Der härteste Marathon der Welt - BIKE war dabei!

Henri Lesewitz

 · 13.04.2017

Der härteste Marathon der Welt - BIKE war dabei!Foto: Peter Neusser
Der härteste Marathon der Welt - BIKE war dabei!

Der Mensch ist nicht dafür gemacht, 211 km und 7119 hm am Tag zu fahren. Bei der Salzkammergut Trophy versuchen es Hunderte. Wenn die Beine schlappmachen, ist Gerhard Gulewicz die letzte Hoffnung.


Die Anstrengung hat die Augenhöhlen in tiefe, dunkle Krater verwandelt. Die Wangenknochen drücken harte Konturen ins Gesicht. an den ausgemergelten Beinen hängt schlaff das Lycra. Der ganze Körper sieht irgendwie entsaftet aus. Dabei hat das Rennen noch nicht mal begonnen.

Es ist 4:40 Uhr morgens. Vorne, bei den Aufblasbögen, dröhnen basslastige Mitklatsch-Kracher. Doch Gerhard Gulewicz (49) hört nur einzelne, diffuse Sound-Fetzen. Der hintere Teil der Startgeraden wird nicht mal vom Flutflicht erfasst. Im Grellweiß der Strahler drängen sich Hunderte. Hinter Gulewicz steht niemand mehr. Und wenn sein Plan aufgeht, dann wird er auch der Letzte sein, der heute Abend das Ziel erreicht. Punkt 21 Uhr, genau rechtzeitig, bevor die Zeitnahme geschlossen wird. Sechzehn Stunden wird er dann im Sattel gesessen haben. Eine nette, kleine Aufwärmübung für einen wie ihn. Normalerweise. "Ich muss das heute mental machen", raunt Gulewicz und versucht, die knallrote Fahne an sein Bike zu tapen, die ihm der Veranstalter eben noch in die Hand gedrückt hat. Ein absurd großes, sperriges Ding. "Pacemaker", steht in weißen Großbuchstaben darauf geschrieben. Keiner soll es übersehen.

Knapp 720 Fahrer werden gleich loshetzen, um sich der wohl heftigsten Ausdauerprüfung der Mountainbike-Szene zu stellen – der Salzkammergut Trophy, oder genauer gesagt: ihrer so sagenumwobenen wie berüchtigten "A-Distanz". Ein Oberschenkelschocker von besonderer Herbe: 211 Kilometer und 7119 Höhenmeter. Doppelt so lang, wie die Extremdistanzen der großen Marathon-Klassiker. Der Sieger wird um die zehn Stunden brauchen. Etwa ein Drittel der Starter wird aufgeben. Entkräftet, zermürbt, blutend, dehydriert, gedemütigt, oder von einer der Karenzzeiten aus dem Rennen gekegelt. "Einmal Hölle und zurück!", so der Werbe-Slogan auf der Veranstaltungs-Homepage.

Scharfrichter: Das berühmt-berüchtigte Serpentinenband hoch zum Salzberg flutet die Beine mit Laktat. Dabei stecken den Fahrern bereits mehr als 150 Kilometer in den Beinen. Viele schieben. 
Foto: Peter Neusser

Niemand kennt die Hölle besser als Gulewicz. Man könnte sogar sagen: Er ist Stammgast dort. Vor ein paar Tagen erst ist er aus Amerika zurückgekommen, wo er mal wieder versucht hat, das Race Across America zu gewinnen. Sieben Tage lang quälte er sich quasi non stop dem Ziel entgegen, um nach 3452 Kilometern demoralisiert das Handtuch zu werfen. Die Strapaze hat den Oberschenkelumfang um acht Zentimeter schrumpfen lassen, Gulewicz bräuchte noch Wochen, um sich zu regenerieren. Wäre er ein Eichhörnchen, würde man ihn in die Auffangstation bringen, um ihn mit der Nuckelflasche aufzupäppeln. Doch Gulewicz weiß, dass er gebraucht wird. Er ist der Engel der Hölle. Seit sechs Jahren eskortiert er Fahrer, die an den Karenzzeiten zu scheitern drohen, ins Ziel.

"Mal sehen, wie viele ich heute ins Ziel bringe", sagt Gulewicz. Der Startschuss hallt matt ins Dunkel der Gasse. Es ist das erste Mal seit dem Race Across America, dass Gulewicz auf dem Bike sitzt. Letzte Woche hatte er probiert, ein paar Kilometer zu rollen. Doch der Schmerz, den die vereiterten Sitzwunden verursachten, war unerträglich.

