Greenford im Westen Londons ist nicht die feinste Gegend der Stadt. Schon seit mehreren Stationen des Vorortzuges dorthin setzen beim Blick aus dem Fenster vor allem Container und Graffiti die Farbkleckse. Und was in dieser großen, grauen Werkshalle neben der Bahntrasse passiert, ließe sich in ein düsteres Hiphop- oder Metal-Video schneiden. Vorschlag für den Bandnamen: „The Brompton Welders“. Kräftige Typen in langen, schweren Mänteln und schwarzen Kapuzenpullis. Feuerfeste Stulpenhandschuhe, Tücher vorm Gesicht, undurchschaubare Brillen. Weißlich grüne Stichflammen knallen und fauchen.
Doch was diese Männer tun, folgt einer präzisen Choreografie: Mit perfekt kontrollierter Geschwindigkeit rotieren sie die schweren stählernen Vorrichtungen vor sich in drei Achsen. Fast brusthoch sind diese Halter, eine Art frei drehbare Schraubstöcke auf Säulen. Und immer wieder streicht die Azethylenflamme über die dort eingespannten Rahmenrohre, lässt sie aufglühen, verbindet sie mit gleichmäßigen Nähten. Die Arbeit der Rahmenlöter, die wir hier beobachten, bildet einen wesentlichen Teil des Erfolgsgeheimnisses von Brompton, dem größten verbliebenen Radhersteller Englands. Denn während die einst größere Konkurrenz auf den Massenmarkt schaute, austauschbare Produkte entwickelte und im weltweiten Preiskampf mehr oder weniger unterging, sicherte sich die einstige Tüftlerbude mit fast skurril anmutenden Rädern ihren Platz in einer Marktnische.
Bei Brompton bauen sie Fahrräder, die Tausende Euro kosten, auf winzigen 16-Zoll-Rädern rollen und in der höchsten Ausbaustufe gerade mal über eine Viergang-Kettenschaltung verfügen, während im Rest der Radwelt schon der Übergang vom Zwölffach-Ritzel auf 13 Zahnräder erörtert wird. Auch fast alles andere an einem Brompton, von der Felge über die Bremse und die Pedale bis zum Sattel, wirkt einigermaßen zeitlos und ist nur mit diesem Edel-Klapprad kompatibel. Zu sagen, dass das eigenwillige Konzept des Londoner Unternehmens aufgeht, wäre untertrieben. Brompton boomt. Die Zahlen beweisen es. Ende 2022 hat die Marke nach eigenen Angaben die Million erreicht: Eine Million Brompton-Fahrräder entstanden in etwa 45 Jahren, die Hälfte davon in den vergangenen fünf Jahren.
Im Jahr 2002 bauten ein paar Dutzend Angestellte 6000 Räder, 2019 waren es bereits 50.000 Stück. Doch im vergangenen Jahr entstanden 100.000 Bromptons, gefertigt von über 800 Angestellten – eine Wachstumskurve, steil wie eine von unten befahrene Skiflugschanze. Den Grundstein dafür legte Andrew Ritchie. Man muss ihn sich als einen geradezu dickköpfigen Tüftler vorstellen. Mitte der 1970er Jahre beschäftigte sich der studierte Ingenieur und Informatiker mit den Klapprädern des britischen Herstellers Bickerton und war sich sicher: Das geht besser. Ritchie, der zu dieser Zeit nicht im Fahrradbusiness arbeitete, lieh sich von Bekannten Geld zusammen und baute nach und nach eine ganze Reihe von Prototypen. Angeblich werkelte er im eigenen Schlafzimmer. Von dort aus blickte er auf eine Kirche namens „Brompton Oratory“ – die Wurzel des Markennamens.
Ritchies Ideen waren offenbar ziemlich innovativ, denn er erhielt mehrere Patente auf sein Klappraddesign. Und sie waren nach fünf Jahren Tüftelei sehr, sehr ausgereift: Für Laien sieht ein aktuelles Brompton den ersten Serienrädern aus den frühen 1980er Jahren verblüffend ähnlich. Auch wenn sich der Rahmen seitdem in 50 bis 60 Details verändert hat, sind der Look mit dem gebogenen Zentralrohr und das Faltprinzip unverändert geblieben. Ritchies Rahmendesign bildet noch heute das Fundament der gesamten Brompton-Modellpalette.
Ob es Andrew Ritchie beleidigen würde, als Nerd bezeichnet zu werden? Dass sein Rad das Werk eines perfektionistischen Technikers und nicht das einer konventionellen Radmarke ist, liegt auf der Hand. Praktisch jedes verbaute Teil ist markenspezifisch. Während die ersten Räder noch aus konventionellem Material improvisiert waren, ordnete Ritchie seiner Idee sukzessive alle Antriebsteile unter. Auch wenn die wenigsten Komponenten von Brompton selbst gefertigt werden, tragen sie doch das Logo, oder sie passen ohnehin an kein anderes Serienrad. Der Grund dafür ist die Denkrichtung des Erfinders: Sein Entwurf sollte den bestmöglichen Kompromiss aus Gewicht, Größe und Falteigenschaften darstellen – und nicht das bestmögliche Klapprad aus marktüblichen Zutaten.
