Adrian Kaether
, Emily Ponti
· 17.01.2016
Durch Zufall bot sich der amerikanischen Cyclocrosserin und Mountainbikerin Emily Ponti die Möglichkeit, an einem der härtesten MTB-Rennen der Welt teilzunehmen: der La Ruta in Costa Rica.
Obwohl ich in meinen acht Jahren, die ich jetzt schon Mountainbike-Rennen fahre, mehrere hundert Rennen und einige große Touren hinter mich gebracht habe, ist das La Ruta mein erstes Etappenrennen. Ein glücklicher Zufall und eine lokale MTB-Rennserie – die Ohio Mountainbike Championships – spielten mir die Startnummern in die Hände. Da die ursprüngliche Gewinnerin der Startnummern wegen einer Verletzung ausfiel, blieb mir nur ein Monat Zeit, um mich auf die Herausforderung vorzubereiten. Zum Glück blieb mir daher auch nicht die Zeit, umfangreich zu recherchieren, auf was ich mich einlassen würde. Sicher war das auch besser so!
Am Tag vor dem Rennen erreichte ich, zusammen mit meinem Mann, San Jose, wo wir auch sofort von der Organisation des Rennens aufgesammelt wurden. Vor dem Flughafen fielen uns einige Musiker durch ihre wilde Musik auf – ein Omen im Nachhinein betrachtet. Doch noch ahnte ich nicht, wie sehr mich das La Ruta an meine Grenzen bringen würde. In unserem ersten Nachtquartier lernten wir einige Fahrer kennen, die das Rennen bereits zuvor bestritten hatten. Geschichten über Anacondas, giftige Schlangen und große tödliche Insekten machten mir klar, wie sinnvoll es gewesen war, dass ich mich vorher kaum über das Rennen informiert hatte. Doch jetzt gab es kein Zurück mehr.
Nach einem kurzen Rennmeeting, das uns auf Englisch übersetzt wurde, und einem Abendessen mit weiteren Horrorgeschichten über das Verrückte, das die nächsten Tage um uns herum geschehen würde, stürzten wir uns in den ersten Renntag. Ich stellte mich etwa in die Mitte der Startaufstellung und nach einem kurzen Gespräch mit den umstehenden Startern wurden wir durch das Dröhnen eines Helikopters an die bevorstehende Aufgabe erinnert. Ich gebe zu, dass ich mich ziemlich cool gefühlt habe als der Helikopter für den Rennstart über uns kreiste.
Nach einem relativ kontrollierten Rennstart, bei dem nur einige wenige gleich versuchten, sich unter Einsatz von Ellenbogen eine gute Position zu erkämpfen, wechselte der Untergrund von Asphalt zu einer unbefestigten Straße: die Norm für den Rest des Rennens. Immer weiter stieg die Luftfeuchtigkeit, während wir uns auf der Rennroute vorwärts kämpften. Ich bin zum Glück eine hohe Luftfeuchtigkeit gewöhnt, doch in Costa Rica war die Luft zum Schneiden dick. Doch damit nicht genug. Denn als ich das nächste Mal aufsah, befanden wir uns schon unten an einem mörderischen Anstieg. Kehre um Kehre wand sich der Weg steil den Berg hinauf. Weithin sichtbar, so dass gar nicht erst die Hoffnung aufkam, der Weg würde hinter der nächsten Biegung flacher werden. Lange kämpfte ich mit meinem Ego – ich wollte nicht zu den Ersten gehören, die absteigen müssen – doch der Berg war stärker. Als ich mein Bike mit der Körperspannung eines sprichwörtlichen Schlucks Wasser in der Kurve die Steigung hinaufschob, begann die Realität langsam aber unaufhaltbar in mein Bewusstsein zu dringen. Worauf hatte ich mich hier eingelassen?
Mit hängendem Kopf schob ich mein Bike auf dem Seitenstreifen der Schotterstraße, um die nicht zu behindern, die doch tatsächlich in der Lage waren, selbst hier noch im Sattel zu bleiben. Meine Versuche wieder aufzusteigen waren jedenfalls nicht von Erfolg gekrönt. Der Berg hatte mich durchgekaut und direkt wieder ausgespuckt. In jeder Kehre hoffte ich nun, den Gipfel zu erreichen. Doch wieder und wieder wurde ich enttäuscht. Meine Beine brannten, der Normalzustand für die nächsten Tage begann sich damit endgültig einzustellen. Doch als wir endlich das Ende des Anstiegs erreichten und sich die weite grüne Landschaft Costa Ricas unter mir ausbreitete, war die schier unendliche Tortur beinahe komplett vergessen, so überwältigt war ich.
