Henri Lesewitz
· 21.03.2022
Der Erzgebirgs Bike Marathon ist Deutschlands ältestes Langstrecken-Rennen. Dieses Jahr Anfang August feiert das Kultrennen 30. Jubiläum. Wermutstropfen: Danach soll sich entscheiden, ob und wie es mit dem EBM weitergeht.
Es gehört zu den großen Rätseln der menschlichen Psyche: Warum bezahlen Menschen Geld, um sich an einem Sonntag bis zum Sabbern und Schielen mit dem Mountainbike zu verausgaben? Die Antwort ist simpel: Weil es großartig ist. Das Kribbeln beim Ausfüllen des Anmeldeformulars. Die Verwandlung des Körpers im Laufe der Trainingskilometer. Das Dahinschmelzen der überflüssigen Kilos. Das Erstarken der Beine.
Dann der große Tag X, an dem sich sämtliche Superemotionen, die ein Mensch empfinden kann, zu einem Konzentrat verdichten. Aufregung. Sturzangst. Zweifel. Entschlossenheit. Und schließlich der Einschuss der Glückshormone beim Überqueren der Ziellinie. Eifer und Sucht. So lässt sich das Gefühl Marathon auf den Punkt bringen. Kein Wunder, dass es Jahr für Jahr Zehntausende packt.
Günter Dietze und Sohn Albrecht hatten sich nicht im Traum vorstellen können, was für einen Boom der von ihnen ins Leben gerufene Erzgebirgs Bike Marathon im kleinen, randsächsischen Örtchen Seiffen auslösen würde. Inspiriert von Ski-Massenveranstaltungen wie dem legendären Wasalauf in Schweden richteten sie Pfingsten 1993 ein MTB-Rennen mit 100 Kilometern Länge aus. Eine für damalige Verhältnisse extreme Distanz. In der Szene gab es zu dem Zeitpunkt nur Downhill- und Cross Country-Rennen. 214 Draufgänger wagten sich auf die 100 Kilometer-Strecke, manche mit Trainingshose.
Der EBM fachte zusammen mit Rennen wie dem Grand Raid Cristalp, Swiss Bike Masters, Kitz Alp Bike oder Dolomiti Superbike ein europaweites Langstrecken-Fieber an. Seiffen wurde zu einer Art Wallfahrtsort der Marathon-Szene, ähnlich wie Wacken für Heavy-Metal-Freunde. Mehr als 1500 Fahrer reisten Jahr für Jahr zum Showdown ins Erzgebirge. Die Zuschauer säumten in Massen die Hotspots wie den Steilstich zur Wettiner Höhe oder den Downhill zum Seiffener Grund. Dann kam Corona.
Nach zwei Jahren Pandemie, in denen der EBM nur im gedrosselten Modus stattfinden konnte, wird dieses Jahr am 6. und 7. August das 30. Jubiläum zelebriert. Die Chancen stehen gut, dass Deutschlands ältester Marathon zum gewohnten Party-Modus zurückfindet. Die Zeit der harten Corona-Einschränkungen scheint überstanden. Und die Dietzes, die noch immer die Organisations-Fäden in den Händen halten, haben sich für das Jubiläum eine Reihe Besonderheiten ausgedacht.
So wird neben den klassischen Strecken (40, 70, 100 Km) die Dreifach-Distanz EBM300 ausgetragen. Die hat 300 Kilometer und fast 9000 Höhenmeter und wird am Vortag des eigentlichen Marathons gestartet. Zudem wird es eine eigene Wertung für Fahrer mit Klassik-MTBs geben. Ein Dinner mit allen Siegern der EBM-Geschichte, zu dem auch alle anderen Teilnehmer eingeladen sind, steht ebenfalls auf dem Programm. Ein weiteres Highlight ist die traditionelle Finisher-Urkunde samt persönlichem Ziel-Foto in Form einer BIKE-Magazin-Titelseite, die zur Feier des Tages im Look von 1993 gestaltet wird. BIKE ist seit Jahren Medienpartner des EBM.
Alles super also? Nicht ganz. Nach zwei Jahren Corona-Krise mit abgesagten, verschobenen oder nur mit Auflagen stattgefundenen Rennen befindet sich nun auch der Marathon-Sport in einer Art Krise. Die Teilnehmerzahlen nahezu aller Veranstaltungen sind massiv nach unten gegangen. Was eine wirtschaftliche Durchführung schwierig macht.