Laufräder mit 16 statt 20 Zoll oder archaisch wirkende Schaltkomponenten sind die augenfälligste Konsequenz des Ansatzes. „Immer wenn genug Geld da war, haben wir neue Teile nach unseren exakten Vorstellungen beauftragt“, sagt Will Butler-Adams, der 2008 die Geschäftsführerrolle vom Gründer übernommen hat. „Wir haben also langfristige Beziehungen zu unseren Lieferanten. Auch deshalb haben uns die Lieferprobleme durch die Pandemie weniger getroffen als andere.“
Außerdem hatte Brompton Lagerhallen in der Umgebung angemietet und schon aus Brexit-Vorsicht auf Vorrat mit Material gefüllt. Daraus wird in jeder der vier Montagestraßen so schnell wie möglich ein Rad: Die 50 Meter weiter vorne in der Halle gelöteten und auf der anderen Gangseite pulverbeschichteten Rahmen klemmen in Montageständern auf Rollen. 20 Sekunden dauert jeder Montageschritt, sei es ein Lenker oder ein Schaltzug, dann schieben die Monteure und Monteurinnen den eingespannten Rohbau einfach weiter zur Nachbarin rechts. Nach insgesamt 40 Minuten steckt dann ein neues Brompton in einem erstaunlich kleinen Versandkarton mit einem „Made in London“-Aufdruck.
Für Butler-Adams, der vor 20 Jahren als Techniker zu Brompton kam, ist so ein Rad nicht bloß irgendein Produkt. Er stellt es gern in einen größeren Zusammenhang. „Wir bewegen uns auf einen Klimanotfall zu, und Leute überlegen, ob sie für die verstopften Städte fliegende Autos entwickeln sollten? Was für ein Blödsinn!“, schimpft er. „Autos sind technisch brillante Produkte, aber unser Fahrrad ist das richtige Werkzeug für die Städte.“ Die augenscheinliche Brompton-Dichte in der Londoner City und ihren U-Bahnen spricht für seine These – ein Phänomen, für das er eigene Zählungen anführt: „Damit ein Rad wie unseres in einer Region Erfolg hat, braucht es eine gewisse Präsenz. Es gibt eine Art Schwellenwert, ab dem es fast von selbst läuft. In London hatten wir bei Zählungen schon 20 bis 25 Prozent Bromptons auf der Straße!“
Brompton stellt vier Faltrad-Modellreihen und zwei Pedelec-Modelle her. Die einfachste Ausführung kostet 1100 Euro, das motorlose, sieben Kilo leichte Titanmodell 5000 Euro. Alle Modelle beruhen auf der grundlegend gleichen Rahmenkonstruktion mit drei Scharnieren: Der Hauptrahmen wird kurz hinter dem Steuerrohr gefaltet, die Lenksäule lässt sich zur Seite klappen, und der mit einem Gummipuffer gefederte Hinterbau rotiert um den Schwingendrehpunkt nach vorne. Die eingeschobene Sattelstütze verriegelt sozusagen das entstehende Paket, das am Sattel getragen oder auf kleinen Rollen geschoben wird. Die Modellreihen unterscheiden sich im Wesentlichen durch die Schaltung, die Möglichkeit zur individuellen Konfiguration und das Material (der Preis erhöht sich mit dem Titan-Anteil). In allen bisherigen MYBIKE-Tests setzten die Faltmechanik und vor allem das Packmaß die Bestmarke.
Das Produkt als Projekt, das Klapprad als Medizin für globale Probleme – Will Butler-Adams ist ein gedankenreicher und unterhaltsamer Botschafter seiner Marke. Das Thema „Nachhaltigkeit“, das alle im Munde führen, aber nur wenige wirklich beherzigen, besetzt Brompton glaubhaft durch haltbare, langjährig reparierbare Räder ohne ständigen Modellwechsel. Nur Insider können ein fünf oder zehn Jahre altes Modell von aktuellen Modellen unterscheiden. Wenn, dann baut Brompton die Linie aus. Mit einem Pedelec oder, wie zuletzt, einer 5000 Euro teuren Titanvariante. Das Prinzip bleibt immer gleich: 16 Zoll-Räder und ein nach oben gekrümmtes Zentralrohr. Ein nach vorne schwingender Hinterbau, ein Scharnier im Zentralrohr, die eingefahrene Sattelstütze und ein abklappender Lenkermast verkleinern das Rad zum Paket.
Weltläufige Skeptiker könnten nun anmerken, die Firma sei ein „one trick pony“, das sich auf ein einziges, zentrales Produktdesign beschränkt. Butler-Adams lächelt einmal mehr etwas spitzbübisch: „Wieso ein neues Rad? Erst wenn wir das Gefühl haben, dieses Rad nicht mehr verbessern zu können, fangen wir etwas Neues an.“ Wie sicher er seiner Sache ist, zeigen Bromptons Umzugspläne: Eine neue Fabrik ist geplant. Außerhalb Londons, mit guter Bahnverbindung und über 100 Millionen Euro teuer. Ihre Produktionskapazität: 200.000 Bromptons pro Jahr – doppelt so viele wie derzeit.
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