Mit der Hoffnung, die Abfahrt würde mindestens genau so lang wie der vorangegangene Anstieg sein, stürzte ich mich mit neuem Mut in das Rennen. Doch die Abfahrt ist nie so lang wie der Anstieg und bald gelangten wir auf einen neuen Weg, den ich zunächst für einen Singletrail hielt. Doch weit gefehlt, denn was ich für einen Singletrail hielt, war eigentlich wilder Dschungel. Dicker roter, aufgeweichter Ton zwang mich und viele andere wiederum zum Absteigen. Ich nutzte die Gelegenheit und stieg wieder auf, wann immer es möglich war. So konnte ich einige Fahrer überholen und etwas Zeit gutmachen, die ich im Anstieg verloren hatte. Doch die nächste Hürde wartete bereits auf mich. Ein Fluss! Durch braunes Wasser mussten wir waten. Dass man mir vor dem Start ein Bild vom Vorjahr mit einer Anakonda gezeigt hatte, machte es nicht unbedingt einfacher. Auch hier versuchte ich durch die flacheren Teile noch zu fahren. Es war mir unerklärlich, warum so viele ihre Bikes über ihren Köpfen trugen, war doch der Fluss die ideale Gelegenheit den Schlamm an den Bikes etwas loszuwerden und damit auch alle möglichen Insekten, die sich in ihm fangen und einem die schlimmsten Krankheiten bescheren können.
Bald hatten wir den Fluss wieder verlassen und kletterten nun auf einem Erdrutsch nach oben. Wie Kleber heftete sich der Ton an unsere Schuhe und ich musste achtgeben, dass mir keiner verloren ging. Das wäre sicher das letzte gewesen, dass ich je von ihm gesehen hätte. Als ich einen Fahrer sagen hörte, dass es noch eine ganze Stunde so weitegehen würde, begannen sich Fragen in meinen Kopf zu brennen: Was zum Henker mache ich hier? Wieso mute ich mir das eigentlich zu? Komm ich hier überhaupt aus eigener Kraft wieder raus, oder wird mich bald der Hubschrauber einsammeln? Etwa eine halbe Stunde später war ich endlich wieder frei.
Am oberen Ende des nächsten Anstiegs wartete ein Herr mit einer großen Machete und Stacheldraht, der uns mit strengem Blick taxierte. Zum Glück war ich nicht alleine, sonst hätte er mir sicher einiges an Angst eingeflößt. Doch ich gewöhnte mich an den Anblick, der uns immer wieder auf unserer Reise durch den Dschungel begegnete. Während die Zeit immer weiter fortschritt wurde ich immer langsamer. Schon jetzt war mir klar, dass ich irgendwann an den Punkt kommen würde, an dem sich mein mangelndes Training bemerkbar macht.
Dieser Moment ereilte mich nach Kilometer 56. Als ich die nächste Versorgungstation erreichte, wurde mir mitgeteilt, ich sei die zweitschnellste Frau. Nur um Momente später eine ganze Gruppe von Frauen an mir vorbeiziehen zu sehen. Weitere Anstiege folgten. Meine Augenlieder wurden schwer und wieder stellte ich mir die bekannte Frage: Warum? Doch die Einheimischen, die immer wieder am Wegesrand mit kleinen Versorgungstationen warteten, bauten mich wieder auf. Ein Schwall kaltes Wasser hier, ein Schubser da und überall eine kleine Flasche Wasser, die ich benutzen konnte, um auf dem Weg zur nächsten Station ein Überhitzen zu vermeiden. Nur ihren Wegangaben war nicht zu trauen, da leistete mein Garmin mir bessere Dienste. Auf Abfahrt folgte Anstieg, auf Anstieg folgte Abfahrt. Als wir endlich eine kleine Stadt erreichten und mich ein Guide auf einem Motorrad über ein Feld voller Gras und Scheiße lotste, bereitete ich mich auf das Schlimmste vor. Doch ein paar Minuten später kam der Zielbogen in Sicht. Endlich, nach fast 100 Kilometern und fast 3400 Höhenmetern hatte die Quälerei ein Ende. Direkt etwas zu essen und eine Massage, das war mein erster Gedanke. Ich hätte für beides zusammen meinen rechten Arm gegeben und begann mich zu fragen, wie ich die Kraft aufbringen würde, am nächsten Tag aus dem Bett zu steigen.