Die Berge des Salzkammerguts sind von hämatomblauen Wolkengebirgen verhangen. Bis zum Nachmittag soll es regnen, hat der Wetterdienst gemeldet. Das ist schlecht. Schlammiger Untergrund kostet Zeit und Power. Spätestens um 8 Uhr muss der Checkpoint an der Goiserner Brücke passiert sein. Gulewicz plant, auf die Minute genau über den Messteppich zu fahren. Die Kraft, die er in die Kurbel seines Vollcarbon-Hardtails speist, ist nach einer exakten Marschtabelle berechnet. 200 Watt Dauerleistung, also drei Watt je Kilo Körpergewicht. Ein sportliches, aber kein hartes Tempo. Dennoch fallen bereits die ersten Fahrer zurück.

"Komm, bleib dran!", ruft Gulewicz einem schwer atmenden Schweizer zu, während sich die Fahrer vor ihm immer wieder beunruhigt umdrehen, als wäre der Leibhaftige hinter ihnen her.

"Einmal hat einer an der Verpflegung vor lauter Panik alles fallen lassen und ist aufs Bike gesprungen, als er mich gesehen hat", grinst Gulewicz. Jeder hier weiß: Die rote Flagge ist nichts anderes, als eine stille Mahnung an das drohende Scheitern.

Der menschliche Körper ist nicht dafür gemacht, an einem einzigen Tag 211 Kilometer und 7119 Höhenmeter mit dem Mountainbike zu fahren. Die Organe flehen nach Sauerstoff, Kohlenhydrate, Flüssigkeit und Mineralien. Doch, wenn man die Karenzzeiten schaffen will, wird es einem nicht mal halbwegs gelingen, den Bedarf zu stillen. Die Zellen sterben. Woraufhin sich ein ekelhaftes, schmerzvolles Gefühl im Körper ausbreitet, das dem einer Magen-Darm-Infektion gleicht. Beine, Rücken, Schultern, alles tut weh. Die Psyche fängt an, den Körper zu vergewaltigen. Nur, wessen Wille nicht taumelt, hat eine Chance, das Ziel zu erreichen.

  Die Beine sind mausetot, doch der Wille peitscht die Fahrer Meter um Meter weiter.    Foto: Henri Lesewitz
Die Beine sind mausetot, doch der Wille peitscht die Fahrer Meter um Meter weiter.  

Die erste Karenzzeitstelle ist nur noch einen knappen Kilometer entfernt, als Gulewicz einen Flickenden am Streckenrand erspäht. Einsatz für den Pacemaker! Der Hinterreifen radiert über den Asphalt. Kurze Pannenhilfe. Minuten später rast Gule­wicz mit dem Pechvogel im Windschatten über den Messteppich. 8:00 Uhr, fast auf die Sekunde! Ein Grund zur Freude und gleichzeitig einer zur Sorge: Bis zum Ziel sind es noch 175 Kilometer und knapp 6000 Höhenmeter. Wenn sie es rechtzeitig über den nächsten Messteppich schaffen wollen, müssen sie die Ketten maximal straff halten.

Gulewicz weiß, wie bitter sich Scheitern anfühlt, das Thema ist zum Inhalt seines Lebens geworden. Sechsmal musste er beim Race Across America aufgeben. Und auch sein erstes Mountainbike-Rennen endete mit einer Niederlage. Es war nur eine Klitzekleine. Doch sie hat Gulewicz derart gewurmt, dass er 50 Kilo abnahm und im Alter von 40 Jahren vom Hobby-Bodybuilder zum Radprofi wurde. Alles fing mit einer Wette an. Gulewicz, damals ein 109 Kilo schwerer Muskel-Grobi, hatte über den Bike-Spleen seiner Kumpels gespottet und gewettet, dass er die 100-Kilometer-Distanz der Salzkammergut Trophy unter acht Stunden fahren könne – ohne jedes Training. Gulewicz durchlitt den qualvollsten Tag seines Lebens und scheiterte um zwei Minuten. Das Ego lag darnieder, doch der Ehrgeiz war
dermaßen angestachelt, dass er im Jahr darauf die 211 Kilometer lange Extremdistanz fuhr. Seit dem lebt er für den Radsport. Elf Mal startete er beim 4800 Kilometer langen Race Across America. Er wurde zweimal Zweiter und zweimal Dritter. Der Versuch, zu gewinnen, bestimmt seit Jahren sein Leben. Dass er es wieder nicht geschafft hat, drückt schwer auf die Psyche. Ein dunkles, nagendes Gefühl. Er habe Rotz und Wasser geheult, sagt Gulewicz. Dass er bei der Salzkammergut Trophy seit Jahren den Pacemaker gibt, hat auch damit zu tun, dass er anderen dieses Gefühl ersparen will.

"In den ersten Minuten fühlt sich Aufgeben nicht schlecht an. Die Last fällt ab. Doch das große Elend kommt später", weiß Gulewicz, routiniert die unbedingt nötige Wattzahl tretend. Noch kann er nicht ahnen, welches Drama sich bereits anbahnt.