Viele Langstrecken-Enthusiasten, die früher am Jahresanfang die komplette Saison durchgeplant haben, verzichten angesichts der unsicheren Lage auf langfristige Buchungen. Im Zweifel wird dann eben spontan eine Challenge wie der Stoneman Trail angegangen. Einige Marathons stehen deshalb auf der Kippe.
Leider auch der Erzgebirgs Bike Marathon, erfuhren die geschockten Fans unlängst per EBM-Newsletter. Nach dem Jubiläums-Rennen wollen die Dietzes und ihr Orga-Team entscheiden, wie es mit dem Rennen weitergeht. Ob es der letzte EBM war. Oder ob der Marathon mit einem modifizierten Konzept weitergeführt wird.
Es wird also im doppelten Sinne ein geschichtsträchtiges Wochenende werden. Langstrecken-Fans sollten nicht zögern und sich unbedingt einen Startplatz sichern.
"Nicht zögern, anmelden!"
Der Satz im Newsletter, der 30. Erzgebirgs Bike Marathon könnte eventuell der letzte sein, war ein Schock. Marathons wie der EBM sind viel mehr als nur Sportveranstaltungen. Sie sind die DNA eines grandiosen, aufregenden Lebensgefühls. Sie sind Leitplanken, denn der Fokus auf den Tag X lenkt den Blick auf die essenziellen Dinge im Leben: Fitness, Gesundheit, und Spaß an der frischen Luft. Wie Weihnachten, Geburtstag oder Silvester waren Marathons die verlässlichen Highlights jeden Jahres.
Dann rumste Corona wie ein Komet in den Sport. Das jahrzehntelang rotierende Räderwerk aus Anmeldung, Trainingscamp, Vorbereitung und Rennen war von einem Tag auf den anderen durchbrochen. Einen Marathon buchen, der möglicherweise abgesagt, verschoben, oder nur im Kompromiss-Modus durchgeführt wird? Darauf hatte kaum einer Lust. Verständlich.
Nun hängen viele Veranstaltungen am seidenen Faden. Es gibt nur einen Weg, den Sport mit all seinen faszinierenden Facetten aus der Krise zu retten: Wir müssen uns anmelden! Zögert nicht und helft mit, diesen wunderbaren Sport am Leben zu halten. Eine Saison ohne Tag X wäre doch so öde, wie eine Landschaft ohne Berge.
"Wechselbad der Gefühle"
Ein Nebensatz im Newsletter schockte die Fans des Erzgebirgs Bike Marathons: Das diesjährige Jubiläums-Rennen könnte die letzte Austragung der Kult-Veranstaltung sein. EBM-Chef Albrecht Dietze erklärt die Hintergründe.
BIKE: Was reizt Biker an Marathon?
Albrecht Dietze: Es ist nach wie vor das nicht käufliche Glücksgefühl, was man empfindet, wenn man eine selbst auferlegte Challenge bewältigt und dabei vielleicht sogar die eigenen Grenzen ausgelotet hat. Dazu kommen natürlich die Freude an der Natur, an der eigenen Fitness und das immer angenehme Treffen mit Gleichgesinnten. Das "Gesamtpaket Marathon" lässt Dich dem Alltag entfliehen und abschalten. Es ist immer ein kleines Abenteuer. Man weiß nie wirklich, wie es ausgehen wird. Das ist ein Lebensstil und hat nach wie vor Suchtpotenzial.
Wie seid Ihr auf die Idee mit dem EBM gekommen?
Wir waren schon zu DDR-Zeiten in der Skilanglauf-Marathon-Szene unterwegs. Beim Iser-Gebirgslauf in Tschechien – auch der Wasalauf des Ostens genannt – haben wir mit mehreren tausend Teilnehmern prägende Gänsehautmomente erlebt. Als dann die MTBs aufkamen war klar, dass ein MTB-Marathon her muss. Wir waren sofort komplett infiziert und haben uns mit Begeisterung in die Organisation gestürzt. Das sich die Sache so entwickelt war weder geplant noch vorhersehbar.
Wie hat sich Deiner Meinung nach der Sport im Laufe der Jahre verändert?
