Georg Bleicher
· 22.06.2024
Wäre da nicht diese Vorbau-Lenker-Einheit, die weder eine Höhenverstellung noch eine Drehung des Lenkers in seiner Aufnahme zulässt, auch der Branchenprofi würde dieses Rad auf den ersten Blick deutlich teurer einsortieren: feiner cremeweißer Mattlack, im Rahmen integrierte Züge und Leitungen, sauber verschweißter Rahmen mit für den Riemeneinbau teilbarer Sitzstrebe, Schweißnähte sauber verschliffen – das sieht alles sehr solide und gediegen aus. Kurz anheben: Das E-Bike wiegt mit etwa 21 Kilogramm viel weniger als die preislich ähnlich positionierte Konkurrenz – und wir sprechen hier von rund 1600 Euro. So weit, so überzeugend. Das Crivit Urban Y.2 ist bei Lidl erhältlich.
Aber zur Kundenpraxis: Das E-Bike wird online bestellt und kommt im Karton beim Käufer an. Auslieferung über den Händler gibt es nicht, derzeit auch keine über den Laden. Wer das Rad aus der stabilen Box gezogen und von den schützenden Folien befreit hat, muss nur den Lenker gerade stellen sowie zwei Schraubbolzen festziehen und dann noch die Pedale montieren.
Im Quick Start Guide ist alles beschrieben, mitgeliefert werden auch die wenigen nötigen Inbusschlüssel. Die Sattelstütze wird per riesigem Schnellspanner-Hebel geklemmt. Praktisch: Auf der ungewöhnlich kräftigen Stütze sind Markierungen, die bei Nutzung mehrerer Personen helfen, schnell die richtige Sattelhöhe zu finden und beim nächsten Mal direkt wieder einzustellen, auch wenn andere das Rad genutzt haben.
Rein technisch ist es kaum machbar, dass ein harmonisch laufendes Rad mit Reifengröße 28 oder 27,5 für alle Menschen zwischen 1,60 und 1,90 Meter Größe passt – trotzdem wird das immer wieder versucht, und so ist es auch beim Crivit angegeben. Wer komfortabel darauf sitzen will, sollte nach unseren Testsitzern zwischen 1,70 und 1,83 Meter messen – die Kleinen müssten sich dann enorm strecken, für größer als 1,83 reicht der Sattelauszug nicht wirklich. Ein ausgleichender verstellbarer Vorbau fehlt ja hier. Die Hersteller sparen enorm, wenn sie statt vier oder fünf Rahmengrößen nur eine anbieten. Auch so, nicht nur über Stückzahlen und günstigen En-gros-Einkauf erklären sich Preise.
Eine anfängliche leichte Kippel-Neigung beim Losfahren weicht einem tadellosen Geradeauslauf, hat man die Schrittgeschwindigkeit erst mal hinter sich gelassen. Dabei ist das Rad wendig genug für die City. Man sitzt etwas langgestreckt am breiten gekröpften Lenker. Komfort gibt’s nur von den breiten Schwalbe-Reifen – je nach Luftdruck. Spaß macht das Bike trotzdem auch in der City – dem Motor und seiner Leistung sei Dank. Aktive Sicherheit bringen neben dem guten Handling die knackigen, hydraulischen Shimano-Scheibenbremsen und der Frontstrahler mit 80 Lux. Hinten gibt’s ein schön im Schutzblech integriertes Rücklicht mit Bremslicht, beides erwartet man nicht beim Discounter.
Und noch etwas gibt’s obendrauf: Wartungsarmut. Hier gibt’s keine Schaltung, keine Kette, keine Ritzel. Das Lidl-E-Bike ist ein Singlespeed-Rad mit Gates-Riemenantrieb. Das und die hydraulischen Discs sowie die Starrgabel machen es äußerst pflegeleicht. Dass Fahrräder mehrere Gänge haben, ist aber durchaus sinnvoll. Denn auch wenn ein kräftiger Motor unterstützt, bleiben das Stop-and-go in der City und langsame Geschwindigkeiten, die hier zu geringer Trittfrequenz führen, unkomfortabel. Das heißt nicht, dass ein Singlespeed mit Motor in der – eher flachen – City nicht funktioniert. Man muss es aber mögen und sollte keine Knie- oder Fußgelenkprobleme kennen.
Die armdicke Sattelstütze und das Kabel, das sich vom Sattelrohr zur -stütze kringelt, ist schnell erklärt: Hier sitzt der Akku mit 360 Wattstunden Kapazität. Das ist schwerpunktmäßig nicht der beste Ort, was für ein Citybike aber eher unwesentlich ist. Zum Herausnehmen des Akkus wird der Stecker abgezogen und die Stütze, sprich: der Akku, per Schlüssel entsperrt. So muss nicht unbedingt im Lidl-E-Bike geladen werden.
Wo ein Akku ist, ist auch ein Motor – allerdings ein nahezu unsichtbarer: Der Mivice-Nabenmotor M080 ist nicht nur kleiner als manche Schaltnabe, er ist auch ein echter Kracher: 40 Newtonmeter Drehmoment direkt am Hinterrad sind eine Ansage. Das ist das Überzeugendste. Egal bei welcher Trittfrequenz und ob in der Ebene oder am Berg – davon könnte sich auch mancher Mittelmotor in Sachen hybride Harmonie und natürlichem Pedalieren eine Scheibe abschneiden.
Respekt für die Sensor-Entwickler! Sie haben es geschafft, das System so abzustimmen, dass man sich fragt: “Hab ich so viel Kraft, oder schiebt da ein starker Motor so an, dass ich ihn als Teil von mir empfinde?” Der Antrieb ist dabei nur am Berg zu hören. Fünf Unterstützungsstufen (Aus, Eco, Tour, Race und Boost) werden per farbigen Kreissegmenten rund um den Einschaltknopf am Oberrohr angezeigt. Für den Modi-Wechsel reicht ein intuitiver Daumentipp auf den versteckten “+-”, oder “--”-Button unter dem Lenkergriff; sehr ergonomisch gelöst! Flott ist man bei 25 Stundenkilometern, etwas darüber wird langsam abgeriegelt – und auch das auf die sanfte Tour.
Radhändler vor Ort weigern sich manchmal, Räder vom Discounter zu reparieren. Was dann bei einem Defekt? Ein Lidl-Partner soll per Pickup-Service das Rad abholen und repariert zurückbringen. Wie gut und schnell das geht, konnten wir nicht testen.
Im Plus - die Vorteile: Viele ordentliche Komponenten, vom Rahmen über Reifen und Riemen bis zu Motor und Beleuchtung. Richtig schlicht oder billig fanden wir nur die wenig robusten und zu eng gezogenen Schutzbleche sowie das alte Vierkanttretlager.
Auf der Minus-Seite - die Nachteile: Nur für bestimmte Größen eingeschränkt, keine Einstellbarkeit, geringer Komfort (keine Schaltung!) und keine offiziellen Vertragswerkstätten.
Das Crivit Urban Y.2 ist die Ehrenrettung der Discounter-Bikes, auch wenn es sicher kein Vielfahrerrad ist: toller Antrieb, taugliche Ausstattung und günstig – immer vorausgesetzt, man passt gut darauf auf und mag mit nur einem Gang zurechtkommen. Dann gilt in diesem Fall wohl: Lidl lohnt sich. - Georg Bleicher, Testredakteur