14:45 Uhr, Goiserner Brücke: Nur Sekunden vor Ablauf des dritten Zeit-Limits löst der Transponder von Gulewicz das "Piep" aus. Er hat bis zuletzt gewartet, um beim wichtigen Flachstück rüber nach Hallstatt möglichst viele Fahrer in den Windschatten nehmen zu können. Etwa zwanzig Verzweifelte keuchen hinter ihm her, doch Gulewicz spürt, dass etwas nicht stimmt. Der Veranstalter hatte die Karenzzeiten noch kurzfristig verändert. Bis zum berüchtigten Check-Punkt 4, dem Waldbachstrub bei Hallstatt, sind es noch fast 30 Kilometer, inklusive der grausamen Salzberg-Passage. Spätestens 17:20 Uhr müssen sie dort sein.

"Scheiße …", murmelt Gulewicz: "Das geht sich nie aus." Sekunden später registriert sein Computer eine massive Zunahme des Wattwerts. Einige aus der Gruppe versuchen zu folgen. Keine Chance.

Waldbachstrub bei Hallstatt, 17:19 Uhr: Zeitmesser Günter Ekersdorfer, genannt Gü, wirft einen letzten prüfenden Blick auf seine Armbanduhr. Dann zieht er den Seitenschneider aus der Hosentasche und stellt seinen Klappstuhl in die Mitte des Schotterwegs. Gü weiß, welche Dramen sich gleich abspielen werden und gewährt einer herannahenden Gruppe noch eine Gnadenfrist.

"Okay, das war’s", ruft er schließlich und knipst mit der Rigorosität eines DDR-Grenzschützers jedem die Nummer vom Lenker, der sich noch vor dem Klappstuhl befindet. Ein Österreicher sackt zusammen, wie ausgeschaltet. Ein Tscheche steht schockstarr da. Ein Friedhof der Hoffnung. Zwölf Stunden Qual. Und dann das! Acht Minuten nach Ablauf der Karenzzeit erreicht auch Gulewicz den Klappstuhl. Er sieht schwer mitgenommen aus.

"Welcher Trottel hat die Karenzzeiten verändert?", ruft er Nummernabknipser Gü erzürnt entgegen: "Das Zeitfenster von Bad Goisern bis hier ist niemals zu schaffen! Ich hatte Zwanzig im Schlepptau. Alle weggeplatzt!"

Gulewicz nimmt einen gereizten Schluck aus der Flasche. Dann klickt er wieder ein. Gü lässt ihn gewähren. Als Engel der Hölle hat Gulewicz natürlich Sonderstatus.

  Die Zielgerade ist bereits seit einer halben Stunde geschlossen, da kommt Pacemaker Gulewicz noch mit einer Gruppe Abgesprengter ins Ziel gepest. Der Veranstalter entscheidet, alle Fahrer zu werten – ausnahmsweise. Foto: Peter Neusser
Die Zielgerade ist bereits seit einer halben Stunde geschlossen, da kommt Pacemaker Gulewicz noch mit einer Gruppe Abgesprengter ins Ziel gepest. Der Veranstalter entscheidet, alle Fahrer zu werten – ausnahmsweise. 

Wie stark bin ich? Was hält die Psyche aus? Was kann mein Magen ab? Die A-Distanz zwingt die Fahrer, Fragen wie diese zu beantworten. Gulewicz stellt eine weitere: "Deutsch? English?" Die Niederländerin, die sich mit besorgniserregender Körpersprache den Anstieg zur Roßalm hochschindet, ist zu schwach, um zu antworten.

"Komm, bleib dran! Come! Come!", motiviert Gulewicz. Die Niederländerin nickt erloschen. Gulewicz forciert sanft, ja fast schon zärtlich die Geschwindigkeit. Falls die Beine der Niederländerin tatsächlich was tun, macht es sich leider nicht bemerkbar. Zumindest nicht in Temposteigerung. Gulewicz dreht sich ein letztes Mal um. Es ist, wie jemanden in einem brennenden Haus zurückzulassen. Doch Gulewicz weiß: Er kann nichts tun. Das ist die Hölle, von der im Programmheft die Rede ist.

21:27 Uhr, Stadtzentrum Bad Goisern. Der Tag wird bereits von Dunkelheit verschlungen, da unterbricht der Moderator das tosende Partytreiben. Die Massen starren sensationslüstern zur eigentlich längst geschlossenen Zielgeraden, wo Gulewicz mit einem Grüppchen Aufgesammelter am Hinterrad ins Flutlicht gesprintet kommt. Frenetischer Jubel.