Eine neue Strategie musste her! Nachdem ich mich mit anderen Fahrern ausgetauscht hatte, war mir klar, dass ich diesen Tag nicht in einem Stück würde schaffen können. Ich würde mir die Rennetappe in einzelne Abschnitte unterteilen und mich so von Versorgungsstation zu Versorgungsstation hangeln. Jedes neue Erreichen einer Versorgungsstation würde wie ein kleiner Sieg für mich sein. Die Sticker, die die Rennorganisation ausgab halfen am Oberrohr befestigt während der Fahrt Auskunft über das Profil und die Versorgungsstationen zu geben.Ich musste mich mental auf diesen Tag vorbereiten, denn heute würden noch mehr Höhenmeter folgen als gestern, dabei aber auf einer kürzeren Strecke. Zwar war ich am Start so müde, dass ich nicht genug aufpasste und an das Ende des Feldes gedrängt wurde. Doch das spielte nur eine untergeordnete Rolle für mich. Heute ging es nur ums Überleben.
Wieder erfolgte der Start kontrolliert, doch nach nur fünf Kilometern Aufwärmphase folgten bereits die ersten steilen Rampen auf Schotterpisten. Dieses Mal zögerte ich nicht, sprang direkt vom Bike und gab mich meinem Delirium hin. Kopf runter, Arme hoch, schieben, schieben, schieben. Zwar konnte man häufig den Gipfel des nächsten Hügels schon sehen, doch nach ein paar Metern flacher Strecke folgte direkt der nächste Hügel. Ich dachte mir, „wenn ich nur heute den Tag überlebe, dann wird morgen ganz leicht“. Doch die Motivation hielt sich in Grenzen. Da wirkten die kleinen Freudentänze, die ich in jeder der Versorgungsstationen für mich vollführte, schon besser. Mein Plan ging auf, ich konnte mich zumindest von einem Wegpunkt zum nächsten schleppen.
Hoch und runter, runter und wieder hoch: So führten uns die nicht enden wollenden Schotterstraßen durch die Landschaft. Zwar war ab und zu auch ein wenig Singletrail dabei, doch lange nicht genug für meinen Geschmack. Doch es waren die ewigen sich windenden Anstiege, die mich nach und nach zermürbten. Alle zwei Schritte musste ich stehen bleiben, um nach Luft zu schnappen. Während mich mein Gewissen immer weiter vorwärts trieb, hatte ich das Gefühl, als würde meine Seele langsam austrocknen. Das ich mich mit einem 32er-Kettenblatt die Anstiege hinaufkämpfen musste, half auch nicht sonderlich. Wie gerne hätte ich ein 30er-Kettenblatt gehabt, doch der Gedanke an einen Freund, der sich mit einem 34er-Blatt über dieselbe Route kämpfte, brachte mich wieder nach vorne.
Bald begann mein Magen zu rebellieren und ich konnte kaum noch kauen. An jeder Versorgungsstation stürzte ich mich auf die Bananen und hoffte, dass das Gatorade, das ich dazu trank, die Verdauung schon besorgen würde. Doch der letzte Berg belohnte mich mit fünfzehn Kilometern asphaltiertem Downhill zum Ziel. Aber das erreichten wir natürlich nicht ohne vorher noch ein kleines, frisch gedüngtes und dementsprechend riechendes Feld zu überqueren. Denn Tradition muss sein. Einen anderen Downhill an diesem Tag hatte ich sogar so genossen, dass ich viel zu schnell eine Schotterstraße hinunter jagte und dann mangels Grip im Graben landete. Zum Glück in einem ohne Stacheldraht, was eher eine Seltenheit auf beim La Ruta war. Nach 85 Kilometern und 3600 Höhenmetern hatte ich mir meine Massage dann aber auf jeden Fall verdient.
Zum Glück begann das Rennen an diesem Tag erst um halb eins mittags, obwohl die Begeisterung etwas von einer dreistündigen Busfahrt zum Startort getrübt wurde. Um halb sechs Uhr morgens konnten alle, die Lust dazu hatten, noch an einer Rafting-Tour teilnehmen. Dankend lehnte ich ab und dachte mir: „Wer zur Hölle ist eigentlich so verrückt, sich nach den letzten zwei Tagen in aller Herrgottsfrühe einer Rafting-Tour auszuliefern?“ Ich jedenfalls nutzte die Gelegenheit lieber zum Ausschlafen.
Zum Glück starteten wir auf einer von Stacheldraht umzäunten Straße. Da fühlt man sich doch gleich sicherer. Zwar hatte sich mein Magen noch immer nicht ganz erholt, doch ich freute mich auf den Finaltag, der mit nur 56 Kilometern und 400 Höhenmetern ein echtes Schnäppchen werden würde. Nur die Eisenbahnbrücke würde ich noch überleben müssen, dann hätte ich eine gute Chance, das Ziel auch tatsächlich zu erreichen.
