Gravelbikes sind aktuell die absolute Trend-Kategorie im Bikeshop. Der neuste Wurf an vielseitigen, sportlichen Rädern mit Dropbar spricht offenbar ein breites Publikum an. Alteingesessene Rennradfahrer blicken skeptisch auf breite Stollenreifen, Mountainbiker mustern misstrauisch krumme Lenker: Das Gravelbike ist weder Fisch noch Fleisch und gerade deshalb ein geniales Konzept für die Masse. In Deutschland verkaufen sich etwa genauso viele Gravelbikes, wie unmotorisierte Mountainbikes und Rennräder zusammengenommen. Jeder will eines, viele haben eines. Selbstverständlich wird da auch den Bike-Herstellern der Mund wässrig. Das Gravelbike ist die neue Cash-Cow zahlreicher Produktportfolios. Die Entwicklungsabteilungen großer Marken werden immer kreativer und versuchen der Gattung mehr und mehr aufregende Features einzuimpfen. Auch kleinere Labels, die traditionell dem MTB-Bereich zugewandt sind, versuchen sich am Gravelbike. Wir haben uns zehn frappierende Modelle dieser neuen Generation herausgepickt und wollten herausfinden, mit welchem Ansatz Biker am besten fahren.
Bei der Auswahl der Kandidaten für unseren Gravelbike-Test kam ein extrem bunter Fuhrpark zustande. Auf der einen Seite steht der Abenteuer-Spezialist Salsa Cutthroat, der Landrover Defender unter den Gravelbikes: Ein zuverlässiger Begleiter für Expeditionen auf Wegen fern der Zivilisation aber beim Ortsschild-Sprint nicht zu gebrauchen. Auf der anderen Seite findet sich das Radon Tigard mit elegantem Titanrahmen und gesitteten Fahreigenschaften gleich eines Rolls Royce Phantom. Im krassen Gegensatz dazu kommt das wilde Marin Headlands daher, welches mit seinem sympathischen Redneck-Charme nach kompromisslosem Fahrspaß im Stile einer Chevrolet Corvette giert. Dicht auf den Fersen ist ihm der Lotus Elise der Gruppe: Das quirlige Alutech Punk wuselt am liebsten mit offenem Verdeck über enge Passstraßen. Im Pivot Vault steckt ein Hauch vom Mercedes AMG GT: Überzeugend am Steuer aber nicht unbedingt beim Preis-Leistungsverhältnis.
Derweil erscheinen Canyon Grizl, Giant Revolt X, Propain Terrel CF und Santa Cruz Stigmata auf dem Hof der Händler besonders attraktiv. Mit ihren robusten Fahrgestellen und gefederten Fahrwerken versprechen sie gleich eines SUVs Allround-Qualitäten mit Gelände-Eignung zu vereinen, sind für den täglichen Weg zur Arbeit aber nicht die effizienteste Wahl. Und dann wäre da noch das Scott Scale Gravel. „Frech dieser Name! Da ist ja kein einziges Gravel-Teil dran“ echauffiert sich ein Test-Kollege beim Anblick des Starrgabel-Hardtails. Tatsächlich könnte man meinen die Schweizer hätten nur einen cleveren Weg gesucht, um volle Lager von Mountainbike-Altbeständen zu befreien. Oder ist ein Traktor am Ende doch der beste fahrbare Untersatz auf Schotter?
Schnelle Fahrten über abwechslungsreiche Untergründe - das versprechen sich Kaufinteressierte von einem Gravelbike. Viele unterschätzen dabei erstens, wie ausdifferenziert der Markt mittlerweile ist und zweitens, wie bunt es die Hersteller teilweise mit ihren Werbeversprechen treiben. Trotz Federgabel und Dropper Post braucht es eine gewisse Fahrtechnik, um ein Gravelbike im Gelände zu bewegen. - Jan Timmermann, BIKE-Redakteur
In der Theorie rollen breite Traktor-Reifen sogar leichter als schmale Pellen. Bei identischem Luftdruck sind ihre Bodenaufstandsflächen gleich groß aber unterschiedlich geformt. An der länglichen Fläche eines schmalen Reifens muss in Fahrtrichtung mehr Material verformt werden. Der bremsende Hebelarm des breiten Reifens ist dagegen kleiner. Rollwiderstand hängt jedoch nicht nur von Breite und Druck, sondern auch von Aufbau und Untergrund ab. Bei sehr hohen oder sehr niedrigen Geschwindigkeiten wird dessen Stellenwert durch Luftwiderstand beziehungsweise Laufradträgheit gestochen. In Sachen Aerodynamik und Beschleunigung haben Scott und Salsa mit ihren fetten Schlappen klar das Nachsehen.
Ansonsten herrscht Einigkeit unter den Gravelbikes: sieben von zehn Herstellern setzen auf 45 Millimeter Reifenbreite. Einzig das Pivot bricht nach unten aus. Interessant: Während noch vor wenigen Jahren viele Gravelbikes auf Schwalbe rollten, finden sich deren Gummis in unserem Testfeld nur noch bei Canyon. Außerdem auffällig war die schlechte Dauerdichtigkeit fast aller Tubeless-Systeme im Test. Das klappt bei breiten Mountainbike-Reifen definitiv besser.
