Das ist kein Oma-Rad! Ja, das neue Giant Anytour hat, wie ein Teil seiner gleichnamigen Vorgänger für die Straße, einen Tiefeinsteiger-Rahmen. Aber es hat auch eine durchaus sportliche Federgabel und mit 57 Millimetern Breite ultradicke Reifen. Nicht zu vergessen einen Motor, der es mit 75 oder 85 Newtonmeter Drehmoment in sich hat. Also? Die Entwickler des größten Fahrradherstellers der Welt hatten einen Gedanken im Fokus: ein E-Bike zu schaffen, das nahezu alles und überall kann, das für viele aber auch wegen seines Komforts attraktiv ist. Und Komfort schließt nun mal unkompliziertes Auf- und Absteigen, wenn möglich sogar mit Gepäck, mit ein.
Tiefeinsteiger sind bauartbedingt nicht so seitensteif wie Diamant-Rahmen, also solche mit Oberrohr. Deshalb entwickelte man bei Giant den “Schwanenhals” völlig neu. Auch wenn der Rahmen seinem Vorgänger nicht unähnlich sieht: Sowohl die Geometrie als auch Fertigungsverfahren einzelner Bestandteile sind neu. So setzt man zum Beispiel beim Sattelrohr auf das Hydroforming-Verfahren.
Das Unterrohr ist mit einem Kammersystem ausgestattet, das nicht nur saubere Kanäle für die integrierten Kabel und Züge bietet, sondern das Hauptrohr auch seitensteifer macht: 15 Prozent mehr als beim Vorgänger, und das bei einem halben Kilo weniger Rahmengewicht. Apropos Züge: Gleich direkt unter dem Vorbau-Arm wird die gesamte Kabelei in den Steuerkopf geführt und erst dort wieder herausgelassen, wo das Kabel gebraucht wird. Auch das macht die Optik des Bikes sehr aufgeräumt und clean. Wie sinnvoll es für Wartungsarbeiten ist, muss sich noch zeigen. Auch das kleine Farb-Display wirkt wie ein Teil des Vorbaus, so glattflächig ist es integriert. Überhaupt kann sich das Design sehen lassen: Es herrscht eher Minimalismus, klare Linien und Kanten sorgen für keinen aufregenden, aber gelungenen Auftritt.
Bei der ausgedehnten Testfahrt am Rand des Bergischen Lands – die Deutschland-Zentrale von Giant liegt in Erkrath bei Düsseldorf – konnte das vorgestellte Anytour X E+ zeigen, was es draufhat. Über Asphalt, lose Feldwege, festgefahrene Pfade und Kopfsteinpflaster wurden die neuen Tiefeinsteiger-E-Bikes gejagt. Im Winter hatten sich einige Wege zu langgezogenen Schlammbecken gewandelt – wie geschaffen, um die fast sechs Zentimeter breiten Smart-Sam-Profilreifen zu testen. Und natürlich den neuen SyncDrive-2-Antrieb. Der arbeitet stark und überzeugend dynamisch, sodass der Matsch auch in der Steigung keine Chance hatte, uns aufzuhalten.
Vielleicht fehlt das letzte Quentchen an Feinfühligkeit, wenn man ihn mit der Konkurrenz vergleicht. Doch dafür gibt dir der Motor das Gefühl: Da kommst du überall stressfrei rauf! Die Bedienung mit dem recht großen, aber ergonomisch sinnvollen Panel an der linken Lenkerseite ist intuitiv und simpel. Die Harmonie, mit der SyncDrive 2 und Mensch hier zusammenspielen, ist vor allem mit der stufenfrei schaltenden Enviolo-Nabe beim Spitzenmodell Giant Anytour E+ 0 klasse. Hier stellt man nur die gewünschte Trittfrequenz ein, und die Steuerung hält sie - komme an Steigung oder Gefälle, was da wolle – durch. Das ist wie Wellness.
Die Entwickler bei Giant haben darauf geachtet, dass bei aller Wucht, die das E-Bike optisch und technisch hat, das Ganze nicht zu sportlich wirkt. “Zwischen City-Bike und sportlichem Tourer” könnte man die Sitzhaltung am vielleicht etwas wenig gebogenen, aufgeräumten Lenker einstufen. Auf den Modellen ohne “X” mit Straßenbereifung sitzt man mit stärkerer Lenkerbiegung aufrechter. Das Rad ist gut ausbalanciert, man sitzt und steuert auch in schwierigeren Situationen gelassen. Die breiten Reifen tun das Ihrige dazu, sich in jeder Situation sicher zu fühlen.
Die groß dimensionierten Scheibenbremsen machen ihre Arbeit wie sie sollen, in Anbetracht von Radgewicht und Einsatz hätte man aber auch auf Doppelkolben-Bremsen setzen können. Sie kommen aber mit dem um die 28 Kilo wiegendem Rad – und maximal zusätzlich 27 Kilo auf dem Träger – gut zurecht. So beladen, lässt sich das Giant Anytour X E+ zwar etwas anmerken, dass es rahmentechnisch “nur” ein Tiefeinsteiger ist, das Rad ist dabei aber wesentlich stabiler, als man es von manch anderen Rädern kennt.
Was uns bei einem Großserienhersteller besonders positiv beeindruckt, ist, wenn er Liebe zum Detail zeigt. So hat das Giant Anytour X E+ beispielsweise einen Halogen-Frontstrahler auf Lenkerhöhe, der auch knapp übers Schutzblech versetzt werden kann – falls der Bügel eine Lenkertasche aufnehmen soll. Oder die in den Hinterbau integrierte Anhängerkupplung einiger Modelle. Aber auch die Ladebuchse am Steuerkopf – beim Anschließen des Kabels entfällt das Bücken und Suchen. Außerdem ist der selbstschließende Deckel eine der besten Lösungen für das meist stiefmütterlich behandelte Kleinteil.
Ist also das „X“ im Namen als allgemein anerkanntes Zeichen für Offroad angemessen? Ja, denn dieses Anytour ist zwar kein echtes MTB und gerade als Top-Modell mit Enviolo hecklastig, doch beim Feldweg-Einsatz und sogar auf dem ein oder anderen Trail dürfte eher das Gepäck auf dem Träger als das Fahrwerk das begrenzende Element sein. Alles andere kann es sowieso… Ach ja, und das Auf- und Absteigen auf dem vermeintlichen „Oma-Rad“ ist sehr bequem.