Der Start war ein echter Sprint, der einem Tour de France-Start weder von der Gefahr, noch von der Intensität in irgendetwas nachstand. Ich versuchte mit der vorderen Gruppe mitzuhalten, doch vergebens. Meine Beine wollten einfach nicht mehr und ich musste ja noch etwas Energie zurückhalten, um den restlichen Tag über Druck machen zu können. Der Sandsturm um uns und unter uns stach mir in die Augen, bis wir plötzlich auf eine lange Furt stießen, um einen Fluss zu überqueren. Ich dachte damit sei es vorbei? Ich lag wohl falsch. Dann kam die erste Eisenbahnbrücke. Auf den Rat eines anderen Fahrers hin stellte ich mein Bike auf die echten Schienen, schob und hoffte nicht in die Zwischenräume zu treten. Bis wir plötzlich von einer Frau überholt wurden, die ihr Bike von jemandem tragen ließ. Doch damit nicht genug, sie hatte nämlich außerdem so noch die goldene Regel gebrochen: Man darf auf den Eisenbahnbrücken nicht überholen! Sie achtete nicht auf die empörten Schreie der anderen und ging stur weiter an allen vorbei.
Vier Eisenbahnbrücken später hatte ich es überlebt. Wieder hießen uns die gut bekannten Schotterpisten willkommen. Ich hielt nicht an der ersten Versorgungsstation, um etwas Zeit gutzumachen. Doch bald überholten mich alle Fahrer wieder, die ich dort eingesammelt hatte. So viel zum Thema Strategie. Für ein paar Kilometer hielt ich mich an ein Pärchen, die ich schon aus den USA kannte. Doch einen echten Motivationsschub gaben mir die vielen Kinder an der Strecke, die allen Fahrern ein „High-Five“ gaben. Als nächstes folgten Eisenbahnstrecken. Wer je einen Presslufthammer benutzt hat, der weiß, was ich in der folgenden Stunde durchmachte. Als wir den Strand erreichten, da wusste ich, dass das Ziel bereits nah war. Doch wir mussten uns noch einige Kilometer durch den Sand kämpfen. Endlich kamen meine Cyclocross-Fähigkeiten richtig zur Geltung und ich konnte noch einige Teilnehmer überholen, inklusive der Frau, die uns mit unlauteren Methoden auf den Brücken hatte stehen lassen. Meine Genugtuung kann man sich vorstellen. Nach einigen weiteren Kilometern spuckte uns die Route wieder auf einer Schotterstraße aus, der ein kurzes Stück Asphalt und dann wieder der Strand und damit das Ziel folgten. Ich hatte das La Ruta überlebt und war dazu noch Dritte in der Elite-Kategorie zwischen 19 und 29 Jahren geworden! Wegen eines Fehlers in der Berechnung blieb mir der Gang auf das Podium leider verwehrt. Doch wenig später erhielt ich mein UCI Pro Upgrade!
Alles in allem war La Ruta eine wilde, harte aber auch tolle Erfahrung. Die Einheimischen waren fantastisch und nahmen uns mit offenen Armen auf. Die Organisatoren und Freiwilligen gaben alles, um das Wohlergehen jedes Teilnehmers zu sichern. Es war toll, Costa Rica von Nahem und dann auch noch auf dem Bike erleben zu können. Auch wenn die Rennsaison jetzt erst mal vorbei ist, freue ich mich schon auf das nächste Etappenrennen. Aber noch mehr darauf, dass ich jetzt endlich alle Zeit mit meinem zweijährigen Sohn verbringen kann. Und wer weiß, vielleicht sitzen wir bald beide auf dem Bike und er wird diese Events mit mir bestreiten. Schon jetzt jedenfalls wird er immer ganz aufgeregt, wenn ich Fahrradklamotten anziehe und stellt fest „Mami fährt Rennen!“
Pura Vida!
Emily Ponti
Das "La Ruta" ist ein dreitägiges Mountainbike-Etappenrennen durch die atemberaubende Landschaft von Costa Rica und wahrscheinlich eines der härtesten MTB-Rennen der Welt. Zwar stehen insgesamt nur etwas über 7000 Höhenmeter im Streckenplan, doch die müssen beinahe komplett an den ersten beiden Tagen überwunden werden. Dazu sorgen die Bedingungen in Costa Rica dafür, dass sich die 7000 Höhenmeter eher wie 10.000 anfühlen. Dieses Rennen ist also nur etwas für Profis und willensstarke Bike-Abenteurer. Zwar ändert sich die Route jedes Jahr ein wenig, doch dafür, dass jeder Fahrer seine Dosis an Dschungel-Fieber, mörderisch steilen Anstiegen und wenig Vertrauen erweckenden Hängebrücken bekommt, ist immer gesorgt.