"Wie ich schon in dem Kinofilm über mich gesagt habe: Man fühlt sich die ganze Zeit zwischen Superman und Kleinkind", sagt Gulewicz und reckt seinen Yes-Daumen in Richtung einer Smartphone-Kamera. Das Gesicht ist mit Schlamm verkrustet. Die Augen liegen noch tiefer als schon am Morgen. Was war das jetzt? Scheitern oder Triumph? Gulewicz weiß es gerade nicht genau. Im Moment fühlt es sich ganz gut an. Zeit für ein Feierabendbier.


INFO SALZKAMMERGUT TROPHY


Das Rennen
Sobald der Name Salzkammergut Trophy fällt, zucken Marathon-Fans fasziniert wie erschaudert zusammen. Die Veranstaltung wird vom mythenhaften Ruf der Extrem-Distanz überlagert, dabei ist sie ein Festival für die ganze Familie. Am Rennwochenende verdichtet sich in Bad Goisern/Österreich Marathonsport und Volksfest zu einem wohl einzigartigen Konzentrat. 4731 Fahrer starteten auf acht verschiedenen Distanzen.


Die berüchtigte A-Distanz
In der Ausschreibung wird die längste der acht Distanzen mit "einmal Hölle und zurück" beworben. Sie gilt als größter Kilometerschocker der Marathon-Szene. 719 Biker hielt das nicht davon ab, um 5:30 Uhr auf die 211 Kilometer lange Strecke mit 7119 hm zu gehen. Der Deutsche Andreas Seewald stellte mit 9:48 Minuten eine neue Rekordzeit auf. Die meisten kämpfen eher ums Durchkommen und gegen die Karenzzeiten. Knapp 30 Prozent schaffen es nicht ins Ziel.


Die Strecke
Es ist schwierig, als Starter der A-Distanz einen Rhythmus zu finden. Gleich vom Start weg geht es 800 Meter hoch. Ab da wechseln sich Steigungsprozente, Untergründe und Wegbreiten munter ab. Es ist ein ständiges Auf und Ab. Immer wieder treiben steilwandartige Passagen den Puls nach oben. Man kann die Strecke grob in zwei Abschnitte unterteilen. Den Ersten, der bei Kilometer 130 in einer langen Flachpassage endet. Und den Zweiten, der mit dem berüchtigten Anstieg zum Salzbergwerk beginnt – das 60 Kilometer lange Finale, das über Ankommen oder Aufgeben entscheidet.


Wer kann es schaffen?
Wer sich in einer Bierlaune für die A-Strecke anmeldet, wird mit 100-prozentiger Sicherheit sein Waterloo erleben. Die 211 Kilometer erfordern nicht nur langjährige Marathon-Erfahrung, sondern auch superfitte Beine und eine austrainierte Psyche. Nur, wer mit mentalen Tiefs umzugehen weiß, hat eine Chance. Wer die lange Distanz bei einem namhaften Marathon (Hero, Dolomiti Superbike, Kitz Alp Bike, usw.) fahren kann, ohne an sein Limit zu gehen, kann es wagen.


Die größten Fehler
Wie bei jedem Marathon: Tempo tötet. Immer im "Wohlfühl-Modus" fahren, also nie oberhalb der aeroben Schwelle. Und fleißig essen! Starter der A-Distanz sollten sich in Sachen Kohlenhydratnachschub auskennen. Tipp: An den Verpflegungsstellen nur so lange halten, wie nötig. Das spart auf die Renndauer gerechnet schnell 15 bis 20 Minuten, die man mit Blick auf die Karenzzeiten als Puffer gut gebrauchen kann. Ausreichend Gels oder Riegel mitnehmen. An den Verpflegungsstellen wird zwar reichlich aufgefahren. Allerdings zumeist Obst, Kuchen und Ähnliches.


Pacemaker Gerhard
Aus Faszination darüber, wie hart die hinteren Fahrer kämpfen, geht Gerhard Gulewicz jedes Jahr als "Pacemaker" ins Rennen. Er fährt die Karenzzeiten knapp an und motiviert langsame Fahrer, an seinem Hinterrad zu bleiben. Er ist eine Orientierungshilfe und hat schon viele Verzweifelte ins Ziel gebracht. Doch Achtung: Eine Garantie gibt es nicht! Diesmal verkalkulierte sich Gulewicz selbst, nachdem die Karenzzeiten kurzfristig geändert wurden. www.gulewicz.net

Das Video Reporter Henri Lesewitz hatte sich schon 2012 über die A-Distanz geschunden. Seine Video-Reportage "Langer Samstag" gibt es auf: www.bike-magazin.de / Webcode #13247

  Höhenprofil Salzkammergut Trophy 2017Foto: Peter Neusser
Höhenprofil Salzkammergut Trophy 2017