seiner Freundin auf Tour, auch im Urlaub.
Warum sich überhaupt die Mühe machen, viele kleine Taschen an Rahmen, Lenker und Gabel zu hängen statt zweier großer am Gepäckträger? Klar: Gravelbikes bieten oft nicht die Möglichkeit, einen Gepäckträger zu montieren. Doch wer schon einmal mit schweren Gepäcktaschen auf einem anspruchsvollen Feldweg unterwegs war, weiß: die Dinger a) belasten Hinterbau und Hinterrad bei unebenem Terrain extrem stark und b) der Schwerpunkt wandert nach hinten; dadurch wird vor allem auf unebenem Terrain das Rad schwerer beherrschbar; auf dem Vorderrad lastet zu wenig Gewicht, was das Rad vor allem im Gelände unsicher macht. Wer Bikepacking-Taschen nutzt, der kann, bei cleverer Zusammenstellung, ähnlich viel transportieren, umgeht aber weitgehend die genannten Probleme.
Richtig, das Packen braucht System und Zeit: zum Beispiel, um zu überlegen, was wohin kommt. Schließlich braucht man dazu auch oft ans Fahrrad angepasste Taschen. Dafür erhält man aber ein Rad, das zwar deutlich schwerer geworden ist, sich aber fast genauso handlich und gelassen fahren lässt wie ohne Gepäck. Denn wer in die Lenkerrolle, vielleicht auch das Gabeltaschenpaar, die Tasche fürs Rahmendreieck und die große Satteltasche sein Gepäck verteilt, kann eine sehr ausgeglichene Gewichtsverteilung herstellen. Angenehmer Nebeneffekt: Anders als manchmal beim Touren mit Gepäcktaschen, die – etwa für längere Urlaubsreisen – ein großzügiges Platzangebot bieten, kann man beim Packen von Bikepacking-Bags Enthaltsamkeit lernen: “Brauche ich die Badeschuhe wirklich? Und das zweite Handtuch?” Manchmal wird erst als Bikepacker klar, wie wenig wir unterwegs wirklich brauchen, um uns wohlzufühlen.