"Normalität als Vision"Umgang mit Querschnittslähmung

Adrian Kaether

 · 18.12.2018

"Normalität als Vision": Umgang mit QuerschnittslähmungFoto: Adrian Kaether
"Normalität als Vision": Umgang mit Querschnittslähmung

Kirsten Bruhn und Benny Rudiger sind beide ehemalige Profisportler, die nun im Rollstuhl sitzen. In einem inspirierenden Co-Vortrag in Kirchzarten sprachen sie über den Umgang mit ihrer Einschränkung.

Plötzlich querschnittsgelähmt. In Kirchzarten im südlichen Schwarzwald sprachen die beiden ehemaligen Profisportler Benjamin Rudiger (Mountainbike) und Kirsten Bruhn (Schwimmen) über ein paar wenige, doch lebensverändernde Sekunden, über das Davor und vor allem über das Danach.

Er ist ein Schwarzwälder wie er im Buche steht, ein selbsternannter "Holzklotz", aber im positiven Sinne: bodenständig, freundlich, meistens gut gelaunt und nur schwer unterzukriegen. Ein fester Händedruck, begleitet von einem breiten Grinsen. "Benny" stellt er sich vor. Schon seit 2015 sitzt Benjamin Rudiger, ehemaliger Cross-Country-Profi, im Rollstuhl. Ein lächerlich kleiner Unfall auf der eigenen Hausrunde an einem 10. Januar, vor nun fast vier Jahren. Und das war nicht mal der erste schwere Schicksalsschlag in Rudigers Leben.

  Auch im Rollstuhl keineswegs ausgebremst: Benny Rudiger ist mittlerweile als Bank-Nachbar für die Sparkasse aktiv und nebenbei an der Organisation des Schwarzwälder "Ultra-Bike Marathons" beteiligt.Foto: Benny Rudiger
Auch im Rollstuhl keineswegs ausgebremst: Benny Rudiger ist mittlerweile als Bank-Nachbar für die Sparkasse aktiv und nebenbei an der Organisation des Schwarzwälder "Ultra-Bike Marathons" beteiligt.

2000 bis 2006: Karriere im Cross Country

Dabei fing alles so gut an: Leichtathletik, Fußball, Alpin-Ski, natürlich auch mal ein bisschen Langlauf – schließlich so etwas wie der Nationalsport der Region um Titisee-Neustadt. Doch nichts davon wollte ihm so richtig liegen. Leichtathletik war zu langweilig. Für den Fußball und für Alpin-Ski fehlte Rudiger "die nötige Feinmotorik", wie er selbst verschmitzt grinsend zugibt. Aber im Mountainbike-Cross-Country, da fing er Feuer. Im Jahr 2000 die erste Rennlizenz, schon ein Jahr später der Landesmeistertitel in Baden-Württemberg bei den Junioren und der Klassensieg im schon damals prestigeträchtigen Ultra-Bike Marathon.

Krebs mit 21 Jahren

Bis in das Jahr 2006 folgte eine steile Karriere, mit mehreren deutschen Meistertiteln in der Cross-Country-Disziplin und 2005 sogar einem siebten Platz bei der damals bereits hart umkämpften U23-WM in Livigno. Doch dann, mit gerade einmal 21 Jahren, eine niederschmetternde Diagnose: Erkrankung an Morbus Hodgkin – Lymphdrüsenkrebs. So etwas verkraftet man nicht so leicht. Erst recht nicht mit Anfang Zwanzig, da ist Rudiger ganz offen. Es war das erste Mal, dass er sein Leben völlig umkrempeln musste, aber es gelang ihm gut.

Und er hatte immerhin ein bisschen Glück im Unglück. Die Chemotherapie schlug gut an, kaum ein Jahr später saß er wieder im Sattel und konnte auch weiter an Bike-Wettbewerben teilnehmen. Jetzt waren es hauptsächlich Langstreckenrennen, in denen sich der Kirchzartener weiter einen Namen machen konnte. Nur kann man davon allein nicht leben, eine Lehre als Bankkaufmann sorgte dann für den Rest seines Auskommens. Bis zu jenem Januartag im Jahr 2015, nachdem der ehemalige Wettkampfsportler plötzlich im Rollstuhl saß. Eher ein Umfaller als ein echter Sturz war die Ursache, nur war er blöd gefallen und ein Wirbel hatte den Nerv abgeklemmt. Verrückt, wie fragil der Körper manchmal doch ist.

Der erste Gedanke war nicht kompliziert: "Sch…!"

