Andreas Kublik
· 16.07.2025
Die Stunde der Wahrheit schlägt unerwartet früh. Der Kellner in der Pizzeria Mexico City in Niederdorf im Südtiroler Pustertal fragt: „Mittel oder lang?“ Der Gast wollte sich eigentlich noch eine Nacht Bedenkzeit nehmen, um sich vor allem selbst diese weitreichende Frage zu beantworten. Aber der Plastiksack mit den Startunterlagen verrät, warum er hier ist und besonders viel isst. Es ist die Frage, die seit 30 Jahren rund um Niederdorf die meistgestellte an alle Radsportler ist. Welche Härteprüfung, welche Streckenlänge, gönnt man sich beim Dolomiti Superbike – einem der traditionsreichsten internationalen Bike-Marathons? Am liebsten würde der Gast die Frage vorerst unbeantwortet lassen, sich erst unterwegs entscheiden, wenn die Beine am D-Day Rückmeldung geben, wie sie sich aktuell an den steilen Dolomiten-Rampen anfühlen. Aber weil er sich keine Blöße als Zauderer geben will, antwortet er fix: „Lang!“ Ohne die leiseste Ahnung, was ihn als Dolomiti-Debütanten wirklich am nächsten Tag erwartet: Die nüchternen Fakten: 123 Kilometer, 3.400 Höhenmeter - das weist die Langstrecke laut Veranstalter aus. Die Zahlen jagen einem schon ein Schaudern über den Rücken und lassen einem die Beine beim Gedanken an die bevorstehende Fron schwer werden.
Was Beine macht: Es ist vermutlich die letzte Chance, sich den Ritterschlag als Finisher zu holen und sich damit als Superbiker in der Marathon-Szene zu etablieren. 99,9 Prozent sei die Wahrscheinlichkeit, raunt der Kellner, dass es die letzte Austragung sei. Dann sei Schluss. So erzählen es alle in Niederdorf. Ausgerechnet 30 Jahre nach der ersten Austragung der Veranstaltung. Die Nachricht dringt wie ein Partybreaker auf die Jubiläumsfete im Pustertal. Seit 1995 steht die Veranstaltung im Kalender – hier waren Olympiasiegerinnen und -sieger wie Sabine Spitz, Paola Pezzo und Miguel Martinez am Start, künftige Tour-de-France-Sieger wie Cadel Evans – es wurden WM-Titel vergeben und mit 5.000 Teilnehmern nannten sich die Niederdorfer stolz Veranstalter des teilnehmerstärksten Mountainbike-Marathons. Doch das ist Vergangenheit. Die Zeiten ändern sich – zuletzt sehr schnell. OK-Chef Kurt Ploner bestätigt auf Nachfrage von BIKE kurz nach dem Zieleinlauf, dass er gerade die letzte Veranstaltung unter seiner Führung über die Bühne gebracht hat. Der 63-Jährige sieht keine Zukunft für die Veranstaltung im Jahr 2026 und darüber hinaus. Ende Geländesport in Niederdorf?
Es gibt viele Gründe dafür – aber dazu später. Einen Teller Spaghetti Bolognese und ein Rindsgulasch mit Knödel ordert der Gast mit Blick auf seine folgenreiche Antwort, reichlich Kohlenhydrate und Proteine – die Langstrecke des Dolomiti Superbike müssen die Teilnehmer unterwegs mittels Energieriegeln, Gels, Bananenschnitten und Semmeln mit kaltem Braten durchstehen. Sofern man Luft hat, um bei den kurzen Stopps mitunter Schwerverdauliches zu schlucken. Die gute Nachricht vor dem Start in die letzte Dolomiten-Runde: Die Hitzewelle ist weg – frühmorgens warten vergleichsverweise frostige Temperaturen um zehn Grad auf die Teilnehmer, der bedeckte Himmel verspricht auch tagsüber milde Temperaturen. Schon nach zwei Kilometern wird die Raserei aus den vier Startblöcken (die mit jeweils zehn Minuten Abstand losrollen) unsanft vom ersten langen Anstieg gebremst – weitgehend auf Asphalt geht es gute 500 Höhenmeter bergan auf den Bergrücken, der Pustertal und Gsieser Tal trennt. Schnell wird den Teilnehmern warm, auch weil rasende E-Biker aus dem letzten Block die verschreckten Muskelarbeiter zum Platz machen aufrufen.
Freie Fahrt für Motorsportler – Ploner ist nicht wirklich glücklich dabei, dass ihn die Realität gezwungen hat, den E-Bikern eine Startmöglichkeit zu schaffen. Aber auch das war Teil der Anpassung, der er sich stellen musste. Immerhin: Bald dünnen die Grüppchen am Berg aus, das Gedränge ist vorbei – zweimal lockt am Streckenrand die Aussicht auf Abkürzung, erst auf die 60 Kilometer messende Kurzstrecke, später auf die 85 Kilometer Mitteldistanz. Als die Teilnehmer das zweite Mal die Abzweigung auf die Mittelstrecke passieren, mit rund 40 Kilometer Mehrarbeit in den Beinen, ist es für manchen zu spät, der schwer über der Federgabel hängt und vermutlich bereut, dass er sich nicht frühzeitig für eine kürzere Distanz entschieden hat.