Viele Gravelbikes versuchen mit ihrer Geometrie und Ausstattung näher ans Mountainbike zu rücken. Lang-flache Rahmen, Federgabel, Dropper-Post und breite Reifen: Für die Fahrsicherheit ist das ein Gewinn. Leichte Bikes sind in dieser Riege jedoch teuer. - Jan Timmermann, BIKE-Redakteur
Mehr Divergenz gibt es in unserer Gravelbike-Testgruppe beim Thema Sitzen. Die Fahrpositionen im Sattel reichen von kurz-tief auf dem Alutech über kurz-hoch bei Radon und Salsa sowie lang-hoch auf dem Propain bis lang-tief beim Marin. Canyon, Salsa und Pivot integrieren spezielle Flex-Funktionen ins System aus Rahmen und Sattelstütze, welche den Komfort in der Praxis jedoch nur teilweise verbessern können. Mit der gefederten Variostütze im Giant kann niemand mithalten. Das geländegängige Sondermodell des taiwanesischen Bike-Giganten ist unser Tipp für Fahrten in ruppiges Terrain. Alutech und Radon ausgenommen setzt das Testfeld auf laufruhige Geometrien mit lang dimensionierten Hauptrahmen und zumeist flachen Lenkwinkeln. Besonders bei Propain, Santa Cruz und Marin ist die Downhill-Prägung nicht zu leugnen. Sie vertragen viel Speed, brauchen jedoch beim Handling über verwinkelte Kurse teils viel Nachdruck.
Geht es um eine Empfehlung für groben Schotter, Schlagloch-Pisten und einfache Trails, haben Gravelbikes mit gefederten Gabeln einen entscheidenden Vorteil. Überall dort wo die glatte Forststraße endet ist eine Federgabel ein wahrer Gamechanger. In der Welt der Mountainbikes sind 40 Millimeter Federweg extrem wenig. Unsere Labor- und Praxistests bestätigen aber: Der Komfortgewinn an der Front ist immens. Weniger Ermüdung und mehr Kontrolle verbessern die Fahreigenschaften in unsanften Streckenabschnitten signifikant. Wie viel Trail-Action mit einem Gravelbike noch Sinn ergibt, ist ein ewiges Streitthema der Szene. Fakt ist jedoch, dass quasi jede Tourenplanungs-Software hier und da eine schlecht gepflegte Schotterabfahrt oder einen kurzen Singletrail in eine Gravel-Runde einbaut.
Mit den zusätzlichen Reserven einer Federgabel und womöglich noch einer vom Lenker aus versenkbaren Dropper-Post fahren Gravelbiker mit mehr Sicherheitsgefühl und müssen in fremder Umgebung seltener schieben. Hier tun sich wiederum das komfortable Giant und das vielseitige Canyon hervor, welches mit einer Eigenentwicklung an der Gabel auffällig sensibel über Unebenheiten läuft. Propain integriert Mountainbike-Technologie nicht nur preiswert, sondern dank funkbasiertem Ecosystem auch ästhetisch ins Gravelbike. Im Vergleich zu einer Carbongabel bringt eine Federgabel nicht nur mehr Komplexität und Wartungsaufwand, sondern auch rund 750 Gramm Mehrgewicht ans Rad. Nur das Santa Cruz bleibt noch knapp unter zehn Kilo.
Keine Federgabel aber einen MTB-Lenker besitzt das Scott Scale Gravel-Hardtail. Durch diesen lässt sich das Bike im Gelände um Welten einfacher kontrollieren als klassische Gravelbikes. Komfort- und Ausstattungsnachteile muss es aber in Kauf nehmen, schließlich kostet es bedeutend weniger als seine Kontrahenten. Mountainbikes mit Starrgabel sind am Markt extrem rar, dürften für so manchen Gravelbiker aber ein spannendes Konzept darstellen. Mit Spannung erwarten wir, dass noch mehr Hersteller auf den Zug aufspringen. Schließlich verschwimmen die Grenzen zwischen Rennradfahrern und Mountainbikern schon jetzt.
Nein, eine einheitliche Definition des Gravelbikes hat sich noch nicht trennscharf manifestiert und ja, der Einfluss des Mountainbikes ist für Markt ein Gewinn. Bikes, wie das Giant Revolt X, verschieben die Limits des Fahrbaren. Für lange, autarke Touren geht kaum ein Weg am Salsa Cutthroat vorbei. Propain und Canyon beweisen, dass MTB-Technik am Gravelbike erstens nicht zwingend teuer sein muss und zweitens noch nicht bis ins letzte Detail ausentwickelt ist. Welche Reifenbreite sich eines Tages etablieren wird und an welcher Art Lenker Gravelbiker in Zukunft greifen werden bleibt spannend, denn der Diskurs hält weiter an.