Was den eigentlichen Sport betrifft, grundsätzlich gar nicht und das ist auch gut so. Es geht in der Spitze immer noch um sportliche Höchstleistungen, im Mittelfeld um das Erreichen persönlicher Ziele und im hinteren Bereich ums Finishen. Natürlich ist alles in allen Bereichen professioneller geworden. Aber das ist aus meiner Sicht zweitrangig. Der Spirit, den man spürt, ist immer noch der gleiche.
Wie ist der aktuelle Stand nach zwei Jahren Pandemie?
Bei uns sehr gut. Wir haben den EBM 2020 als "Individual" durchgezogen und hatten über die drei Monate hinweg über 1000 Teilnehmer. Dafür waren wir extrem dankbar. Im letzten Jahr hatten wir wieder ein richtiges Rennen mit nur sehr geringen Abstrichen. Alle Edelhelfer halten uns die Stange und 99 Prozent der Sponsoren sind uns treu geblieben, einige haben ihren Beitrag sogar erhöht. Ein Wermutstropfen ist die Tatsache, dass – wie fast überall – ein scheinbar Corona-bedingter Teilnehmerrückgang eingesetzt hat.
In Eurem Newsletter habt Ihr angedeutet, dass es wegen des Teilnehmerrückgangs eventuell der letzte EBM sein könnte. Was hat es damit auf sich? Und welche Gefühle begleiten Dich bei dem Gedanken an eine eventuell finale Austragung?
Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen, aber ja, der 30. EBM könnte der letzte sein. Ich bin da selbst in einem Wechselbad der Gefühle. Auf der einen Seite ist das unser Ding, wir haben große Momente und Emotionen erlebt, Freundschaften sind entstanden und wir haben auch viel zurückbekommen. Auf der anderen Seite sind wir 30 Jahre älter geworden, mein Vater ist 84, immer noch voll am Start und ist für die Organisation unverzichtbar. Die Organisation, wenn man wirklich sein Herzblut investiert, ist eine Ganzjahresaufgabe, die die Familie und ich seit 30 Jahren auch mit einer Einbuße an persönlicher Freizeit bezahlen.
Wann und nach welchen Parametern entscheidet Ihr, ob und wie Ihr weiter macht?
Das wissen wir noch nicht. Im Frühjahr werden wir uns mit dem harten Kern zusammensetzen und beraten. Ich denke, wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass sich die Gesellschaft verändert hat, hin zu mehr Spontanität und Individualität. Das heißt, auch wir müssen uns verändern, der Aufwand muss reduziert werden, Nachhaltigkeit spielt eine Rolle und es muss auf eine Verbesserung hinauslaufen. Die entscheidende Frage ist: Was braucht ein moderner MTB-Marathon heute wirklich? Ideen habe ich in der Schublade. Jetzt müssen wir abklären, ob das so umsetzbar ist. Da stehen Gespräche mit der Politik und mit Behörden an, dann sehen wir weiter. Und ganz sicher spielt auch die Entwicklung der Teilnehmerzahl eine entscheidende Rolle. Es geht insoweit weniger um wirtschaftliche Fragen, als vielmehr um die Investition an Freizeit im Hinblick auf das Gesamtergebnis.
Wie wird das Jubiläum zelebriert?
Das Jubiläum wird man nur an kleinen aber feinen Details erkennen. Die Startnummern werden ein ähnliches Design wie 1993 haben, einschließlich der Sponsorenlogos. Das T-Shirt wird im Retro-Style gestaltet und auch die traditionelle Urkunde wird als Titelblatt des BIKE Magazins von 1993 kommen. Daneben planen wir ein Champions Dinner, zu dem wir die Siegerinnen und Sieger der Vergangenheit einladen. Hier ist übrigens jeder herzlich willkommen. Dann gibt es einen Classic Ride. Wer mit einem Bike der 90er-Jahre einschließlich Trikot startet, zahlt kein Startgeld. Für die Plätze 1 bis 8 der Gesamtwertung lassen wir spezielle Nussknacker-Pokale fertigen, die es nur einmalig geben wird. Und der EBM300 findet wieder statt, wie in den Anfangsjahren über 10 Runden, nur das die Runden jetzt nicht mehr 10, sondern 30 km lang sind.