Nach insgesamt vier längeren, knackigen und teilweise auf losem Schotter kraftraubend zu kletternden Anstiegen wartet noch der lange, fast flache Anlauf auf der alten, aufgelassenen Bahnstrecke am Dürrensee vorbei zur letzten Bergwertung und dem optischen und topografischen Höhepunkt der Runde: Es beginnt die serpentinenreiche Auffahrt auf die mehr als 2.000 Meter hoch gelegene Plätzwiese – wo sich die Chance auf grandiose Ausblicke bietet: zum Beispiel auf die Felszacken des bis zu 3.221 Meter hohen Massivs des Monte Cristallo. Für die, die sich Zeit für das Panorama nehmen, und sich nicht allein auf Fahrlinie oder Hinterrad des nächsten Konkurrenten konzentrieren. Danach folgt der Downhill Richtung Ziel, der noch ein paar fahrtechnische Tücken bereit hält, für schmerzende Handgelenke und Schultern – und bis zum Schluss gibt es auch im Mittelfeld den Kampf um eigentlich unbedeutende Positionen. Immerhin: Das Ergebnis könnte für die Ewigkeit in der letzten Ergebnisliste des Bike-Marathons stehen.
Ein Wermutstropfen: Die Weltklasse machte bei der letzten Austragung nicht ihre Aufwartung. Auch das schmerzt Kurt Ploner und sein Team. Die UCI Hero-Serie hat den Pustertalern den Rang abgelaufen. Salzkammergut-Trophy, Black Forest Bike Marathon, eine Veranstaltung auf der Schwäbischen Alb – der Marathon-Kalender im deutschen Sprachraum ist gut gefüllt am zweiten Juli-Wochenende. Vorbei die Zeiten, da Niederdorf selbst zweimal Weltcup-Station war. Es bleiben Erinnerungen an die Marathon-WM 2008: Im Zielsprint um den Weltmeister-Titel stürzten der Schweizer Christopher Sauser und der Belgier Roel Paulissen – letzterer war schneller wieder auf den Beinen und brachte sein Bike als Erster zu Fuß über die Ziellinie. Immerhin: Im Kampf um den Tagessieg auf der Langestrecke gab es zum Abschluss ein Deja-vu 2025. Auf der Dorfstraße in Niederdorf rasten wieder zwei Mann gemeinsam auf den Zielbogen zu – am Ende lag der frischgebackene Italienische Marathon-Meister Andrea Siffredi als Erster über die Ziellinie, nach 123 Kilometer und 3.400 Höhenmetern und 4:43 Stunden mit 0,1 Sekunden Vorsprung. Sturzfrei.
Schöne Erinnerungen, der wohl keine weiteren folgen werden. Kurt Ploner, OK-Chef und ehemaliger Bürgermeister von Niederdorf, will sich nach 30 Jahren zur Ruhe setzen. „Ich finde keinen Nachfolger“, sagt er zu BIKE – einen Jüngeren, der die ganze Arbeit und das finanzielle Risiko tragen will. Vor der Pandemie verzeichnete der Superbike Teilnehmerrekorde mit bis zu 5.000 Startern. Zum Abschluss kamen noch einmal knapp die Hälfte - etwas mehr als zuletzt, weil sich einige Biker zu einem Abschiedsbesuch aufrafften. Aber eine Zahl, die nicht ausreicht, um die Kosten von rund 350.000 Euro pro Austragung zu decken. Schließlich muss der Veranstalter unter anderem einen eigenen Rettungshubschrauber inklusive Besatzung mieten.
Zu wenige Teilnehmer wegen der zahlreichen Konkurrenzveranstaltungen, der Überalterung des Teilnehmerfelds, denn die junge Generation sucht andere Herausforderungen als Ausdauerprüfungen, vermutet Ploner - dazu der Boom der E-Bikes, denen der OK-Chef eigentlich keine Bühne bieten wollte. Kurz: Der Trend läuft gegen das Event. Dazu fühlt sich der langjährige Macher von den Radsportverbänden im Stich gelassen. Die neue Hero-Series hat den Pustertalern die Top-Stars der Marathon-Szene abspenstig gemacht. Aber Ploner wäre kein Marathon-Macher, wenn er nicht wenigstens noch ein bisschen Kampfgeist verspüren würde. Er habe noch Ideen, und falls die Bergbahngesellschaft das Potenzial der Veranstaltung erkenne und als Partner einsteige, sei vielleicht doch nicht für immer und ewig der letzte der Marathon-Tage in Niederdorf gefeiert, sagt Ploner dann noch. Es gibt wohl einen ganz schmalen Hoffnungsschimmer, dass es vielleicht auch in Zukunft eine große Biker-Veranstaltung im Schatten der Drei Zinnen geben könnte. Vielleicht kann der Kellner künftig am zweiten Juli-Wochenende doch nochmals Gäste fragen: Mittel oder lang?