Was denkt man in so einem Moment? Wenn einem endgültig klar wird, dass man nicht wieder wird laufen können? Nichts Kompliziertes jedenfalls, da sind sich Benny Rudiger und Kirsten Bruhn, seine Mitreferentin, einig. Eher so: "SCH…!!!" Rückblickend, sagt Rudiger, sind es vor allem die Freunde, die Familie, die Vertrauten, die ihn vor dem Abgleiten in die völlige, aussichtslose Verzweiflung bewahrt haben und ihn immer noch stützen. Sein enges Umfeld und eine Aufgabe. Helfen können, das hat er für sich festgestellt, ist mindestens genauso wichtig, wie geholfen zu bekommen. Für Rudiger ist es der Job bei der Sparkasse, aber noch mehr das Ehrenamt. Es geht darum, Anderen etwas Gutes zu tun, sich für etwas zu engagieren, auch oder gerade weil man sich selbst dann etwas besser, etwas "sinnvoller" fühlt.

  Kirsten Bruhn (rechts neben Benny Rudiger) war Profischwimmerin auf olympischem Niveau, sitzt aber seit einem Motorradunfall 1991 im Rollstuhl. Bei den Paralympics startete sie bis vor wenigen Jahren ein zweites Mal durch und holte mehrere Male olympisches Gold.Foto: Adrian Kaether
Kirsten Bruhn (rechts neben Benny Rudiger) war Profischwimmerin auf olympischem Niveau, sitzt aber seit einem Motorradunfall 1991 im Rollstuhl. Bei den Paralympics startete sie bis vor wenigen Jahren ein zweites Mal durch und holte mehrere Male olympisches Gold.

Perspektivwechsel

Mit dem Unfall ging auch ein großer Perspektivenwechsel einher, für Rudiger und noch mehr für Bruhn, die Schwimmerin. Sie sagt: "Nichts nervt mehr, als wenn man einfach ohne Nachfrage durch die Gegend geschoben wird." Selbst ist die Frau (oder auch der Mann)! Und in puncto Rollstühle, Gehbehinderungen und vor allem den Umgang damit sehen beide noch viel Handlungs- und Aufklärungsbedarf in der Gesellschaft. Barrierefreiheit betrifft ganz basale, alltägliche Dinge, über die man sich als nichtbehinderter Mensch keine Gedanken macht.

Normalität als Vision

"Kann man da, wo man hingeht, allein auf die Toilette?", fragen sich beide jetzt oft, wenn es irgendwo hingehen soll. Klingt lapidar, ist aber für beide – wie im Übrigen natürlich auch für alle andere Menschen im Rollstuhl – alles andere als nebensächlich. Denn das mit der Barrierefreiheit ist doch etwas komplizierter, als man denkt. Und wir wiederholen es gerne noch mal: Schieben und Tragen, ohne zu fragen, ist ein absolutes No-Go! Es geht natürlich einerseits um Praktikabilität, aber eben auch um Würde. Schließlich besucht sogar der sprichwörtliche Kaiser von China das stille Örtchen alleine. Bruhn nickt zustimmend. Beides ist gleichermaßen wichtig, das ist klar. Und wie man sich fühlt, wenn sich die Leute zu einem herunterbeugen, mitleidig schauen und plötzlich ganz laut und deutlich zu sprechen beginnen? Einfach "bescheuert", sagt die Schwimmerin, die bei den Paralympics mehrfach die Goldmedaille gewann. Und: "Ich bin gehbehindert, nicht taub!" Sie denkt das nur, sagt es aber meistens nicht. Nur manchmal, wenn sich die Mitmenschen wirklich zu blöd anstellen.

  Das Handbike (in der Heavy-Duty-Version) ermöglicht Benny wieder ausgedehnte Touren durch den Schwarzwald.Foto: Benny Rudiger
Das Handbike (in der Heavy-Duty-Version) ermöglicht Benny wieder ausgedehnte Touren durch den Schwarzwald.

Es gibt also noch viel zu tun, bis sich Kirstens Wunsch erfüllt, der Wunsch nach einem "ganz normalen" Leben. Der Wunsch danach, dass auch Rollstuhlfahrer wie ganz normale Menschen behandelt werden. Und vielleicht sollten wir, die wir noch auf zwei Beinen laufen, das Motto des Vortragsabends in Kirchzarten ein wenig umdeuten: "Du kannst mehr, als du denkst!", hieß es dort. "Sie/Er kann mehr, als du denkst" ist aber genauso wahr. Oder haben Sie gewusst, dass Kirsten Bruhn nach ihrem Unfall noch einen Weltrekord im Brustschwimmen aufgestellt hat? Oder dass Benny Rudiger mittlerweile wieder auf dem Bike (jetzt mit drei Rädern) durch die Wälder streift und sogar das Langlaufen wieder anfangen konnte?

Neugierig geworden? Mehr Infos gibt's auf der Webseiten von Benny Rudiger und Kirsten Bruhn sowie natürlich auf Twitter, Facebook oder Instagram.